Weinen, klagen, sorgen, zagen

BWV 012 // zu Jubilate

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Tromba, Oboe, Fagott, Streicher und Basso Continuo

Der Text der Kantate nimmt die Gedanken des Evangeliums zum Sonntag Jubilate, den sog. Abschiedsreden Jesu im 16. Kapitel des Johannesevangeliums auf. Jesus spricht zu den Jüngern: «Ihr seid jetzt traurig, aber ich werde euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen.» Ausgehend vom Vers 20: «Ihr werdet weinen und klagen» spricht der Dichter vom Leiden, das der Christ auf sich zu nehmen hat und das sich am Ende in Freude verwandeln wird. Bach hat seine formal nicht unproblematische Textvorlage – auf einen frei gereimten Da-capo-Eingangschor folgen ein Bibelwort und nochmals drei Arien ohne kontrastierende Rezitative – in abwechslungsreicher und feinsinniger Weise vertont. Der altertümliche fünfstimmige Streichersatz mit zwei Bratschenstimmen wird durch die solistisch eingesetzte Oboe und Trompete modernisiert und bereichert. Eine Leipziger Wiederaufführung 1724 belegt Bachs anhaltende Wertschätzung seiner Weimarer Kantate.

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Werkeinführung
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Chor

Sopran
Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel

Alt/Altus
Antonia Frey, Katharina Jud, Alexandra Rawohl, Damaris Rickhaus, Lea Scherer

Tenor
Clemens Flämig, Nicolas Savoy, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, Manuel Walser, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Dorothee Mühleisen, Christine Baumann, Yuko Ishikawa, Elisabeth Kohler, Ildiko Sajgo

Viola
Martina Bischof, Peter Barczi, Joanna Bilger, Sarah Krone

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Katharina Arfken

Fagott
Susann Landert

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Andrea Koehler

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
19.04.2013

Aufnahmeort
Teufen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Verfasserschaft unsicher.
vermutlich Salomo Franck (1659-1725)

Textdichter Nr. 3
Zitat aus Apostelgeschichte 14, 22

Textdichter Nr. 7
Samuel Rodigast (1649-1708)

Erste Aufführung
Sonntag Jubilate,
22. April 1714

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Sinfonia

1. Sinfonia
Im tieftraurigen f-Moll setzt eine architektonisch fein austarierte Sinfonia den Ton für die gesamte Kantate. Lastende Vierteltöne des Generalbasses mit nachfolgender Pause stützen das Trauerläuten der beiden Violen. Über kreisenden Figuren der Violinen erhebt sich eine weit ausschwingende Oboenmelodie, die mit ihren Verzierungen und schmerzhaften Tongirlanden wie der langsame Satz eines Solokonzertes wirkt.

2. Chor

Weinen, Klagen,
Sorgen, Zagen,
Angst und Not
sind der Christen Tränenbrot,
die das Zeichen Jesu tragen.

2. Chor
Der Weg zur Herrlichkeit führt durch Angst und Not und oft zum «Tränenbrot» (Psalm 80, 6). Die Christen tragen «das Zeichen Jesu», die Bereitschaft zum Dienen und zum Leiden. Bach legt der Darstellung dieses unentrinnbaren Schicksals eine beständig wiederholte Tonfolge zugrunde, die sich durch das chromatisch absteigende Quartintervall als Lamento-Bass zuerkennen gibt. Diese unerbittliche Struktur wird durch seufzerbetonte Vokalstimmen sowie fallende Akkordblöcke im Streichorchester angereichert. Bach hat den A-Teil dieses Chores um 1748/49 zum berühmten «Crucifixus» der Missa in h-Moll umgearbeitet.

3. Rezitativ (Alt)

«Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen.»

3. Rezitativ
Ein Wort des Apostels Paulus, als er die Gemeinde stärkte und zur Treue im Glauben ermutigte, nachdem er auf seiner Missionsreise viele Menschen hatte für Christus gewinnen können, aber auch verfolgt und gesteinigt worden war (Apostelgeschichte 14, 19–22). Die arios gehaltene Altstimme hebt durch Textwiederholungen und verminderte Dreiklangsabstiege das Schlüsselwort «Trübsal» hervor. Die stufenweise nach oben führende Streicherbegleitung öffnet hingegen den Blick für das ersehnte «Reich Gottes».

4. Arie (Alt)

Kreuz und Kronen sind verbunden,
Kampf und Kleinod sind vereint.
Christen haben alle Stunden
ihre Qual und ihren Feind,
doch ihr Trost sind Christi Wunden.

4. Arie
Die beiden ersten Zeilen erinnern an das Wort aus Offenbarung 2, 10: «Sei getreu bis in den Tod, und ich will dir die Krone des Lebens geben» und an das Bild vom Wettkampf, in welchem nur einer das «Kleinod», den Siegespreis, gewinnt (1. Korinther 9, 24). Paulus schreibt: «Denn wie die Leiden Christi überaus reichlich über uns kommen, so ist durch Christus auch unser Trost überaus reichlich» (2. Korinther 1, 5). Die Textvorlage mit ihrer barocken Lust an Gegensätzen und poetischen Wortkünsten hat Bach zu einem dicht gewobenen Terzett aus Oboe, Altstimme und Continuo inspiriert, das mit seinen Reibungen und Imitationen die Mühsal eines gottgefälligen Lebensweges thematisiert.

5. Arie (Bass)

Ich folge Christo nach,
von ihm will ich nicht lassen
im Wohl und Ungemach,
im Leben und Erblassen.
Ich küsse Christi Schmach,
ich will sein Kreuz umfassen.
Ich folge Christo nach,
von ihm will ich nicht lassen.

5. Arie
Hier spricht nun die glaubende Seele in der Ich-Form: Ich will in Glück und Unglück, im Leben und im Sterben Christus treu bleiben. Das Stichwort «Ich folge Christo nach» lieferte Bach den Ansatzpunkt für eine von aufwärts strebenden Linien und kanonartigen Stimmführungen geprägte Musik.

6. Arie (Tenor)

Sei getreu, alle Pein
wird doch nur ein Kleines sein.
Nach dem Regen
blüht der Segen,
alles Wetter geht vorbei,
sei getreu, sei getreu.

6. Arie
«Alle Pein wird doch nur ein Kleines sein», also nur eine kleine Zeit dauern und wie ein Unwetter wieder vorbeigehen – eine Ermutigung, durchzuhalten und treu zu bleiben. Zur Illustration der himmlischen Zusage hat der Komponist ein fließendes ¾-Metrum und eine energisch voranschreitende Continuo-Linie gesetzt, die selbst die längste «Pein» tragen kann. Die Trompete intoniert dazu wortlos den Choral «Jesu, meine Freude» und fügt damit der Musik eine zweite Bedeutungsebene hinzu – ein genialer Kunstgriff, den Bach in dieser Kantate wohl zum ersten Mal für sich entdeckte.

7. Choral

Was Gott tut, das ist wohlgetan,
dabei will ich verbleiben,
es mag mich auf die rauhe Bahn
Not, Tod und Elend treiben,
so wird Gott mich
ganz väterlich
In seinen Armen halten,

drum lass ich ihn nur walten.

7. Choral
Die Choralstrophe von Samuel Rodigast bildet eine treffliche Zusammenfassung des Kantatentextes. Der kraftvolle Liedsatz wird durch eine verzierte Oberstimme – wahrscheinlich Trompete und Violine I im Unisono – ergänzt.

Reflexion

Andrea Köhler

«In der Welt sein heisst, an die Sorge gekettet zu sein»

Bachs Kantate «Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen» erinnert daran, dass der Verzicht auf das Versprechen jenseitiger Glückseligkeit uns ganz an das Diesseits und damit an die Sorge gebunden hat. Doch ist die Sorge nicht nur quälend, sie ist auch unser grösstes Kapital.

«Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen» – das ist das Stakkato einer Vertrauens-Krise. In ihr drückt sich ein Verlust, wenn nicht des Glaubens, dann doch der Hoffnung aus, dass das Leben es je wieder gut mit uns meint. Doch auch der dunkle Spuk der Seele bezieht seinen Schmerz zuerst aus der Idee dessen, was man in solch einer Situation vermisst. Was ist das? Das nachmetaphysische Individuum, das nicht mehr mit Selbstverständlichkeit die Knie beugt und die Hände faltet, ist in Zeiten der Krise weitgehend auf sich selbst gestellt – sofern es sich nicht den Laboren der Glücksindustrie anvertraut. Die Pharmaforschung hat den versunkenen Horizont der Verheissung im Phänomen des gesenkten Serotoninspiegels wiedererkannt; sie gibt den Boten des Seelenheils chemische Nahrung. Was früher die Hoffnung und ihre frommen Propheten versprachen, besorgen heute die Neurotransmitter. Und doch muss ihre Botschaft noch immer an den Himmel gemalt werden.
«Depression ist ein Defekt des Chemiehaushalts, keine Charakterschwäche. Für alles gibt’s eine Lösung. Rufen Sie die Nummer 1-800-Hilfe an», lautet eine Reklame, die an der Ecke Broadway, Amsterdam Avenue in den New Yorker Himmel ragt. Wo einst die Anrufung Gottes war, ist heute also der Griff zum iPhone. Warum aber hat man die Werbung so hoch über unseren Köpfen placiert? Offenbar muss das Erlösungsversprechen noch immer von oben kommen. So appelliert diese Reklame an unsere uralte vertikale Fixierung.
«Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen»: Bachs Kantate wurde am 22. April 1714, nächstes Jahr fast auf den Tag genau vor 300 Jahren, in Weimar uraufgeführt; sie ist für den dritten Sonntag nach Ostern, im Kirchenkalender «Jubilate» genannt, bestimmt. Ihr liegt der Evangelientext Joh. 16. 16–23 der Luther-Bibel zugrunde, in dem Jesus das Versprechen der Auferstehung verkündet: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.» Die Kantate, die uns zunächst in die Ausdrucksformen der Not einstimmt, stellt uns vor das genuine Paradox, das jeder Hoffnung innewohnt: «Ihr werdet weinen und klagen/ aber die Welt wird sich freuen» – es sind diese Worte, die nach einer langsamen Aufhellung der Melodie im Schlusschoral dieser Kantate ein bewegendes Echo finden: Der abschliessende Choral ist die letzte Strophe eines Kirchenliedes von Samuel Rodigast. Der Kern-Text jedoch stammt aus der Feder von Salomon Franck, dem Verfasser der meisten Kantatentexte aus Bachs früher Weimarer Zeit.

Kantate der Gemütszustände
«Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen»: das sind Gemütszustände, gegen die wir uns nicht mehr so ohne weiteres mit einer göttlichen Umarmung zu wappnen vermögen. Wie gehen wir heute mit der «allem endlichen Leben anklebenden Traurigkeit», wie Schelling das formulierte, um? Bleiben wir einen Moment bei diesem sechsminütigen Dacapo der Qual, dessen Melodie Bach später dem «Cruzifix» der h-Moll Messe unterlegen sollte, und horchen wir auf den Sinn der vier Ausgangs-Worte:
Weinen – das ist die Antwort des Körpers, wenn eine Empfindung stärker als unsere Beherrschung ist. Uns laufen die Tränen, wo die Sprache versagt – oder zumindest nicht ausreicht, um unsere Not auszudrücken. Weinen – mit dieser Regung kommen wir in die Welt. Mit dem ersten Schrei strömt Atem in unsere Lungen und bindet uns an den Stoffwechsel mit allem Lebendigen. Auch unsere Tränen sind, nüchtern betrachtet, ein Stoffwechselprodukt. Doch dass diese Ausdrucksform uns Menschen vorbehalten bleibt, macht die Tränen zu einem spezifisch humanen, mit der Naturwissenschaft nicht zu erfassenden Charakteristikum. Tränen sind, obschon eine physische Reaktion, ein Produkt des Bewusstseins – und nicht zuletzt das Sekret des Wissens um unsere Sterblichkeit. Tiere weinen nicht.
Kommen wir also zum zweiten Begriff: der Klage. Es heisst, dass der homo sapiens zuerst in der Klage um einen geliebten Menschen zur Sprache fand – und alle Sprache war einst Gesang. Es ist ja kein Zufall, dass die am tiefsten zu Herzen gehende Musik zumeist in den Klagepartien zu finden ist; mehr noch vielleicht als die Freude, ist das Leid zunächst ein Klangphänomen. Als ritualisierte Form des Gedenkens war die Totenklage ursprünglich von einer stark theatralischen Affektabfuhr, von Heulen und Schreien begleitet – und in vielen Weltgegenden ist sie dies auch heute noch. In unseren Breitengraden dagegen findet die Klage meistens im stillen Kämmerlein statt, dann, wenn die Trauerfeiern vorüber sind.

Der Trauer den Krieg erklärt
Dabei ist die Beklemmung, mit der die Trauernden heutzutage von ihrer Umgebung bedacht werden, vermutlich auch ein Indikator dafür, dass der inflationäre Bekenntnisschub, der unsere fundamentalsten Gefühle in Talkshows oder in Twittern und Tweets ausposaunt, die Erosion von Ritualen nicht zu ersetzen vermag. Ich lebe in einem Land, in dem das Weinen und Klagen, Jammern und Zagen rund um die Uhr mit hohen Einschaltquoten bewirtschaftet wird; besonders die Totenklage hat – wie der Boom an Trauer-Memoiren zeigt – ein beträchtliches Bestseller-Potenzial. Und doch hat man der echten Trauer den Krieg erklärt. Es dürfte jedenfalls kein Zufall sein, dass der jüngsten Auflage des diagnostischen Handbuchs für Ärzte und Psychiater ein Krankheitsbild hinzugefügt wurde, das auf den schönen Namen prolonged grief disorder hört – zu deutsch etwa: «überzogene Trauerstörung». Seither wird dieser Befund, der übrigens schon nach zwei Wochen gilt, in den Medien mit jenem Furor diktiert, der solchen Diagnosen stets dann zuteil wird, wenn sie der Pharmaindustrie in die Tasche spielen.
«Christen haben alle Stunden, Ihre Qual und ihren Feind/ Doch ihr Trost sind Christi Wunden»: Die zweite Arie unserer Kantate, die – so wenigstens will es mir scheinen – schon eine zaghafte Zuversicht instrumentiert, hat einen anderen Vorschlag für uns bereit. Können wir diesen Trost, den Trost der aus der Qual eines anderen Menschen entspringt wohlgemerkt, heute noch nachempfinden?
Es war in einer Osternacht vor sieben Jahren, als ich den Sinn dieser Verse gewissermassen mit Leib und Seele begriff. Ich lag nach einer schweren Operation in einem New Yorker Krankenhaus und befand mich physisch und psychisch an einem Abgrund, der keinem rationalen Bewusstsein mehr zugänglich ist. Mit mir im Zimmer lag eine Frau, die die ganze Nacht lang laut betete. Diese Frau gab sich in ihrer Anrufung Jesu selbst die Schuld an ihren Schmerzen – ja, sie bejahte die soeben überstandene Operation als eine Strafe für ihre Vergehen. Nun ist mir eine solche Form der Vergeltungstheologie denkbar fremd. Doch was ich begriff in jener Nacht, war das tief verankerte menschliche Bedürfnis nach einer symbolischen Repräsentation für überwältigende Qualen. Vielleicht erstmals ging mir die ganze Dimension des Trostes auf, die in der symbolischen Leidens-Stellvertreterschaft Christi liegt. Was mir diese Einsicht jedoch vor allem vermittelt hat, war die Musik. Ich habe in dieser Nacht, nicht nur um dem Gebet meiner Bettnachbarin, sondern auch um der amerikanischen Form des Trostes, dem ununterbrochen laufenden Fernseher, zu entkommen, wieder und wieder die Matthäuspassion gehört, und gehe nicht zu weit, wenn ich behaupte, dass es zu einem nicht unerheblichen Teil diese Musik war, die mich vor dem Verzagen gerettet hat.

Gärten sind Gucklöcher ins Paradies
Zagen – das ist nicht nur ein aus dem Sprachschatz weitgehend verstossenes Wort, es ist dem coolen Habitus, den man heutzutage anlegen muss, zudem denkbar fremd. Zagen – ich höre bei diesem Wort immer das Zarte mit – und das nicht nur wegen derselben Anfangsbuchstaben. Zagen, das ist der Moment, wenn uns der Mut verlässt und die Verzweiflung naht. Zagen – da ist auch das Zaudern nicht weit – jene Hemmung mithin, die uns in den Raum der Entscheidung stellt. Wer zaudert, zagt, zögert, ist den eigenen Zweifeln und Ängsten überantwortet, dem Zufall, der Willkür, kurz: der Sorge ausgesetzt.
Von all den vier Worten der Ausgangszeile dieser Kantate ist die Sorge am dichtesten dran an der Angst. Sorgen sind Nachtbesuche, sie lauern uns gern zwischen vier und fünf Uhr morgens auf, zur bleichen Stunde des Henkers. Martin Heidegger hat in «Sein und Zeit» das Dasein selber als Sorge bestimmt und damit das Menschenleben in die Dimension der Zeitlichkeit und der Angst gestellt – ins Dasein zum Tode. Und doch ist die Sorge nicht nur unser schlimmster Quälgeist, sondern auch unser grösstes Kapital.
Es war in einem biblischen Garten, in dem die Sorge in die Welt gebracht wurde: durch Evas Biss in den Apfel kamen wir unter das Regime der Natalität und der Sterblichkeit. Erst mit Evas Verstoss entstand das sterbliche Ich, das sein Potenzial in der Zeit verwirklichen muss – durch die Pflege derer, die nach uns kommen und die Erinnerung unserer Toten, durch die Kultivierung der Erde und die der Seele, durch Arbeit, Kunst, Wissenschaft und Religion.
In seinem Buch «Gardens. An Essay on the Human Condition», bestimmt der amerikanische Literaturwissenschaftler und Philosoph Robert Harrison den Gartenbau – im weitesten Sinne – als Archetypus der sich kümmernden Sorge. Gärten, schreibt er, «sind Orte, die inmitten der gefallenen Welt einen Blick aufs Paradies gewähren, und die Tatsache, dass wir sie schaffen und bewahren und für sie sorgen müssen, ist das Kennzeichen ihrer Herkunft aus dem Zustand nach dem Sündenfall».
Es ist also vermutlich kein Zufall, dass Christus’ einsamste Stunde, die Stunde in der er die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen verspricht, in einem Garten stattfand; die existenzielle Einsamkeit der Nacht im Garten Gethsemane, ist das Szenario, aus welcher der christliche Mythos der Kreuzigung seine Kraft bezieht. Es gibt wohl kaum eine zweite so in die Tiefen der menschlichen Angst reichende Bibelstelle wie diese. Und doch ist dies die Stunde, in der die Hoffnung in der Verzweiflung, jene Befindlichkeit also, von der diese Kantate spricht, am grössten ist: «Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst.» Oder, mit den Worten unseres Schlusschorals: «Was Gott tut, das ist wohlgetan/ Drum lass ich ihn nur walten.»
Der etwa zur Zeit von Bachs Tod beginnenden Aufklärung war die menschliche Selbstbestimmung nur um den Preis der Abkehr von der Überwelt möglich, der Befreiung von dem, was in dieser Kantate so kindlich vertrauensvoll die «väterliche Umarmung» genannt wird. Alle Energie sollte nur noch darauf verwendet werden, den Himmel auf Erden zu errichten. Gleichwohl hat die Erwartung sich nicht erfüllt, dass der Verzicht auf das vage Versprechen jenseitiger Glückseligkeit automatisch zur Verbesserung der Glückssituation auf Erden führen werde.

Trost der Musik
Im Gegenteil: der Preis für die absolute Diesseitigkeit ist unvermeidlich Distanzverlust – ein Verlust, der uns der Sorge in Permanenz ausliefert. In der Welt sein, das heisst, aller pharmazeutischen Glücksversprechen ungeachtet, an die Sorge gekettet zu sein.
Und so sind auch wir Menschen des 21. Jahrhunderts noch immer auf jenen Trost angewiesen, ohne den «Not, Tod und Elend» schlechterdings unerträglich wären: den Trost der metaphysischsten aller Künste: der Musik. Einer Musik, die, wie diese Kantate, das Versprechen der Auferstehung für uns bewahrt hat und mit jeder Aufführung neu belebt. Und weil diese Kantate dem dritten Sonntag nach Ostern, dem «Jubilate» gilt, möchte ich hier zum Abschluss ein Schöpferlob vortragen, das ein Jahrhundert nach Bach entstanden ist, und das die Ambivalenz, das unverzichtbare Nebeneinander von Betrübnis und Heiterkeit preist. Es stammt von dem englischen Dichter Gerard Manley Hopkins und heisst in der deutschen Übersetzung von Ursula Clemens und Friedhelm Kemp «Gescheckte Schönheit»:

Ehre sei Gott für gesprenkelte Dinge –
Für Himmel zwiefärbig wie eine gefleckte Kuh;
Für rosige Male all hingetüpfelt auf schwimmender Forelle;
Kastanien-Fall wie frische Feuerkohlen; Finkenflügel;
Flur gestückt und in Flicken – Feldrain, Brache und Acker;
Und alle Gewerbe, ihr Gewand und Geschirr und Gerät.
Alle Dinge verquer, ureigen, selten, wunderlich;
Was immer veränderlich ist, scheckig (wer weiss wie?)
Mit schnell, langsam; süss, sauer; blitzend, trüb;
Er zeugt es hervor, dessen Schönheit wandellos;
Preis ihm.

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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