Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden
BWV 047 // zum 17. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Fagott, Streicher und Continuo
Der Text stammt aus einem Jahrgang von Kantatendichtungen, die Johann Friedrich Helbig 1720 unter dem Titel «Aufmunterung zur Andacht» für den Hof im thüringischen Eisenach veröffentlicht hatte. Im Vorwort heisst es, er habe bewusst auf «poetische Zierligkeiten» verzichtet, weil «christliche Einfalt» der schönste Schmuck derartiger Dichtung sei. Der Text ist auch von Georg Philipp Telemann in Musik gesetzt worden. Er nimmt Bezug auf das Evangelium des Sonntags, Lukas 14, 1–11, wo im zweiten Teil die Warnung Jesu vor Rangsucht und Hochmut zur Sprache kommt. Helbigs von manchen Kommentatoren als «dürftige Poesie» disqualifiziertes Libretto hat Bach vor eine hörbar schwierige Aufgabe gestellt, ihn jedoch zu einer besonders bildhaften und kontrastreichen Vertonung angeregt.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Olivia Fündeling, Jennifer Rudin, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel
Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Lea Scherer
Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Nicolas Savoy
Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, Manuel Walser, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Plamena Nikitassova, Dorothee Mühleisen, Christine Baumann, Yuko Ishikawa, Christoph Rudolf, Eva Saladin
Viola
Martina Bischof, Sarah Krone
Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Kerstin Kramp, Ingo Müller
Fagott
Susann Landert
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Volker Meid
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
20.09.2013
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1
Lukas 14,11
Textdichter Nr. 2-4
Johann Friedrich Helbig, 1720
Textdichter Nr. 5
unbekannter Dichter
Erste Aufführung
17. Sonntag nach Trinitatis,
13. Oktober 1726
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die Kantate BWV 47 ist Bachs einzige Vertonung nach dem 1720 in Eisenach gedruckten Kantatenjahrgang «Auffmunterung zur Andacht» von Johann Friedrich Helbig. Sie entstand zum 13. Oktober 1726; für eine früher in Erwägung gezogene Bestimmung als Bewerbungskantate für Hamburg 1720 gibt es keine Indizien.
Dem Eingangschor liegt jenes antithetische Wort aus Lukas 14 zugrunde, das vom konträren Lohn der menschengemachten Erhöhung und Erniedrigung handelt. Dem Gleichnis liegt die Botschaft zugrunde, dass man als geladener Gast demütig darauf warten möge, vom Hausherrn als Freund an den besten Platz gelotst zu werden. Bachs Komposition deutet bereits in der ausgedehnten Einleitung die moralische Fallhöhe und beträchtlichen Konsequenzen dieser Aussage an. In ernstes g-Moll getaucht, darf man im Wechselspiel der Oboen und Streicher den warnend auf den Hörer gerichteten Zeigefinger erkennen, ehe der beständige Austausch des musikalischen Materials das Verschränktsein von zurückgenommener Demutsgeste und ostentativ durchschrittener Erhebungspose hörbar macht. Dem folgt eine auch mittels Stimmkombinationen frei gehandhabte Vokalfuge, die durch orchestrale Einwürfe überlagert wird. Der meisterlich proportionierte Satz, der sicher auch ein treffliches «Kyrie» in einer Bach‘schen Missa brevis der 1730er Jahre abgegeben hätte, verdeutlicht, dass sensibles Textverständnis bei Bach immer mit viel musikalischer Eigenlogik einhergeht.
In der Sopranarie ergeht sich die instrumentale Solostimme über schreitenden Continuoachteln in nervösem Figurenwerk. Die in der Eindringlichkeit der Linien und den Doppelgriffen des Mittelteils überzeugende Besetzung mit Violine geht offenbar auf eine Wiederaufführung der 1730er Jahre zurück; Hinweise in der Partitur sowie eine spätere Präzisierung Carl Philipp Emanuel Bachs sprechen für die ursprüngliche Zuweisung an ein obligates Orgelinstrument. Welche Bedeutung Bach dieser Partie zumass, wird neben ihrer Eigenständigkeit auch durch das lange Nachspiel verdeutlicht. Demgegenüber schmiegt sich der Sopran passend zum Textaffekt dem Generalbass an, was den Hoffart und Stolz verdammenden Ausbruch des Mittelteils umso stärker hervortreten lässt.
Im Accompagnato-Rezitativ redet der Solobass dann unverblümt Tacheles, wenn er den Menschen «als Kot, Staub (bei Helbig sogar: Stank!), Asch und Erde» bezeichnet und so in maximale Distanz zur Majestät des Höchsten bringt. Dass dieser sich aus Liebe den schnöden Erdenkindern gleichmachte, begründet eben keinen Anspruch auf Vorzugsbehandlung! Die klirrende Streicherbegleitung mildert diese Schelte keineswegs ab, sondern betont wie eine aus Tönen gemeisselte Kanzel den Abstand zwischen Botschaft und Hörern. Aus der mit einer tröstlichen Verheissung verbundenen Schlusswendung nach Es-Dur entwickelt sich dann aber eine warme neue Klanglichkeit, die das zarte Konzertieren von Violine und Oboe in der folgenden Arie geradezu märchenhaft leuchten lässt. Der Bass ist dazu von seiner Kanzel herabgestiegen, nimmt sich selbst ins Gebet und bittet mit zutraulichem Vertrauen: «Jesu beuge doch mein Herze.» Die durchkomponierte Satzform gäbe auch ein schönes Sonaten-Quatuor etwa mit obligatem Fagott ab – etwas, das gerade Telemann, der den Helbig-Jahrgang komplett vertont hat, besonders schätzte.
Die zurück nach g-Moll versetzte Schlussstrophe des Liedes «Warum betrübst du dich, mein Herz» bekräftigt die Abwendung von Welt und «zeitlichen Ehren». Dabei wird der «herbe bittre Tod» in so markanter Weise hervorgehoben, dass auch die schläfrigsten Kirchenbesucher aufgemerkt haben werden. Choralsätze sind bei Meister Bach eben nie reine Kopistenarbeit…
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
«Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden,
und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden.»
1. Chor
Zum Eingang singt der Chor den Schlussvers der Lesung, Lukas 14, 11 im Wortlaut. Bach hat dafür eine überraschend ausgedehnte Komposition geschaffen, die strikt textbezogen vom Gegensatz eines raschen Aufstiegs und eines in Seufzern chromatisch absteigenden Viertelmotivs lebt. In genialer Weise verkehrt Bach die textlichen Ebenen und stellt sie damit theologisch vom Kopf auf die Füße: Anläufe zur Selbsterhöhung werden durch eine erniedrigte Terz (b) als vermessen denunziert, die demütige Selbsterniedrigung jedoch führt über das Kreuz nach oben! In den einzelnen Textdurchläufen wechselt Bach zwischen breit ausgeführten Fugen und eher akkordischen Passagen mehrfach das satztechnische Verfahren. Erst im letzten Vokalabschnitt verknüpft er wirkungsvoll den Chorsatz mit dem zuvor im Dialog von Oboen und Streichern eingeführten Kopfmotiv des Orchesters.
2. Arie (Sopran)
Wer ein wahrer Christ will heißen,
muß der Demut sich befleißen,
Demut stammt aus Jesu Reich.
Hoffart ist dem Teufel gleich.
Gott pflegt alle die zu hassen,
so den Stolz nicht fahren lassen.
2. Arie
Das Lob der Demut und die Verurteilung der Hoffart erfolgt moralisierend und wirklich im Sinne von Helbigs Motto, auf «poetische Zierlichkeiten» zu verzichten. Bach hat dafür dem Sopran und Continuo eine sprechende Obligatpartie gegenüberstellt, die zunächst für Orgel solo bestimmt war und wohl bei einer Wiederaufführung um 1734 der Violine übertragen wurde. Dabei könnten die elegant fließenden Linien des A-Teils die vom himmlischen überstrahlte Demut verkörpern, während die exzentrischen Doppelgriffe des B-Teils für die menschlich-musikalische Hoffart und die «Selbsterhöhung» einer «leeren» Virtuosität stehen.
3. Rezitativ (Bass)
Der Mensch ist Kot, Staub, Asch und Erde;
ists möglich, daß vom Übermut,
als einer Teufelsbrut,
er noch bezaubert werde?
Ach, Jesus, Gottes Sohn,
der Schöpfer aller Dinge,
ward unsertwegen niedrig und geringe,
er duld’te Schmach und Hohn;
und du, du armer Wurm, suchst dich zu brüsten?
Gehört sich das vor einen Christen?
Geh, schäme dich, du stolze Kreatur,
tu Buß und folge Christi Spur;
wirf dich vor Gott im Geiste gläubig nieder!
Zu seiner Zeit erhöht er dich auch wieder.
3. Rezitativ
Das einzige Rezitativ der Kantate ist als donnernde Strafpredigt gestaltet. Mit drastischen Ausdrücken wird das sündige Wesen des hochmütigen Menschen geschildert und der demütigen Haltung Jesu gegenübergestellt. Etwas milder wird der Sünder nachher zu Busse und Christusnachfolge ermahnt, damit er zu gegebener Zeit wieder «erhöht» werde – Bach hat diese gegensätzlichen Bewegungsrichtungen im Rezitativ immer wieder nachgezeichnet. Die beigegebene Streicherbegleitung unterstreicht nicht nur den zentralen Rang des Satzes und seiner Aussage, sondern setzt die für die gesamte Kantate charakteristische Kontrast-Beziehung von Singtext und Instrumentalpartien fort.
4. Arie (Bass)
Jesu, beuge doch mein Herze
unter deine starke Hand,
daß ich nicht mein Heil verscherze
wie der erste Höllenbrand.
Laß mich deine Demut suchen
und den Hochmut ganz verfluchen.
Gib mir einen niedern Sinn,
daß ich dir gefällig bin!
4. Arie
Die Arie ist ein Gebet, das auf die Strafpredigt antwortet und um einen gottgefälligen Sinn bittet. Mit dem «Höllenbrand» wird an die Legende von Luzifer erinnert. Dieser war ursprünglich ein Engel, wurde aber wegen seines Hochmuts in die Hölle verbannt. Die unbequeme Geste des «Beugens» hat Bach in der bogenförmigen Gestalt und auffahrenden Koloratur des Hauptthemas perfekt eingefangen. Von Jesu «starker Hand» über das «verscherzte Heil» bis hin zum «verfluchten Hochmut» – im virtuosen Konzertieren von Oboe, Violine, Singbaß und Continuo werden zahlreiche Schlüsselworte des Textes bildhaft aufgegriffen.
5. Choral
Der zeitlichen Ehrn will ich gern entbehrn,
du wollst mir nur das Ewge gewährn,
das du erworben hast
durch deinen herben, bittern Tod.
Das bitt ich dich, mein Herr und Gott.
5. Choral
Eine Strophe aus dem Lied «Warum betrübst du dich, mein Herz», um 1560 entstanden und zur Zeit Bachs dem Dichter Hans Sachs zugeschrieben, fügt sich nahtlos an das Gebet der vorangegangenen Arie an. Auch die Choralmelodie ist mit dem Fugenthema des Eingangschores verklammert. Bachs scheinbar schlichter Liedsatz verdeutlicht erneut die «herbe» Mühsal der Selbsterniedrigung, die Jesu Kreuzestod vorwegnahm und die in der ganzen Kantate zugleich gefordert wie in ihrer Schwierigkeit reflektiert wird.
Volker Meid
«Als Dichten noch ein Handwerk war»
Ein Blick auf Zeitgeist, Rhetorik, Stilistik und Poetologie in den Kantatentexten sensibilisiert uns für wechselnde, aber auch normierende Anforderungen an das Geschick der Dichterinnen und Dichter zwischen früher Neuzeit und Frühaufklärung. Gleich bleibt, im Sinne einer die Zeiten übergreifenden stilistischen Einheit, Bachs Musik.
«Wer sich selbst erhöhet, soll erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden»: Dieser Satz, der mehrfach in den Evangelien vorkommt, gibt mit seinen Antithesen die inhaltliche und formale Struktur der Kantate vor. Demut – Hoffart, Heil – Höllenbrand, armer Wurm – stolze Kreatur, von Luzifer inspirierte Suberbia des Menschen auf der einen, göttliche Erniedrigung um «unsretwillen» auf der anderen Seite. So wie die Kantate mit einem Bibelzitat beginnt, stammen auch Vokabular und Bildsprache der folgenden Kantatenteile unmittelbar aus dem Bibeltext oder spielen auf ihn an: Kot, Staub, Asche, Erde, Wurm als Chiffren für die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Menschen finden sich hier recht häufig. Und Hinweise auf Luzifer, Hölle, Christi Leiden und Aufforderungen zur Busse gehören ebenfalls zum üblichen Repertoire der geistlichen Dichtung, wie die Antithese von Zeitlichkeit und Ewigkeit im Schlusschoral.
Das sind keine neuen Erkenntnisse, ebenso wenig wie die Feststellung, dass der Text dieser Kantate keine poetische Meisterleistung darstellt. Aber er kann als Ausgangspunkt für einige Gedanken zur Machart der sehr unterschiedlichen Bachschen Kantatentexte, ihrer poetologischen Voraussetzungen und ihrer stilistischen Verfahrensweisen dienen. Dabei beschränke ich mich auf die geistlichen Kantaten Bachs, die des Barockkomponisten Bach mithin, und stelle mir dabei auch die Frage: Wie verhalten sich die vertonten Texte zu dieser stilistischen Einordnung, wie ‹barock› sind sie?
Die Texte der Bachkantaten sind in einem Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten entstanden, zwischen 1523 und etwa 1740. Sie stammen also aus unterschiedlichen historischen und stilistischen Epochen, führen von Martin Luther und der Reformationszeit über das Barock mit Texten von Paul Fleming, Paul Gerhard oder Johann Rist bis zur Aufklärung. Entsprechend unterschiedlich sind Sprache, Stil und metrische Vorgaben – und auch die Kantatenform selbst verändert sich und nimmt Elemente der Oper auf wie Rezitativ und Dacapo-Arie. Zudem ist an die Ungleichzeitigkeit der Künste zu denken: Während das literarische Barock im deutschen Sprachgebiet schon seit Ende des 17. Jahrhunderts allmählich von aufklärerischen Tendenzen abgelöst wird, befindet sich die barocke Baukunst noch in den Anfängen, und in der geistlichen und weltlichen Musik stehen die Höhepunkte noch bevor: Bach und Händel wurden 1685 geboren.
Modern ausgedrückt: Collagetechnik
Nun sind die aus den verschiedenen Epochen stammenden Texte der Bachkantaten in sich ebenfalls keineswegs einheitlich. Vielfach vermischen sich die Jahrhunderte und sorgen für stilistische Kontraste: So stammt der Schlusschoral der Kantate «Wer sich selbst erhöhet, soll erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden» aus einem Lied aus der Zeit um 1560. Er ist also 160 Jahre älter als der Haupttext Johann Friedrich Helbigs von 1720. Die sprachlichen – nicht die inhaltlichen – Unterschiede zeigen das deutlich genug. Man könnte, um moderne Begriffe zu gebrauchen, von Collagen oder Montagen sprechen.
In kleinerem Massstab wiederholt sich die Montagepraxis in den einzelnen Texten bzw. Textteilen selbst: Zum Wesen der zahllosen protestantischen geistlichen Lieder der Frühen Neuzeit gehört der enge inhaltliche und sprachliche Bezug zur Bibel. Schliesslich sind ihre Verfasser nicht in erster Linie der Dichtkunst, sondern der neuen Lehre und ihrer Einübung und Verbreitung verpflichtet – mit dem Ergebnis, dass viele Lied- oder Kantatenstrophen den Charakter einer Mosaikarbeit aus (jedenfalls damals) bekannten Versatzstücken aus der Bibel oder auch anderen Liedern besitzen.
Protestantische Sprach- und Literaturreform
Wenn also trotz der etwa 200-jährigen Textgeschichte zuweilen der Eindruck einer gewissen Eintönigkeit entstehen mag, so liegt das an dieser gemeinsamen Tradition, den verbindlichen Vorgaben der geistlichen Praxis und dem funktionalen Charakter der Dichtung, immer ausgerichtet auf die grundlegende geistliche Wirkungsabsicht. Das heisst auch, dass die geistlichen Texte des 16., 17. und frühen 18. Jahrhunderts auf denselben poetologischen Grundlagen beruhen, dass diese Gebrauchskunst – wie die Literatur der Frühen Neuzeit insgesamt, aber auch die Musik – von den Prinzipien der Rhetorik geprägt ist. Dabei richtet sich der sprachliche Ausdruck nach der beabsichtigten Wirkung. Und die zielt bei der geistlichen Lieddichtung auf Belehrung und Erbauung, für die wiederum gemäss der traditionellen rhetorischen Stillehre der niedere, einfache Stil, der sermo humilis, als angemessen gilt.
Mit der protestantisch dominierten Sprach- und Literaturreform seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, die mit dem Namen von Martin Opitz verbunden ist und als Beginn der deutschsprachigen Barockliteratur gilt, ändert sich daran nichts Grundsätzliches: Es bleibt bei der Forderung eines niederen Stils im Einklang mit der belehrend-erbaulichen Funktion der Lieder und der engen Bindung an das Jahrhundert der Reformation.
Wo bleibt dann der sogenannte Barockstil der religiösen Liedtexte nach der Literaturreform? Zunächst besteht er in der Umsetzung neuer metrischer und sprachlicher Vorgaben, d. h. vor allem der noch heute verbindlichen Betonungsregel nach dem ‹natürlichen› Wortakzent und manchen sprachlichen Modernisierungen. Aber letztlich kann sich auch die protestantische geistliche Lied- und Kantatendichtung den allgemeinen literarischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklungen nicht entziehen. Das betrifft zum einen die Tendenz zu gesteigerter stilistischer Virtuosität und ausgeprägter Bildlichkeit in der weltlichen Lyrik; zum anderen tragen lutherische Reformtheologen mit ihrem Konzept einer gelebten, den Menschen innerlich verwandelnden Frömmigkeit dazu bei, dass sich ein neuer, emotionalerer Ton allmählich auch in der Lieddichtung durchzusetzen beginnt, weniger dogmatisch und belehrend, weniger kämpferisch. Pietistischer Gefühlskult und die Aufnahme mystischer Vorstellungen fördern diese Tendenzen, die sich im 18. Jahrhundert noch verstärken und einen tiefgreifenden Einfluss auf die geistesgeschichtliche Entwicklung ausüben. Sie haben stilistische Folgen und führen zu einem verstärkt mit Bildern und rhetorischen Figuren arbeitenden Stil, um die Hörer oder Leser zur emotionalen Teilnahme zu bewegen, ihnen Trost, Hoffnung und Glaubensstärke durch die Übertragung der zentralen Ereignisse der Heilsgeschichte auf ihr eigenes Leben zu vermitteln.
‹Vernünftige› und ‹natürliche› Schreibart
Parallel dazu gewinnt seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine klassizistische Gegenbewegung an Boden, welche die spätbarocke Metaphern-Kunst ablehnt und eine ‹vernünftige› und ‹natürliche› Schreibart propagiert. Auch diese Tendenzen gingen nicht an Bach bzw. seinen Textdichtern und -dichterinnen vorüber. Immerhin lebte er in Leipzig, in dem neben Zürich bedeutendsten Zentrum der literarischen Aufklärung im deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Drei Beispiele aus der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollen die angedeuteten widerstreitenden Tendenzen verdeutlichen. Dabei betone ich etwas einseitig die Tendenzen zur Barockisierung – dies aber vor der Folie von Texten, die das traditionelle Konzept des sermo humilis weiterführen oder auch schon aufklärerische Stilvorstellungen verwirklichen.
Das erste Beispiel ist der Schlusschoral der Kantate «Es ist ein trotzig und verzagt Ding um aller Menschen Herze» (BWV 176). Er stammt von Paul Gerhardt, dem bekanntesten Dichter geistlicher Lieder des Barock. Die Verse aus dem Jahr 1653 sind schlicht, die Bilder durchaus traditionell, die Absicht dogmatisch belehrend:
«Auf dass wir also allzugleich
zur Himmelspforten dringen
und dermaleinst in deinem Reich
ohn alles Ende singen,
dass du alleine König seist,
hoch über alle Götter,
Gott Vater, Sohn und heilger Geist,
der Frommen Schutz und Retter,
ein Wesen, drei Personen.»
Zu Gerhardts einfachem Lied-Stil passt – trotz des grossen zeitlichen Abstands – der eigentliche Kantatentext von Christiane Mariane von Ziegler aus dem Jahr 1725, der in enger Anlehnung an den Bibeltext und seine Botschaft stilistisch sehr zurückhaltend verfährt. Die dem Schlusschoral vorausgehende Arie Zieglers lautet:
«Ermuntert euch, furchtsam und schüchterne Sinne,
erholet euch, höret, was Jesus verspricht:
Dass ich durch den Glauben den Himmel gewinne.
Wenn die Verheissung erfüllend geschicht,
werd ich dort oben mit Danken und Loben
Vater, Sohn und Heilgen Geist, Preisen,
der dreieinig heisst.»
Deutlich wird hier die Nähe Zieglers zu den literarischen Bestrebungen der Aufklärung, deren stilistischen Grundsätze sie teilt: Forderung nach Natürlichkeit des Ausdrucks, Ablehnung von gezwungenen Worten und affektiertem Wesen – für die aufgeklärten Kritiker Merkmale des Barockstils. Dem entspricht die flüssige Verssprache und die völlige Abwesenheit von Bildern. Vereinfacht ausgedrückt: Während die schlichten Verse Paul Gerhardts noch kaum den ‹barocken› Stil repräsentieren, ist Christiane Mariane von Ziegler schon darüber hinaus.
Das zweite Beispiel betrifft eine weitere Kantate nach einem Text Christiane Mariane von Zieglers, «Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen» (BWV 87). Auch sie endet mit einer barocken Liedstrophe aus den 50-er Jahren des 17. Jahrhunderts; Verfasser ist der damals sehr populäre Erbauungsschriftsteller Heinrich Müller. Es geht thematisch um Schuldbewusstsein und Gottvertrauen. Hier heisst es als Antwort auf die Frage «Muss ich sein betrübet?»:
«So mich Jesus liebet,
ist mir aller Schmerz
über Honig süsse [also süsser als Honig, V. M.]
tausend Zuckerküsse
drücket er ans Herz.»
Das ist eine Sprache, die zunächst an die barocke katholische Lieddichtung erinnert, etwa an Friedrich Spee oder Angelus Silesius, zugleich aber auch an die erwähnten Veränderungen in der Frömmigkeitspraxis in Teilen des Protestantismus und die damit einhergehende zunehmende Bedeutung pietistischer und mystischer Vorstellungen.
Zum Schluss sei auf einige Beispiele für diese Barockisierung bei Salomon Franck verwiesen, einem Zeitgenossen Bachs und Christiane Mariane von Zieglers. Die meisten Kantaten Bachs aus der Weimarer Zeit beruhen auf seinen Texten. Sie zeichnen sich nicht zuletzt durch eine gefühlsbetonte Sprache und schwärmerisch-mystische Züge aus, aber gelegentlich auch durch handfeste Drastik und Realistik wie in der Kantate «Tue Rechnung! Donnerwort» (BWV 168). Zugleich lässt sich ganz im Sinn der spätbarocken Poetik und Emblematik eine Vorliebe für entlegene Vergleiche erkennen, die beim Hörer oder Leser Kombinationsgabe und Wissen bzw. Bibelkenntnis erfordert. So etwa im Fall der Kantate BWV 161, welche die Todessehnsucht thematisiert und dabei auf eine Episode aus dem Buch der Richter (14, 5ff.) anspielt:
«Komm, du süsse Todesstunde,
da mein Geist Honig speist
aus des Löwens Munde.
Mache meinen Abschied süsse,
säume nicht,
letztes Licht,
dass ich meinen Heiland küsse.»
Im Maul des von Simson erschlagenen Löwen, so der Bibeltext, lässt sich ein Bienenschwarm nieder. Später isst Simson von dem Honig. Und der bibelfeste Leser oder Hörer steht vor der Aufgabe, die Verbindung zwischen der Anspielung auf die Löwenepisode und der Thematik des Kantatentextes herzustellen: Wie im Maul des toten Löwen neues Leben und süsse Nahrung entsteht, so erscheint der Tod dem Menschen als süsser Abschied, der ihn zum ersehnten Ziel führt: «Dass ich meinen Heiland küsse.» Diese Form des kombinatorischen Beziehungsspiels ist eine beliebte spätbarocke Literaturtechnik.
In dem folgenden Rezitativ der Kantate BWV 161 unterstreichen die metaphorische Ausdrucksweise, aber auch Wortspiele und Antithesen den barock-artifiziellen Charakter der Dichtung. Zugleich lockert sich durch die Annäherung an die Metaphorik der weltlichen Dichtung die Beziehung zum Bibeltext. Diese Verse könnten in jeder barocken Weltabsage, aber auch in einer Liebesklage stehen:
«Welt! Deine Lust ist Last!
Dein Zucker ist mir als ein Gift verhasst!
Dein Freudenlicht
ist mein Komete, [Kometen galten als Unglückszeichen, V.M.]
und wo man deine Rosen bricht,
sind Dornen ohne Zahl
zu meiner Seelen Qual!»
Wenn ich hier nun so etwas wie eine Entwicklungslinie angedeutet habe – von betont einfachem, lehrhaftem Stil über zunehmende barocke Bildlichkeit gleichsam zurück zu klassizistischer Nüchternheit –, so gilt das vor allem in stilistischer Hinsicht. Es gilt jedoch nicht für den chronologischen Verlauf, wie das Nebeneinander der ‹barocken› Texten Francks und der eher aufklärerisch-zurückhaltenden Verse Christiane Mariane von Zieglers beispielhaft deutlich machen kann. Die Strömungen überlagern sich gerade in der Übergangsphase vom Barock zur Aufklärung. Es ist mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu rechnen. Erst die Musik Bachs sorgt für die übergreifende stilistische Einheit.