Nun komm, der Heiden Heiland
BWV 061 // zum 1. Advent
für Sopran, Tenor und Bass, Vokalensemble, Fagott, Streicher und Continuo
Die Kantate «Nun komm der Heiden Heiland» BWV 61 gehört dank ihrer charmanten Klanggestalt und jugendlichen Frische zu Bachs bekanntesten Kirchenstücken. Zum 1. Advent 1714 für die Weimarer Schlosskirche komponiert, atmet sie mit ihren blühenden Melodien und genialen Lösungen allenthalben den experimentellen Geist dieses inspirierenden künstlerischen Erprobungsfeldes.
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Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Jennifer Rudin, Noëmi Sohn Nad
Alt/Altus
Antonia Frey, Alexandra Rawohl, Francisca Näf, Simon Savoy
Tenor
Clemens Flämig, Nicolas Savoy, Walter Siegel
Bass
Valentin Parli, Manuel Walser, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Martin Korrodi
Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Iris Finkbeiner
Fagott
Susann Landert
Orgel
Norbert Zeilberger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Noldi Alder
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
09.12.2011
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1
Martin Luther, 1524
Textdichter Nr. 2, 3, 5
Erdmann Neumeister, 1714
Textdichter Nr. 4
Zitat aus Offenbarung 3,20
Textdichter Nr. 6
Philipp Nicolai, 1599
Erste Aufführung
1. Adventssonntag,
2. Dezember 1714
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Im Eingangschor unternahm Bach erstmals den Versuch, die instrumentale Form einer Ouvertüre mit einem Choralchor zu verbinden, womit er nicht nur dem Beginn des Kirchenjahres und dem Einzug des Himmelskönigs höfischen Glanz verlieh, sondern zudem seine Aufgaben als Konzertmeister der Hofkapelle und monatlicher Kantatenlieferant für die 1774 abgebrannte Schlosskirche «Weg zur Himmelsburg» miteinander verknüpfte. Der der dritten Liedzeile zugewiesene fugierte Mittelteil verrät mit seiner Beischrift «gai» ebenso wie die altertümliche Besetzung (geteilte Bratschen und unisono geführte Violinen) deutlich die Herkunft aus der französischen Sphäre. Diese feierlich-strenge Aura verleiht dem hörbar aus der Gregorianik entlehnten Lutherlied zudem jene archaische Färbung, die Bach auch seinen Orgelbearbeitungen dieses frühreformatorischen Hymnus angedeihen liess. Die gewagte Verbindung von Ouvertüre und Choral entsprach zwar gewiss dem neuerungsfreudigen Geist des Librettisten Neumeister, bestätigte indes auch alle Vorurteile, die man gegen die neumodischen «geistlichen Cantaten» vorbrachte. Doch indem Bach die Verweltlichung gleichsam auf die Spitze trieb, bewies er in seinem mitreissenden Ouvertürenchor, dass damit durchaus eine andächtige Kirchenmusik möglich wurde.
Das folgende Tenorrezitativ geht nach einer Betrachtung des adventlichen Geschehens in ein Arioso über, das den Segen des «kommenden Lichtes» mit verzückten Kinderaugen zu betrachten scheint. Die anschliessende Tenorarie lässt erstmals deutlich werden, dass mit dem Advent ein neues Kirchenjahr begann. «Befördre deines Namens Ehre, erhalte die gesunde Lehre und segne Kanzel und Altar» – der erfahrene Hofprediger und Superintendant Neumeister wünscht sich hier Gottes Segen für die bevorstehende Wirkungszeit. Dass es dafür der Einigkeit im Glauben und der Orientierung am geheiligten Vorbild bedarf, rufen die Unisonoführung sämtlicher Streicher und der trinitarisch perfekte 9/8-Takt nachdrücklich in Erinnerung.
Nach diesem betulichen Pastorenidyll wirkt das Rezitativ «Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür» wie ein heilsamer Schock. Das Gottesreich ist weder fern noch abstrakt: Begleitet von fremdartigen Pizzikatoakkorden, klopft Christus selbst an die Tür und begehrt in aller Armut und Grossartigkeit Einlass. Bach macht hier mit einer kühnen Wendung Neumeisters mit Bedacht eingefügtes Jesuswort zum verstörenden Zentrum der Komposition. Denn vom Gottesreich predigen lässt sich in wohlgesetzten Worten – wenn Christus wirklich kommt und spricht, klingt dies anders, direkter und elementarer als alle Theologie. In gut lutherischer Weise wird Jesu Intervention dabei nicht spiritistisch gedeutet, sondern auf die sakramentale Vereinigung im Abendmahl bezogen. Das Rezitativ entfaltet somit auf engstem Raum die reale Präsenz des lebenden Christus.
Nach diesem die gesamte Adventsbotschaft umschliessenden Satz braucht es keinen weiteren Aufputz, sondern getreu den mystischen Wurzeln der lutherischen Lehre nur die kindliche Bereitschaft der gläubigen Seele. Daher folgt mit «Öffne dich, mein ganzes Herze!» eine auf den ersten Blick schlichte Da-capo-Arie für Sopran und Generalbass. Doch verrät der beseelte Satz mit seiner arbeitsamen Continuostimme einen Reichtum der inneren Bewegung und Vorfreude, für den sich auch in Bachs umfangreichem Schaffen nicht leicht ein Gegenstück findet. Wie hier in 52 nicht enden wollenden Takten ein Bild vollständiger Genügsamkeit und Seligkeit entsteht, ist von grosser Kunst und berührender Anmut.
Dafür gibt der rasante Schlusschoral mit seiner himmelsstürmenden Violinstimme lautem Jubel Raum. Als könnten sie es kaum erwarten, selbst an der Krippe zu stehen, tragen die Singstimmen nur den Schluss des Epiphaniaschorals «Wie schön leuchtet der Morgenstern» vor: «Amen, amen, komm, du schöne Freudenkrone!» Mit dieser virtuosen Coda endet eine Kantate, die trotz ihrer frühen Entstehungszeit zu Bachs vollendeten Schöpfungen gehört.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Diese Adventskantate ist die ältere von zwei gleichnamigen Kompositionen. Sie hat eine sogenannte gemischte Textform, enthält also neben freien Dichtungen von Rezitativen und Arien auch Choralstrophen und originales Bibelwort. Das Evangelium des ersten Adventssonntages, auf das sich die Kantate bezieht, steht im 21. Kapitel bei Matthäus und berichtet vom Einzug Jesu in Jerusalem. Das «Kommen» des Heilandes ist der Leitgedanke, welcher in sämtlichen Nummern der Kantate aufgenommen und entfaltet wird.
1. Ouverture
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
1. Ouverture
Als Eingangssatz, bei Bach als «Ouverture» bezeichnet, dient die erste Strophe des altkirchlichen Hymnus «Veni redemptor gentium» des Ambrosius von Mailand in Martin Luthers Übertragung. Mit «Heiden» sind im Alten Testament die Völker ausserhalb Israels gemeint, zu denen Christus gesandt ist, um sie in den Bund Gottes mit einzuschliessen, in dem Israel schon steht. Der erste Adventssonntag eröffnet das Kirchenjahr, die Ouvertüre eröffnet ein barockes Fest und kündigt den Auftritt des Königs an: hier wird die Ankunft des himmlischen Königs proklamiert. Bach verbindet den punktierten Rhythmus der französischen Ouvertüre mit dem Lutherschen Adventschoral; der Ouvertürenform entsprechend ist die dritte Choralzeile als schneller fugierter Abschnitt gehalten.
2. Rezitativ (Tenor)
Der Heiland ist gekommen,
hat unser armes Fleisch und Blut
an sich genommen
und nimmet uns zu Blutsverwandten an.
O allerhöchstes Gut,
was hast du nicht an uns getan?
Was tust du nicht
noch täglich an den Deinen?
Du kömmst und läßt dein Licht
mit vollem Segen scheinen.
2. Rezitativ
Der kommende Heiland nimmt «unser armes Fleisch und Blut» an, d.h. er wird Mensch und macht die Menschen zu seinen Verwandten, denen er dient und seinen Segen schenkt. Das Rezitativ beginnt im üblichen Erzählton, steigert sich dann aber in einen ausdrucksvollen Dialog mit der Bassstimme, wenn vom erscheinenden Licht die Rede ist.
3. Arie (Tenor)
Komm, Jesu, komm zu deiner Kirche
und gib ein selig neues Jahr!
Befördre deines Namens Ehre,
erhalte die gesunde Lehre
und segne Kanzel und Altar!
3. Arie
Mit dem ersten Adventssonntag beginnt das neue Kirchenjahr. Möge Jesus zu seiner Kirche kommen und ein gutes neues Jahr schenken, die Verkündigung des Evangeliums (Kanzel) und die Feier des Abendmahls (Altar) segnen! Das Unisono-Spiel aller Streicher symbolisiert die erwünschte Eintracht der Gläubigen.
4. Rezitativ (Bass)
Siehe, ich stehe vor der Tür
und klopfe an. So jemand meine
Stimme hören wird und die Tür auftun,
zu dem werde ich eingehen
und das Abendmahl mit ihm halten,
und er mit mir.
4. Rezitativ
Der Text dieses Rezitativs ist ein Zitat aus dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea im dritten Kapitel der Offenbarung des Johannes und gibt dem Komponisten Gelegenheit zu einer bildhaften Darstellung. «Ich stehe vor der Tür und klopfe an» – gezupfte Streicherakkorde und die Bassstimme, die «vox Christi».
5. Arie (Sopran)
Öffne dich, mein ganzes Herze,
Jesus kömmt und ziehet ein.
Bin ich gleich nur Staub und Erde,
will er mich doch nicht verschmähn,
seine Lust an mir zu sehn,
daß ich seine Wohnung werde.
O wie selig werd’ ich sein!
5. Arie
Das zitierte Bibelwort befolgend soll das Herz sich öffnen; denn Jesus will einziehen, er verschmäht den vergänglichen und sündigen Menschen nicht. Die Sopranarie wendet sich zunächst ganz dem kommenden Jesus zu, in einem freudigen Dreivierteltakt, verfällt dann in ein grüblerisches Adagio beim Gedanken «bin ich gleich nur Staub und Erde», um sich dann mit Blick auf die versprochene Seligkeit wieder zu neuem Schwung aufzuraffen.
6. Choral
Amen, amen!
Komm, du schöne Freudenkrone,
bleib nicht lange!
Deiner wart’ ich mit Verlangen.
6. Choral
Die Schlusszeilen der letzten Strophe des Liedes «Wie schön leuchtet der Morgenstern» von Philipp Nicolai bilden mit dem Stichwort «komm!» den zusammenfassenden Abschluss der Kantate. Die Violinen schwingen sich auf hinauf bis zum «Sternenzelt»; die Singstimmen brechen in jubelnde Koloraturen aus.
Noldi Alder
«Bachs Kantate streift immer wieder an der Volksmusik entlang»
Eine musikalische Reflexion: Spiegelungen der Kantate «Nun komm, der Heiden Heiland» in der appenzellischen Volksmusik. Ein Versuch.
Das Appenzellervolk singt, wie dies auch in anderen Gegenden Brauch ist, während der Adventszeit Choräle. im Liederbüchlein der Appenzellerin Marie Josepha Barbara Brogerin aus dem Jahre 1730 weist das Lied «Gott ist kommen auf die Erden» zwei Choräle aus Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 61 «Nun komm, der Heiden Heiland» auf. Seit rund 30 Jahren kann festgestellt werden, dass im Appenzell, etwa zur Unterstützung, aber auch zur Abwechslung von der Predigt, auch Volksmusik gespielt wird. Kirchliche Adventsmusik im wahrsten Sinn des Wortes, die aus dem Appenzeller Land stammt, ist mir nicht bekannt. Und so war es denn auch nicht meine Absicht, Adventsmusik für diesen Anlass zu schreiben.
In dieser Reflexion möchte ich allerdings auf musikalische Art zeigen, was in einer das Weihnachtsfest vorbereitenden Zeit – ich möchte bewusst nicht von Adventszeit sprechen – möglich ist , ohne dass man dafür über mich später einmal zu Gericht sitzen müsste. Was ich komponiert habe, soll für das Volk verständlich sein, in dem Sinne, dass es sich um leicht verständliche Volksmusikthemen handelt. Bachs Kantate selbst streift ja immer wieder, sei es mit Teilen der zwei Choräle oder mit konsequenten harmonischen Abläufen, an der Volksmusik entlang. Bach hat das Anklopfen des Herrn im Bassrezitativ mit Pizzicato verdeutlicht. Ich versuchte, das Einschneien einer Landschaft mit der Musik irgendwie hörbar zu machen – wir sprechen da von Programmmusik. Ich habe dabei auch Zitate von Bachs Musik wie z. B. harmonische Abläufe, konsequente Tonleitern (Bassführungen) und nicht zuletzt die Schlusstakte förmlich übernommen. Die Volksmusik besteht aus dem Alpsegenmotiv und einer lüpfigen Schottischmelodie. Ich möchte in der Adventszeit fröhlich sein! Die Akkordangaben dienen übrigens dem Hackbrettspieler.