Halt im Gedächtnis Jesum Christ

BWV 067 // zu Quasimodogeniti

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Corno da tirarsi, Flauto traverso, Oboe d’amore I+II, Streicher und Basso Continuo

Das Evangelium für diesen Sonntag, Johannes 20, 19–31, ruft nochmals das unfassbare Ostergeschehen in Erinnerung: Der Auferstandene erschien den Jüngern und entbot ihnen den Friedensgruss. Im Gedanken an den «ungläubigen Thomas» schildert der unbekannte Kantatendichter den Menschen, der stets zwischen Glauben und Zweifel hin und her schwankt, und lädt ein zum Vertrauen auf Christus, der den Tod überwunden hat. BWV 67 gehört zu der trotz einiger neuer Funde noch immer überschaubaren Anzahl von Bach-Kantaten, deren Erstaufführung durch ein erhaltenes Leipziger Kirchenmusik-Textbuch von 1724 zweifelsfrei datiert werden kann.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 67

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Dominik Wörner

Chor

Sopran
Lia Andres, Jennifer Rudin, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Alexandra Rawohl, Damaris Rickhaus, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Manuel Gerber, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Oliver Rudin, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Elisabeth Kohler, Mechthild Karkow, Martin Korrodi, Fanny Tschanz

Viola
Susanna Hefti, Martina Zimmermann, Matthias Jäggi

Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe d’amore
Kerstin Kramp, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein

Corno da tirarsi
Olivier Picon

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Thomas Leininger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Manfred Koch

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
25.04.2014

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1
Zweiter Brief an Timotheus 2, 8

Textdichter Nr. 4
Nikolaus Herman (1560)

Textdichter Nr. 7
Jakob Ebert (1601)

Textdichter Nr. 2, 3, 5, 6
unbekannter Verfasser

Erste Aufführung
Sonntag Quasimodogeniti,
16. April 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Der Eingangschor der Kantate BWV 67 beginnt mit einem heroischen Hornauftritt und einem fanfarenmässigen Dreiklangsthema, was die Nähe des Sonntags Quasimodogeniti zum nur wenige Tage zurückliegenden österlichen Geschehen unterstreicht. Die für die Jüngergemeinde durchaus schmerzliche Dichotomie zwischen noch präsenter Auferstehungsfreude und zugleich beständig ferner rückender Erinnerung an dieses grundstürzende Geschehen findet sich im Gegensatz zwischen dem gestischen Zuruf «Halt» und der im Dreiklangsraum aufsteigenden Fugenthematik «Im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist» eindrücklich verkörpert. Das federnde und zwischen Chor-Concerto und Fugenelementen wechselnde Geschehen wandelt sich am Ende zu einem schlagkräftigen Dictumschor, der die mahnende Kernbotschaft eindringlich einschärft.

Mit dem Tenor ist auch die folgende Arie einer potentiell sieghaften Stimmlage übertragen. Mit ihren zupackenden Gesten und ihrer knapp gehaltenen Form erinnert sie an Bachs weltliche Glückwunschkantaten der Köthener Zeit. Dank ihrer sprechenden Instrumentalmotivik und ihrer einleuchtenden Tongirlanden legt sie dabei alle theologisch-poetische Versponnenheit ab.

Darauf folgt ein dramatisches Altrezitativ, das die Auferstehung in kraftvollen Bildern der Höllenüberwindung ausdrückt und schliesslich das gemeinsame «Loblied der Zungen» ankündigt, das die attacca anschliessende Liedstrophe «Erschienen ist der herrliche Tag» kraftvoll erschallen lässt. Dieser Einbruch des Gemeindlichen in die kunsthafte Kantatenmusik lässt den alten Osterchoral als verbindlichen gemeinsamen Nenner von Ausführenden und Kirchenbesuchern erscheinen; an solchen Stellen wird deutlich, wie sehr noch Bachs elaborierteste Kompositionen praktische Kirchenmusik mit unmittelbarem Gottesdienstbezug sind.

Nach diesem einhelligen Bekenntnis zur Osterbotschaft wirkt die Fortsetzung des Altrezitativs als rechte «Confutatio» im Sinne einer inneren Prüfung des äusserlich versprochenen Glaubens: Sind doch die Feinde noch immer so mächtig, dass nur die tätige Hoffnung auf den Zuspruch des Höchsten in allem Weltgetümmel bleibt … Mit einem entsprechend kämpferischen Duktus beginnt auch der folgende Ariensatz, der zu den nicht nur von der Form her interessantesten Anlagen des Leipziger Bach gehört. Mitten in die hektischen Akkordbrechungen des Streichorchesters hinein hebt plötzlich der Basssolist an, der begleitet von den entrückten Klängen der Holzbläser und im demonstrativ entschleunigten Dreiertakt den Friedensgruss entbietet und damit das Emmaus-Erlebnis in die Gegenwart holt. Die Erregung der zwischen Kampfgeist, Verzagtheit und Dankbarkeit hin- und hergerissenen Jünger bricht sich in ihren schnellen Einschüben immer wieder Bahn; doch tritt Jesus jedes Mal segnend zwischen die Seinen. Indem Bass und vokale Oberstimmen konsequent voneinander abgesetzt bleiben, werden die Menschenwelt und ihr Fundament Christus als unterschiedliche Sphären erkennbar, die jedoch in einen innigen Dialog treten können, in dem der Heiland mit der sanften Friedensgeste das letzte Wort behält.

Die Liedstrophe «Du Friedefürst, Herr Jesu Christ» fungiert dazu als bekräftigender Schluss von lakonischer Prägnanz und schlichter Überzeugungskraft: Aus dem überschwenglichen Osterjubel sind stille Freude und demütige Hoffnung erwachsen.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

»Halt im Gedächtnis Jesum Christ,
der auferstanden ist von den Toten.«

1. Chor
Mit einem Bibelwort, das an den auferstandenen Christus erinnert, wird die Kantate eröffnet. Bach hat den sowohl auffordernden wie auch abbildenden Doppelsinn der Textaussage «Halt (im Gedächtnis Jesum Christ)» zunächst in kraftvollen Chorrufen und überlangen Liegetönen eingefangen, die in ein triumphierendes Dreiklangsmotiv übergehen, das von den Osterfanfaren inspiriert scheint. Aus der Kombination mit einem aus dem Orchestervorspiel abgeleiteten bewegten Koloraturmotiv («der auferstanden ist von den Toten») resultiert eine ausgedehnte Fugenentwicklung, bevor in einem zweiten Durchlauf beide Textteile nochmals strukturell entsprechend abgehandelt werden. Die Mitwirkung eines Horninstrumentes verleiht dem Satz einen kämpferischen Charakter, wobei die genaue Bedeutung und Gestalt dieses «Zughorns» noch immer Gegenstand von Kontroversen und Rekonstruktionsversuchen ist.

2. Arie (Tenor)

Mein Jesus ist erstanden,
allein, was schreckt mich noch?
Mein Glaube kennt des Heilands Sieg,
doch fühlt mein Herze Streit und Krieg,
mein Heil, erscheine doch!

2. Arie
Die Arie nimmt das Wort des Eingangschors auf. Der Glaube weiss Bescheid über «des Heilands Sieg». Aber noch besteht im Herzen ein Widerstreit zwischen Glauben und Zweifeln. Bach hat der Dimension der Gewissheit mit einem tänzerischen Satzgestus Ausdruck verliehen, während die teils zerrissene Textdeklamation auf sensible Weise dem zweifelnden Fragen und der Sehnsucht nach der Wiederkehr des Auferstandenen Raum gibt.

3. Rezitativ (Alt)

Mein Jesu, heißest du des Todes Gift
und eine Pestilenz der Hölle,
ach, daß mich noch Gefahr und Schrecken trifft?
Du legtest selbst auf unsre Zungen
ein Loblied, welches wir gesungen:

3. Rezitativ
Jesus habe «den Tod vergiftet» und die Hölle «mit Pestilenz» zur Strecke gebracht, heisst es mit einer Anspielung auf Hosea 13, 14 (Lutherbibel), was Bach mit einem Tritonussprung in einen dissonanten Akkord auch harmonisch auskostet. Doch trotz des eben gesungenen Osterjubels ist die Angst immer noch da.

4. Choral

Erschienen ist der herrlich Tag,
dran sich niemand gnug freuen mag:
Christ, unser Herr, heut triumphiert,
all sein Feind er gefangen führt.
Alleluja!

4. Choral
Hier folgt das im Rezitativ erwähnte Loblied aus dem Osterchoral von Nikolaus Herman. Er ist wie ein Edelstein eingefügt zwischen die beiden Rezitative 3 und 5 und verbindet diese miteinander.

5. Rezitativ (Alt)

Doch scheinet fast,
daß mich der Feinde Rest,
den ich zu groß und allzu schrecklich finde,
nicht ruhig bleiben läßt.
Doch, wenn du mir den Sieg erworben hast,
so streite selbst mit mir,
mit deinem Kinde:
Ja, ja, wir spüren schon im Glauben,
daß du, o Friedefürst,
dein Wort und Werk an uns erfüllen wirst.

5. Rezitativ
Eine Wende tritt ein. «Es scheinet fast», die gegen den Glauben kämpfenden Kräfte und Mächte seien überschätzt worden. Möge Christus, der den Sieg erfochten hat, «seinem Kinde» beistehen. Der Glaube sagt, dass Christus sein Wort und Werk erfüllen wird.

6. Arie (Bass) und Chor (Sopran, Alt, Tenor)

Bass
»Friede sei mit euch!«
Sopran, Alt, Tenor
Wohl uns!
Wohl uns, Jesus hilft uns kämpfen
und die Wut der Feinde dämpfen,
Hölle, Satan, weich!
Bass
»Friede sei mit euch!«
Sopran, Alt, Tenor
Jesus holet uns zum Frieden
und erquicket in uns Müden
Geist und Leib zugleich.
Bass
»Friede sei mit euch!«
Sopran, Alt, Tenor
O Herr!
O Herr, hilf und laß gelingen,
durch den Tod hindurch zu dringen in dein Ehrenreich!
Bass
»Friede sei mit euch!«

6. Arie und Chor
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, welche durch den Gruss Jesu: «Friede sei mit euch!» eingerahmt werden. Es nennt drei Hauptpunkte der Oster­botschaft: Jesus hilft im Kampf gegen äussere und innere Feinde. Er leitet zum Frieden und erquickt Leib und Geist. Er hilft den Seinen, durch den Tod hindurch zum ewigen Leben zu gelangen. Bach hat in seinem ungewöhnlich kontrastreichen Satz das nachösterliche Geschehen zugleich geschildert wie in die Gegenwart hineingenommen: Im Dialog zwischen dem auferstandenen Jesus und den dadurch förmlich elektrisierten Jüngern scheint immer auch die für alle Zeiten gültige Friedenszusage auf. Der Gegensatz zwischen der friedvoll-entrückten Holzbläserwelt des Heilands und den wilden Kampfgesten der Streicher und Singstimmen ist dabei von bestürzender Eindringlichkeit. Bach hat diese heraus­ragende Komposition spätestens 1738 für das Gloria seiner Missa in A-Dur BWV 234 neu bearbeitet.

7. Choral

Du Friedefürst, Herr Jesu Christ,
wahr’ Mensch und wahrer Gott,
ein starker Nothelfer du bist
im Leben und im Tod:
drum wir allein
im Namen dein
zu deinem Vater schreien.

7. Choral
Der Schlusschoral ist ein Bekenntnis der Gemeinde zum Friedensbringer Jesus Christus. Nach den aufgewühlten Emotionen des vorangegangenen Tutti-Satzes folgt passend ein verinnerlichter und sparsam gesetzter Bittgesang.

Reflexion

Manfred Koch

«Das Gedächtnis des Göttlichen»

Christen erinnern sich an die Taten des Gottessohnes und an sein Leiden am Kreuz. Dabei wird nicht einfach von Vergangenem erzählt, sondern die Anwesenheit Gottes wird spürbar gemacht. Die Kantate BWV 67 «Halt im Gedächtnis Jesum Christ» setzt musikalisch mit einem Aufrütteln ein: «Halt! – mach’ nicht weiter, sondern besinne dich auf das Wesentliche, erinnere dich an Christus»! Und dieses Um-denken zieht uns in ein wahres Seelendrama hinein. Adam und Eva, sagt man, lebten zeitlos im Paradies, ganz dem jeweiligen Augenblick hingegeben, ohne Sorge um die Zukunft und ohne Gedanken an ihr vergangenes Leben. «Die Erinnerung», schrieb der italienische Maler und Philosoph Alberto Saviano im Jahr 1921, «entstand in dem Augenblick, da der vertriebene Adam die Schwelle des irdischen Paradieses überschritt.» Mit dem Sündenfall sind wir demnach in die Zeit gefallen, wir sind in gewisser Weise gespaltene Wesen, die niemals ganz in ihrer Gegenwart aufgehen, sondern immer auch aus dem heraus leben, was sie in ihrer Vergangenheit gewesen sind und in ihrer Zukunft sein wollen.
So plausibel diese philosophische Interpretation der Paradiesgeschichte ist, sie ist offen­ bar falsch. Zwar kann man sich Adam und Eva kaum als Verfasser von Autobiographien vorstellen, aber gedächtnislos waren sie nicht. Wie hätte Gott sonst Adam mahnen kön­nen, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Und Eva erinnert sich im Gespräch mit der Schlange dieser Aussage, sie zitiert den Herrn: «von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, damit ihr nicht sterbet.» (Gen 3,3) Am Anfang der Menschheitsgeschichte nach dem Alten Testament steht ein Gebot, das im Gedächtnis behalten werden muss. Versagen des Gedächtnisses oder vorsätzliches Ignorieren dessen, was darin festgehalten ist, verstrickt in Schuld.
Die eindringliche Mahnung, sich nicht am Baum der Erkenntnis zu vergreifen, ist im Alten Testament der erste Satz, den Gott überhaupt zum Menschen spricht. «Halt im Gedächtnis» taucht also schon hier, am Urbeginn, auf. Es ist, das kann man ohne Über­treibung sagen, der Fundamentalsatz der ganzen Bibel. Judentum und Christentum sind die beiden Gedächtnisreligionen schlechthin, in beiden ist – wie nirgendwo sonst – Erinnerung religiöse Pflicht. Warum das so ist, lässt sich am besten verstehen, wenn man sich die historischen Entstehungsbedingungen vor Augen führt. Das Judentum verlangte seinen Anhängern den Glauben an einen unsichtbaren Gott ab, der anfangs nicht in prächtigen Kulten an festen heiligen Stätten verehrt werden konnte. Das Bündnis zwi­schen Jahwe und dem Volk Israel – das war der Bund zwischen einem überweltlichen Gott, der auf Erden keinen Tempel hatte, und einem Volk auf Wanderschaft. In den Ent­behrungen und Verführungen, denen das Volk im Niemandsland zwischen den Kulturen Ägyptens und Kanaans ausgesetzt ist, bringt Gott sich immer wieder in Erinnerung als der, «der dich (Israel, M. K.) aus Ägypten herausgeführt hat». Auf dieser Erinnerung basiert das Heilsversprechen. Sie droht indes in einer Umgebung, wo nichts sie gegenwärtig bezeugt, in Vergessenheit zu geraten. Deshalb der im Alten Testament dauernd wieder­ holte Aufruf, Jahwes ursprünglicher Befreiungstat zu gedenken, diesen ungreifbaren Gott nicht zu vergessen, damit er seinerseits sein Volk nicht vergisst. Später, im Babylo­nischen Exil – also nach der Eroberung Jerusalems 586 v. Chr. durch Nebukadnezar – war die Erinnerung an den eigenen Gott inmitten einer feindlichen Umwelt das wich­tigste Überlebensmittel. Diese Grundkonstellation – erinnerndes Festhalten an Gott in einer kulturell andersartigen, meist feindseligen Umwelt – blieb verbindlich für die weitere Geschichte des Judentums. Wie furchtbar die Kulturen, die Juden aufnahmen, oft auf deren Erinnerungstreue reagiert haben, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen.
Auch das Christentum war in seinen Anfängen extrem angewiesen auf das Bewahren einer Erinnerung, für die es in der römisch­hellenistischen Kultur der ersten zwei Jahr­ hunderte keinerlei äussere Anhaltspunkte gab. Christen gedenken der Taten und Leiden des Gottessohnes – zentral natürlich seines Opfers am Kreuz –, aber nicht so, wie man eben von vergangenen Ereignissen erzählt, sondern so, dass in dieser erzählenden Erin­nerung der Gott gegenwärtig, seine Anwesenheit spürbar wird. Deshalb ist das zentrale Ritual des Christentums ein Erinnerungsmahl, das Jesus einst selbst gestiftet hat – «solches thut zu meinem Gedächtnis» –, in dem aber der Erinnerte zugleich auf überwältigende Weise präsent werden soll. Ich bin kein Theologe und werde mich hüten, irgendetwas Wesentliches zu der unendlich diskutierten Frage beitragen zu wollen, wie real die Prä­senz Christi in der Eucharistiefeier zu verstehen ist, ob Brot und Wein also ‹nur› Erinnerungszeichen sind oder ob in ihnen der Heiland den Gläubigen leibhaft­gegenwärtig gegeben ist. Aber man kann sich – unabhängig von theologischen Feinheiten – gut vor­ stellen, wie ungeheuer wichtig es für die ersten Christen war, Jesus so zu erinnern, dass dieser Akt eine höchst intensive Vergegenwärtigung war, eine Erfahrung seiner gött­lichen Kraft, welche die eigene Seele, den Selbstbehauptungswillen, der religiösen Aus­senseiter stärken konnte. Die historisch früheste Abendmahlstelle im Neuen Testament findet sich im 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther (einem Text etwa aus dem Jahr 54 n. Chr.). Sie ist eine Ermahnung an die dortigen Anhänger der neuen Lehre, dieses Mahl konsequent und im richtigen Geist zu feiern, offenbar unter dem Eindruck von Auflösungserscheinungen, die den Fortbestand der Gemeinde im heidnischen Um­feld bedrohten. «Jesus im Gedächtnis halten» – das war eben das, was Halt gab. Auf diese Erfahrung kam und kommt es an. Wer ihn erinnert, spürt, wenn solches Erinnern ihn ganz – an Geist, Seele und Leib – ergreift, dass Jesus sich auch seiner erinnert. Die Abendmahlsfeier ist geeignet, die uralte menschliche Angst vor dem Vergessenwerden zu beschwichtigen; sie ist, wie jedes Gebet, ein Appell an Gott, den Menschen trotz des­sen Unscheinbarkeit und Sündhaftigkeit in sein gewaltiges, schützendes Gedächtnis auf­zunehmen («Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?», Psalm 8)
Wie gelangt der gläubige Christ aber zu einem solch intensiven, von göttlicher Ge­genwart erfülltem Erinnern? Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion wurde die christliche Kirche zu einer institutionellen Macht, die für sich in Anspruch nahm, über die geeigneten Mittel zu verfügen, ein derartiges Gotteserlebnis herbeizuführen. Das Ziel der mittelalterlichen Messe war, Gott/Christus auf jede nur denkbare Weise sinnlich erfahrbar zu machen: durch die Farben und den Goldglanz von Fenstern, Bil­dern und Messgewändern, durch Lichtinszenierungen und Düfte, die den Kirchenraum erfüllten, durch eine erlesene kultische Gebärdensprache, durch das Berühren und Küs­sen von Reliquien usw. Martin Luther hat bekanntlich all dies als äusseren Pomp, ja als teuflische Reizmittel des verderbten Gottesdienstes seiner Zeit kritisiert, ein Sinnenspek­takel, das vom Wesentlichen – dem Hören auf das biblische Wort – ablenke. Aber natür­lich verzichtet auch der protestantische Gottesdienst nicht auf sinnliche Erhebungsmit­tel, ja, er entwickelt ein sehr viel innerlicheres und deshalb vielleicht seelisch noch wirksameres Erhebungsmittel zur höchsten Vollendung: die Musik. Gerade durch Bach ist die Kirchenmusik zu einem emotionalen Kraftwerk sondergleichen worden. Nicht zufällig haben ja Künstler jüdischer Herkunft wie die Geschwister Fanny und Felix Men­delssohn nur scheinbar im Scherz gesagt, sie seien eigentlich nicht zum Christentum, sondern zu Johann Sebastian Bach übergetreten.
Vor diesem Hintergrund einer protestantischen Emotionalisierung des Gedächtnis­ses ist auch unsere Kantate zu betrachten. Sie ist sehr viel mehr als eine Vertonung des christlichen Fundamentalsatzes, eine Ergänzung seines ohnehin eingängigen Sinns. In­ dem das Wort Musik wird, entfaltet es eine affektive Wirkungskraft, welche die Sprache übersteigt. Charakteristisch ist schon der Einsatz mit dem hintereinander dreimal wie­derholten «Halt», bevor klar ist, was hier gehalten werden soll, ja dass es überhaupt um ein Behalten geht. Die Kantate setzt musikalisch ein mit einem Innehalten, das zugleich ein Aufrütteln ist: ‹Halt! – mach’ nicht weiter so im alltäglichen Leben, sondern besinne dich auf das Wesentliche, erinnere dich an Christus.› Und dieses Um­denken ist kraft der musikalischen Gestaltung kein blosser Wechsel des Gegenstands. Wir werden stattdes­sen in ein wahres Seelendrama hineingezogen. Dreimal greift die Erinnerung aus und verliert doch wieder das erhoffte Gut. Der einfache Paulus­-Satz «Halt im Gedächtnis Jesum Christ» erhält durch die Musik szenische Dynamik: auf die Geste des Zugriffs folgt der Entzug – erneute Zuwendung und wieder Verlust. Musikalisch finden wir uns als Zuhörer direkt in die Bewegung von Erinnerung und Vergessen hineinversetzt. Erst beim vierten Mal ist Jesus gleichsam im Gedächtnis angekommen. Und wenn er hier jubilatorisch als der Auferstandene begrüsst wird, so ist seine Bewegung zwischen Tod und Wiederkehr nun eins mit der Bewegung der Erinnerung zwischen Vergessen und Wiedererlangung des Vergessenen.
Wie gefährdet das Gedächtnis des Gläubigen ist, verdeutlicht anschliessend die Tenor­arie. Eine Erinnerung, welche die Osterbotschaft nur kennt, die also blosses Wissen ist, hat nicht die präsentische Kraft, die alle Zweifel überwindet. Diese Kraft kommt, wie das Alt-­Rezitativ ankündigt, dem «Lied» zu, das dann mit dem Choral «Erschienen ist der herrliche Tag» selbst herrlich erscheint. Der Choral ist, mit der schönen Formulierung im Programmheft, der «Edelstein» zwischen den Zweifel­-Rezitativen 3 und 5, er ist die halt­ gebende Mitte der ganzen Kantate. Denn wieder kommt in Anschluss Unsicherheit auf, und wieder ist die Auferstehungsgeschichte eng verknüpft mit dem Erinnerungsdrama in der Seele des Gläubigen. Alle, die Christus im Gedächtnis fassen wollen, sind in der Situation des ungläubigen Thomas, ja stärker als er von Unruhe und Irritation betroffen, denn seine Augen haben den Heiland gesehen, der nachgeborene Gläubige aber muss ihn innerlich vergegenwärtigen – gemäss dem Jesus­Wort: «Selig sind, die nicht sehen und doch glauben». Die Zwiesprache zwischen Chor und Bass in der sechsten Strophe ist im Erinnerungsdrama die Spannung zwischen der Nervosität eines von Ablenkungen, Sor­gen, Ängsten und Hoffnungen umgetriebenen Alltags-­Bewusstseins auf der einen Seite und der Beruhigung in einem allumfassenden, übergreifenden Gedächtnis des Wahren auf der anderen. Ist die Rede von Christus als «Friedensfürst» und «Nothelfer» dann so  zu verstehen, dass alles Beunruhigende, die Anfechtungen und Misshelligkeiten, nun zurückgelassen, vergessen werden? Oder ist das hektische Umgetriebensein, das die Chor­ und Orchesterpartien vorführen, ‹aufgehoben› in der höheren Ruhe des religiösen Eingedenkens – aufgehoben in dem schönen schwäbischen Doppelsinn des Wortes, der Bewahren und Höher­-Heben meint? Ich möchte den Schluss der Kantate in diesem Sinn verstehen. Ihr letztes Wort ist «schreien». Die Not, die Widersprüche und die Spannun­ gen des Lebens sind nicht beseitigt, sondern versammelt in einem Gedächtnis, das zugleich als Gedächtnis des Höchsten ihren Streit zu schlichten vermag. Trifft diese Deutung zu, dann gilt auch für unsere Kantate der schöne Memoria­-Satz von Jean Paul: «Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.» Vielleicht mit der Akzentverschiebung, dass die Erinnerung das Medium ist, über das wir immer wieder zurückgelangen können ins Paradies. Als Sohn eines Pfarrers und Organisten wusste Jean Paul gut, was es heisst, im protestantischen Musikgottesdienst Christus im Gedächtnis wiederzuerlangen.
Lassen Sie mich, da ich ja Germanist bin, schliessen mit einem Hinweis auf den bedeutendsten Erinnerungsdichter der deutschen Literatur: Friedrich Hölderlin. Die zwei letzten grossen Gedichte, die Hölderlin vor seinem Zusammenbruch und der Ein­lieferung in die Tübinger Psychiatrie 1806 geschrieben hat, tragen die Titel «Andenken» und «Mnemosyne» (Mnemosyne heisst Erinnerung, ist in der griechischen Mythologie die Mutter der Musen, der Entstehungsgrund also der Künste). Fünf Jahre zuvor hatte er «Brot und Wein» vollendet, sein berühmtes Abendmahlgedicht, das auf rechtgläubige Christen allerdings eher befremdlich wirkte und bis heute noch wirkt. Denn der Gott, der hier ins Gedächtnis gerufen wird, ist der griechische Weingott Dionysos. Aber auch Christus taucht am Ende des Textes auf, er ist für Hölderlin der «Bruder» des Dionysos, genauer: ein Halbbruder, gezeugt vom göttlichen «Vater» (zu dem Zeus und der biblische Gott verschmelzen) mit jeweils einer anderen Frau. Christus und Dionysos sind die bei­ den Vermittlungs­-Götter zwischen Himmel und Erde, die von sterblichen Müttern aus­ getragen wurden. Sie haben beide den Tod an sich selber erfahren und sind wiederaufer­standen. Und sie sind, nachdem sie mitten unter Menschen gelebt haben, von ihnen gegangen mit der Verheissung, einst wiederzukommen und ein himmlisches Fest des Friedens und der zwischenmenschlichen Versöhnung zu stiften. Darin rücken sie für Hölderlin zusammen. Deshalb kann er an ihren Namen und den Erzählungen von ihnen seine Kritik der Gegenwart festmachen. Denn wir, die Menschen der Moderne, leben nach Hölderlin in der Zeit ihrer extremsten Abwesenheit, einer Epoche zunehmender Vergessenheit des «Göttlichen», wie Hölderlin es religionsübergreifend nennt. In seinem Gedicht «Der Archipelagus» stellt Hölderlin schon im Jahr 1800 die Gebrechen einer entfesselten Wachstumsgesellschaft heraus, in der die Menschen einander vor allem als Wirtschaftssubjekte in Konkurrenzkämpfen begegnen und sich darin aufreiben, ohne letztlich einen Sinn in diesem «Treiben» ausmachen zu können:

«Aber weh! Es wandelt in Nacht, es wohnt, wie im Orkus,
Ohne Göttliches unser Geschlecht. Ans eigene Treiben
Sind sie geschmiedet allein, und sich in der tosenden Werkstatt
Höret jeglicher nur und viel arbeiten die Wilden
Mit gewaltigem Arm, rastlos, doch immer und immer
Unfruchtbar, wie die Furien, bleibt die Mühe der Armen.»

In dieser Nacht der Sinnverfinsterung, in der die moderne Menschheit nach Hölder­lin lebt, gilt es, das «Gedächtnis des Göttlichen» wachzuhalten: «Heilig Gedächtnis (…), wachend zu bleiben bei Nacht», heisst es in «Brot und Wein». Gedächtnis des Göttlichen, das meint, wie Hölderlin in einem Aufsatz erläutert, das Bewusstsein dafür zu bewahren, dass «ein mehr als mechanischer Zusammenhang» zwischen den Menschen besteht. Man könnte auch sagen: ein mehr als funktional­ökonomischer Zusammenhang. Die Hybris grenzenloser Naturausbeutung und unendlicher Leistungssteigerung im beschleunigten Wirtschaftswettbewerb («und viel arbeiten die Wilden»!) soll ein Ende haben zugunsten einer Gesellschaft, die sich insgesamt wieder als Gemeinde, als solidarische Gemein­schaft, verstünde. Solche Gemeinschaftlichkeit durch Erinnerung an die Vereinigungs­kraft religiöser Weltbilder zu befördern – das war für Hölderlin die Aufgabe seiner Poe­ sie. Deshalb nannte er seine letzten Gedichte vor dem Ausbruch der Krankheit «Gesänge». Es sind Gesänge, die der Dichter, gleichsam als Vor­Sänger, jetzt noch alleine anstimmt, die aber zu Gemeindegesang werden sollen, so dass alle die Anwesenheit von Dionysos und Christus spüren würden, jenen «Freudegöttern», die Menschen in rauschhafter Ent­zückung und Liebe miteinander vereinigen. Dass dies geschieht, wo grosse Kunst ein Publikum ergreift, wo Gruppen von Menschen sich gemeinschaftlich auf ein Höheres, «mehr als Mechanisches» besinnen, kann man beim Hören der Kantate «Halt im Ge­dächtnis Jesum Christ» wieder erfahren. Vielleicht ist Hölderlins rührend unrealistische Hoffnung, wir alle würden einst «Gesang» werden, deshalb doch nicht ganz grundlos. Ich zitiere zum Schluss die wunderbaren, rätselhaften Verse aus Hölderlins Gesang «Friedensfeier», in meinen Augen die schönste poetische Entsprechung zu jener musika­lischen Friedensstiftung in der unruhigen Seele, die das Ende unserer Kantate prägt:

«Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.»

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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