Jesus schläft, was soll ich hoffen
BWV 081 // zum 4. Sonntag nach Epiphanias
für Alt, Tenor und Bass, (Sopran im Schlusschoral), Flauto dolce I+II, Oboe d’amore I+II, Streicher und Continuo
Die von Bach vertonten Libretti zu den Sonntagen nach Epiphanias sprechen nahezu sämtlich von Verlassenheit, Herzensangst und Resignation. Die für das christliche Heilsverständnis grundlegende Erfahrung einer auf unabsehbare Zeit hinausgeschobenen Wiederkehr des Erlösers wird einmal im Kirchenjahr mit schwer erträglicher Konsequenz Realität: auf die freudenreichen Tage der Geburt und Erscheinung des Herrn folgt mit schockierender Eile die von Vorahnungen der Passion und des eigenen Sterbens durchzogene Erkenntnis, erneut auf die eigenen schwachen Kräfte zurückgeworfen zu sein. In diesen Texten wird unablässig das Verlangen nach Nähe und Herzensgewissheit beschworen, das sich im Bild des verlorenen oder schlafenden Jesus verdichtet. Dies korrespondiert der schmerzlichen Einsicht, wie trübsalsvoll der eigene Weg zum Himmel bleibt.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Guro Hjemli
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Fanny Tschanz
Viola
Susanna Hefti
Violoncello
Martin Zeller
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe d’amore
Luise Baumgartl, Stefanie Haegele
Flauto dolce
Armelle Plantier, Priska Comploi
Orgel
Rudolf Lutz
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Rolf Dubs
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
18.01.2008
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1, 2, 3, 5, 6
Unbekannt
Textdichter Nr. 4
Matthäus 8,26
Textdichter Nr. 7
Johann Franck, 1653
Erste Aufführung
30. Januar 1724
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die als Teil von Bachs erstem Leipziger Jahrgang am 30. Januar 1724 in St. Thomas erstmals aufgeführte Kantate «Jesus schläft, was soll ich hoffen?» passt sich diesem Bild unüberhörbar ein, wobei sich der Lesetext konkret auf Jesu verspätetes Eingreifen während eines Sturms auf dem See Genezareth bezieht. Bach erwies sich dabei als höchst sensibler Leser seiner Vorlage. Da das Bibelwort in doppelter Hinsicht den Verzicht auf einen Chor nahelegte – neben der einer Schlafszenerie zukommenden Stille wird auch ausdrücklich von einem einzelnen «Ich» gesprochen – wählte er für seinen Eingangssatz die Form einer Arie und mit dem Alt jene solistische Stimmlage, die bei ihm oft der Verkörperung von Seelenregungen dient. Obwohl mit Blockflöten und Streichern pastoral besetzt, handelt es sich kaum um eine jener idyllischen Ruheszenen, wie sie zahllose Opern und Weihnachtskantaten des Barock schmücken. Weit entfernt von unbeschwertem Vertrauen, scheint die düster-lastende Musik fast nur aus Seufzern zu bestehen. Dass die häufigen Pausen der Oberstimmen immer wieder vom Continuo überbrückt werden, lässt unwillkürlich an das Herz des Beters denken, das angesichts der vom leeren Klang angedeuteten Abwesenheit Jesu sorgenvoll klopft.
Während andere Komponisten das Bedeutungsfeld eines Seesturmes allein zur Konzeption einer dramatischen Szene genutzt hätten, entschieden sich Bach und sein unbekannter Textdichter für einen zugleich auf das Innere der Seele gerichteten Ansatz. So ist zwar auch in der Tenorarie von «schäumenden Wellen» die Rede, doch sind es mit «Belials Bächen» eher die höllischen Anfechtungen der Sünde sowie die Versuchungen der Todesangst, die hier als «Trübsalswinde» auf die Christen einstürmen. Das folgende Arioso leitet dann über einem sanften und haltgebend gebundenen Continuoritornell die Wende ein: Es sind in gut lutherischer Tradition die «Kleingläubigen» selbst, die sich durch mangelndes Vertrauen in Gottes Wort in Not bringen. Es ist deshalb auch mehr ein eifernder denn ein liebender Jesus, der in der Arie «Schweig, aufgetürmtes Meer» den Sturm (Oboen) und die Wellen (Streicher) stillt, um den Menschen als Gottes auserwähltes Kind zu behüten. Bach hat dafür eine heftig auffahrende Musik gesetzt, in der Jesu Macht sich zeigt, das tosende Meer mit starker Hand bis hin zur lang ausgehaltenen Reglosigkeit zu glätten. Dass Bach in der nur ein halbes Jahr später komponierten Kantate BWV 178 eine Musik nahezu identischer Setzart auf den Text «Schweig, schweig nur, taumelnde Vernunft» komponierte, legt auch für unsere Kantate eine geistlich-moralische Interpretation der Seesturm-Metapher nahe. Es ist dann passenderweise der Alt, der wie ein bekehrter Thomas mit der Erkenntnis der Hilfe Jesu den thematischen Bogen der Kantate schliesst. Ein besserer Schlusschoral als die Strophe «Unter deinen Schirmen, sind wir vor den Stürmen, aller Feinde frei» aus Johann Francks bekanntem Lied «Jesu, meine Freude» hätte dafür wohl kaum gefunden werden können.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Arie (Alt)
Jesus schläft, was soll ich hoffen?
Seh ich nicht
mit erblasstem Angesicht
schon des Todes Abgrund offen?
2. Rezitativ (Tenor)
Herr, warum trittest du so ferne?
Warum verbirgst du dich zur Zeit der Not,
da alles mir ein kläglich Ende droht?
Ach, wird dein Auge nicht durch meine
Not beweget,
so sonsten nie zu schlummern pfleget?
Du wiesest ja mit einem Sterne
vordem den neubekehrten Weisen
den rechten Weg zu reisen.
Ach, leite mich durch deiner Augen Licht,
weil dieser Weg nichts als Gefahr verspricht.
3. Arie (Tenor)
Die schäumenden Wellen von Belials Bächen verdoppeln die Wut.
Ein Christ soll zwar wie Wellen stehn,
wenn Trübsalswinde um ihn gehn,
doch suchet die stürmende Flut
die Kräfte des Glaubens zu schwächen.
4. Arioso (Bass)
Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?
5. Arie (Bass)
Schweig, aufgetürmtes Meer!
Verstumme, Sturm und Wind!
Dir sei dein Ziel gesetzet,
damit mein auserwähltes Kind
kein Unfall je verletzet.
6. Rezitativ (Alt)
Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort,
mein Helfer ist erwacht,
so muss der Wellen Sturm,
des Unglücks Nacht
und aller Kummer fort.
7. Choral
Unter deinen Schirmen
bin ich für den Stürmen
aller Feinde frei.
Lass den Satan wittern,
lass den Feind erbittern,
mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
ob gleich Sünd und Hölle schrecken,
Jesus will mich decken.
Rolf Dubs
«Gute und schlechte Eliten»
Die biblische Geschichte von der Stilllegung des Seesturms und ihre Bedeutung für die Menschenführung
Die Kantate «Jesus schläft, was soll ich hoffen?» wurde – was nach langer Unsicherheit aufgrund eines um 1970 in der ehemaligen Kaiserlichen Bibliothek in St. Petersburg gefundenen Heftes mit dem Titel «Texte zur Leipziger Kirchen-Music» heute als gesichert gilt – für den vierten Sonntag nach dem Epiphanias, den 30. Januar 1724, komponiert. Sie entstand im ersten Leipziger Amtsjahr von Johann Sebastian Bach. Der Dichter des Librettos, das weitgehend an das Evangelium des Sonntags anknüpft, ist unbekannt und stützt sich auf die Beschreibung der Stilllegung des Seesturmes, wie sie in den Evangelien von Matthäus, Lukas und Markus dargestellt wird. Berichtet wird von einer stürmischen Seefahrt, die Jesus und seine Jünger in Gefahr brachte, und während der er einschlief. Sein Schlummern, das als Abwesenheit aufgefasst wird, ängstigt die Jünger. Sie fürchten um ihre Existenz. In Anlehnung an den zehnten Psalm wird die Ferne des Herrn beklagt: «Herr, warum trittst du so ferne? / Warum verbirgst du dich zur Zeit der Not, / da alles mir ein kläglich Ende droht? / (…).» Die Gefahr wird mit den schäumenden Wellen von Belials Bächen beschrieben, welche die menschliche Seele in den Abgrund der Hölle zu reissen drohen. Zwar sollten Christen in solchen Situationen wie Felsen stehen und zu Widerstand fähig sein, auch wenn die Wellen die Kräfte des Glaubens schwächen. In der Gefahr und ihrer Not weckten die Jünger Jesus und baten um Hilfe. Darauf antwortete er ihnen nach Matthäus: «Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?» oder nach Lukas: «Wo ist euer Glaube?» In der Kantate wird die Frage nach dem Matthäusevangelium als Vox Christi in einer der Fuge ähnlichen Form eindringlich hervorgehoben, und Jesus tritt als Retter auf: «Schweig aufgetürmtes Meer! / Verstumme, Sturm und Wind!» Der Dank der Geretteten folgt: «Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort, / (…) / und aller Kummer fort.» und die Kantate schliesst mit der zweiten Strophe aus dem von Johann Frank gedichteten Kirchenlied «Jesu, meine Freude», mit welchem die Geretteten ihren Dank und die Gewissheit, dass Jesus hilft, aussprechen.
Nach einer ersten Auseinandersetzung mit diesem Text ist mir sehr rasch bewusst geworden, dass er für tiefgläubige Menschen eine ganz andere Bedeutung hat als für lebenszugewandte, moderne Menschen, die zwar behaupten, bis zu einem gewissen Grad gläubig zu sein, dies aber mehr in einem stärker auf sich und seine eigenen Interessen gerichteten Verständnis. Interessanter und problem- geladener ist die zweite Gruppe von Menschen. Deshalb soll das Schwergewicht der Ausführungen darauf gelegt werden.
Wer früher häufig die Gelegenheit hatte, in kommunistischen Ländern Kirchen in abgelegenen Gebieten zu besuchen oder heute an Gottesdiensten in armen Gegenden in Entwicklungsländern teil- zunehmen, war und ist immer wieder überrascht, welch tiefen Glauben und welche Hoffnung die Menschen dank ihres christlichen Glaubens in sich tragen. Sie hoffen im Gebet auf bessere Zeiten, wobei sich diese Hoffnungen in zwei Richtungen entwickeln können: Entweder weckt ihr Glaube ihre Widerstandskraft, indem sie sich bemühen, ihr Leben trotz allem Ungemach auf ihre christlichen Grundsätze hin auszurichten und einen Beitrag zur Befreiung der Menschen aus Armut und Unterdrückung zu leisten. Oder aber ihr Glaube verleitet dazu, zu erwarten, dass ihnen andere dem christlichen Gedankengut verpflichtete Institutionen und Personen helfen, die christlichen Ideale wie Gerechtigkeit und Chancen für die persönliche Entwicklung umzusetzen. Diese Menschen wollen geführt sein, fürchten sich vor dem Abseitsstehen von gutmeinenden Menschen und wenden sich vor allem dann, wenn sich die biblischen Vorstellungen nicht verwirklichen, Führern – auch christlichen Leitpersonen – zu, welche die Botschaft der Bibel dogmatisieren, die Gesellschaft polarisieren und das friedliche Zusammenleben aller Menschen unendlich erschweren. Überall dort, wo Menschen auf biblische Wunder hoffen, selber aber inaktiv bleiben und warten, bis jemand hilft, kann keine Entwicklung stattfinden. Deshalb darf das Verhalten der Jünger im Sturm nicht wegweisend sein. Gerade dort, wo Dogmatismus und Polarisierung bereits alltäglich sind, bräuchte es Widerstand: Leute, die den Mut haben, sich aufzulehnen. Geeignet dafür ist aber nur jemand, der weder opportunistisch noch egoistisch ist, sondern der in seinem Glauben tief verankert ist und an mehr denkt als nur an sich.
Aber wie steht es heute um den Glauben? Wer denkt noch an die Gesetze Gottes? Und vor allem: Wer weiss nicht nur, was das Christentum will, sondern wer verhält sich im Sinne göttlicher Gesetze? Selbstverständlich gehen Puristen der empirischen Forschung solchen Fragen nach. Sie sagen uns in letzter Zeit, dass die Gläubigkeit der Menschen wieder zunimmt, nicht im institutionellen Rahmen, sondern im persönlichen Reflektieren. Nur: Warum wird das Verhalten der Menschen untereinander immer kleinlicher? Warum sind immer weniger Leute bereit, etwas für die Gemeinschaft zu tun? Theoretisch ist die Antwort rasch gegeben: Die Werterziehung muss verstärkt und erweitert werden, wobei – wie in vielen Fällen – auch diese Aufgabe auf die Schule abgewälzt wird. Obschon seit mehreren Jahrzehnten mit vielen Modellen Schulversuche im Bereich der Werterziehung (Religions- oder vielfältige Formen von Ethikunterricht) durchgeführt werden, bleiben die Erfolgsergebnisse eher bescheiden. In den meisten Fällen nehmen die Kinder und Jugendlichen religiöses und moralisches Wissen auf, das aber nur wenig positiven Einfluss auf das konkrete und tägliche Verhalten hat. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die religiösen und ethischen Werte im Elternhaus aufgebaut und mit dieser Erziehung schon früh im Vorschulalter begonnen werden muss. Wie soll dies aber angesichts der zunehmenden Gleichgültigkeit vieler Eltern in Glaubens- und Wertfragen geschehen? und einzelne empirische Puristen tragen zu Glaubenszweifeln noch bei, wenn sie in Untersuchungen feststellen, dass Leute, welche intensiv für das Überwinden einer Krankheit oder – im Falle von Kinderlosigkeit – für eine Empfängnis beten, ihr Ziel mit etwa der gleichen Wahrscheinlichkeit erreichen wie Leute, die dafür nicht beten.
Solche Feststellungen sind erschreckend und bedrückend zugleich. Sie behalten ihre Bedeutung nur so lange, als es gut geht. Unter schwierigen Lebensumständen werden Hilfen und Trost im Glauben gesucht, was der Choral in tiefsinniger Weise besingt: «Unter deinen Schirmen / bin ich für den Stürmen / aller Feinde frei. / Lass den Satan wüttern, / lass den Feind erbittern, / mir steht Jesus bei. / Ob es itzt gleich kracht und blitzt, / ob gleich Sünd und Hölle schrecken, / Jesus will mich decken.» Soll und kann man auf Jesus hoffen und erwarten, dass alles immer gut wird? Ist Passivität im Glauben das Richtige? Von dieser Frage aus lässt sich der Text der Kantate mit der heute wohl wichtigen Problematik des menschlichen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Entwicklung in unserer Zeit angehen. Mit der Frage «Jesus schläft, was soll ich hoffen?», der Angst, in den Abgrund zu fallen und der blossen Erwartung, Jesus werde leiten, wird die Frage nach der Initiative der einzelnen Menschen und ihrer Führung durch Glaubenssätze und prägende Persönlichkeiten bedeutsam. Oder pragmatischer und politischer ausgedrückt: Brauchen wir in unserer Gesellschaft Eliten, die führen, und von welchen Werten sollen sich diese Eliten leiten lassen? Die Antwort der Kantate ist klar: «Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort, / mein Helfer ist erwacht, / so muss der Wellen Sturm, des Unglücks Nacht / und aller Kummer fort.» Die Hoffnung auf und die Erwartung an die Führung sind gross. Sie bedeuten aber nicht Passivität, sondern die Frage aus dem Matthäusevangelium «Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?» lässt sich als Herausforderung interpretieren, als Christ wie ein Felsen in der Brandung zu stehen und gegen das Schlechte zu wirken.
Wer jedoch heute für Führung und Elite eintritt, folgt nicht dem Zeitgeist, der sich mit Forderungen wie Basisdemokratie und Mitbestimmung in allen Bereichen charakterisieren lässt. Solche Ideen liessen sich bestenfalls verwirklichen, wenn das menschliche Zusammenleben durch gemeinsam akzeptierte Werte geprägt würde. Unter dieser Idealvorstellung lebte das Urchristentum. Die heutige Gesellschaft sieht aber anders aus. Am treffendsten wird sie von amerikanischen Soziologen beschrieben: Merkmal des Verhaltens vieler Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen ist der Focus on Self, das heisst, immer mehr Menschen sehen die Probleme der Gesellschaft nur noch aus ihrer persönlichen Sicht und beurteilen mögliche Lösungen immer häufiger nur noch aus der Sicht ihrer persönlichen Wertvorstellungen und Ziele. Deshalb verstehen sie es nicht mehr, mit den vielen Zielkonflikten umzugehen und nach optimalen Lösungen zu suchen. Sie verschreiben sich den ihren Vorstellungen entsprechenden Patentlösungen und tragen damit zur weiteren Polarisierung der Gesellschaft bei. Zu- dem nimmt die Bereitschaft der Einzelnen bei der Erfüllung gemeinschaftlicher Arbeiten ab, zugleich steigt aber die Erwartungshaltung an alle andern und an die staatliche Gemeinschaft, für sie etwas zu leisten.
Die mit dieser Entwicklung verbundenen Probleme lassen sich nicht mehr basisdemokratisch lösen, sondern es bedarf einer Elite, welche fähig ist, Probleme in differenzierter Weise zu erkennen und zu nachhaltigen Lösungen beizutragen.
Die Forderung nach Eliten ist jedoch sehr zu differenzieren. Der Begriff Elite wird vom lateinischen Wort eligere, electico abgeleitet und bedeutet auserlesen und Auserlesene. Verwendet wird er zur Charakterisierung von Menschen, welche eine auffallende öffentliche Anerkennung beanspruchen und sie dank ihres persönlichen Verhaltens erhalten oder dank einer besonderen Machtkonstellation aufbauen können. Allerdings hängt diese öffentliche Anerkennung nicht nur vom persönlichen Verhalten und einer günstigen Machtkonstellation allein, sondern auch davon ab, was die Bevölkerung als elitär bestimmt. Deshalb lassen sich Eliten nie wertfrei charakterisieren, sondern ihre Bestimmung beruht immer auf einem Wert- urteil, was dazu führt, dass zwischen guten und schlechten Eliten zu unterscheiden ist.
Angesichts der Probleme in unserer Gesellschaft und der damit verbundenen Zielkonflikte zählen nur solche Menschen zur not- wendigen Elite, welche erstens willens und fähig sind, in ihren jeweiligen lebens- und Berufsbereichen höchste Leistungen zu er- bringen, welche, zweitens, in der Lage sind, Leadership-Aufgaben zu übernehmen, das heisst andere Menschen für reflektierte Leistungen zu motivieren, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie in ihrer Tätigkeit und in ihrem Verhalten herauszufordern, um gemein- sam etwas zur Lösung von Zielkonflikten beizutragen, und welche sich, drittens, durch menschliche Grösse, Empathie, Bescheidenheit und Überlegenheit auszeichnen. Nicht zu den Eliten gehören oder nur vermeintliche Eliten sind demzufolge Menschen, die sich allein von der Herkunft, vom Stand oder ihrem Wohlstand her zu den Bes- seren zählen, sowie die Gruppe der Machtmenschen, welche ohne jegliche Rücksichtnahme auf Ziele, Wünsche und Ansprüche anderer Menschen und ohne legitimierte Leistungen durch geschicktes Machtverhalten und Opportunismus ihre Herrschaft durchzusetzen versuchen. Dazu zählen nicht nur Despoten, sondern auch Politikerinnen und Politiker sowie Manager, die sich einzig und allein an persönlichen Machtansprüchen oder kurzfristigen Finanzinteressen orientieren und nur mit dem Ziel der Stärkung der eigenen Machtposition tätig werden – und dies in der wirren Vorstellung, auf diese Weise immer zur Elite zu gehören.
Mit der Erwartung, Angehörige der Elite müssten sich durch menschliche Grösse, Empathie, Bescheidenheit und Überlegenheit auszeichnen, gelangt man in die Nähe der Umschreibung von Menschenbildern, nicht zuletzt auch eines christlichen Menschenbildes. leider zeigt sich insbesondere in der pädagogischen Forschung, dass man, wenn man Menschenbilder dem Entwurf von Erziehungs- und Bildungszielen oder politischen und wirtschaftlichen Verhaltenskodices zugrunde legen will, sehr schnell in die Umschreibung von Verhaltensvorstellungen entgleitet, welche nicht selten roman- tischen Vorstellungen entsprechen, oft nur äussere Verhaltensanweisungen gegen Missbräuche aller Art und meistens nicht konsistent begründet sind. Ein typisches Beispiel dafür ist etwa die «wirtschafts- ethische» Forderung einer kirchlichen Institution, welche besagt, dass ein Lohnsystem nur gerecht sei, wenn das höchste Gehalt in einer Unternehmung nicht mehr als 40-mal höher sei als der tiefste lohn. Selbst wenn man sich vehement gegen die Exzesse einzelner Managerlöhne wendet, entbehrt diese Vorstellung jeglicher psycho- logisch begründeten, ökonomischen Realität, und es fehlt ihr auch jede Form von Legitimierung. leider zeigen sich auch bei den heute vor allem in grossen Unternehmungen üblich gewordenen Codes of Conduct oder Codes of Ethics die gleichen Probleme. Sie regeln viele Äusserlichkeiten, geben Verhaltensvorschriften gegen Missbräuche und ermahnen in allgemeiner Form gegen menschliches Fehlverhalten. Was ist bei diesen Gegebenheiten zu tun?
Idealerweise müssten sich wieder alle Menschen auf die von Aristoteles und seinen Nachfolgern entwickelten vier Kardinaltugenden besinnen:
• die Klugheit als die Fähigkeit zu erkennen, was ich hier und jetzt verantwortlich zu tun habe;
• die Tapferkeit als die Fähigkeit, sich von dem in der Klugheit als richtig Erkannten nicht durch eigene Ängstlichkeit abbringen zu lassen;
• die Mässigkeit als die Fähigkeit, von dem klug als richtig erkannten und tapfer gegen die eigene Ängstlichkeit Festgehaltenen nicht durch die eigene Begehrlichkeit und Launenhaftigkeit abbringen zu lassen (Zuverlässigkeit);
• die Gerechtigkeit als Fähigkeit, sich nicht nur gegenüber sich selbst richtig zu verhalten, sondern auch andere in ihren Eigenschaften gelten zu lassen und das ihnen Eigene (grosszügig) zu gewähren.
Liessen sich alle Menschen von diesen Kardinaltugenden leiten, so erübrigten sich Eliten, und eine basisdemokratische Ordnung im Sinne des Urchristentums wäre möglich. Und die Herausforderung des Matthäusevangeliums «Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?» würde hinfällig. Von diesem Ideal sind wir jedoch weit entfernt, sodass Eliten gebraucht werden, welche die menschliche Gemeinschaft führen. Ihr dienstbar sind sie als gute Eliten aber nur, wenn sie bewusst Verantwortung übernehmen. Ursprünglich heisst Verantwortung: für etwas einstehen, etwas vertreten und sich recht- fertigen. Heute könnte man sagen: Ich stehe zu meinen Ideen und meinem Verhalten, stelle mich davor, weil ich dahinter stehen kann und bereit bin, jedes Verhalten offen zu legitimieren. Ich will mit meinem Denken und Tun meinen Mitmenschen gegenüber verantwortlich sein, es aber nicht nur so verstehen, dass es in der Öffentlichkeit und in den Medien gut ankommt. Sondern ich bin auch verantwortlich vor meinem eigenen Gewissen und – als Christ – vor Gott, der mich leitet. Verantwortliches Denken und Handeln beruht auf gewissenhaftem handeln. Offen bleibt aber die Frage, wie weit meine Verantwortung als Angehöriger der Elite reicht. Eine allgemeingültige, pragmatische Antwort gibt es nicht. Allerdings versucht Pater Albert Ziegler in seinem 1994 erschienenen Buch «Verantwortungssouveränität» die Problematik mit einem kleinen Beispiel zu verdeutlichen: «Ich werfe einen Stein in das Wasser eines Sees. Der Steinwurf bewirkt einen Kreis im Wasser, der seinerseits wieder weitere Kreise hervorruft, die immer schwächer werden und endlich in der Ferne (fast) verschwinden. Bis zu welchem Kreis muss ich meinen Steinwurf verantworten?» Die einen meinen, dass ich für alle Kreise verantwortlich bin. Damit übernehmen sie aber eine Verantwortung, die sie nicht tragen können. Eine so umfassend verstandene Verantwortung kann niemand tragen; man bekäme Angst und würde handlungsunfähig. Die andern sagen, dass sie für keinen einzigen Kreis verantwortlich sind. Dies wäre verantwortungslos. Deshalb ist immer wieder nach einem Mittelweg zwischen der Maximalforderung und der Verantwortungslosigkeit zu suchen. Wie findet aber die gute Elite im alltäglichen Denken, Entscheiden und handeln diesen Mittelweg?
Voraussetzung dazu bildet die Gewissenserforschung: Alle Menschen haben ein Gewissen, das je nach der Wirksamkeit ihrer religiösen oder der allgemeinen Werterziehung im Hinblick auf er- wünschte Ziele besser oder schlechter ist. Diese Erziehung ist umso wirksamer, je früher sich Kinder mit moralischen Werten auseinandersetzen und je vertiefter ihr religiöses und ethisches Verständnis ist. Von einer guten Elite ist deshalb zu fordern, dass sie fähig ist, aufkommende ethische Probleme eigenständig zu reflektieren und eigene Gewissensentscheide vor allem mit davon betroffenen Menschen zu diskutieren, um sich daraus der Verantwortung ihrer Entscheidungen und Massnahmen bewusst zu werden und sie letztlich legitimieren zu können. Dies setzt Persönlichkeitseigenschaften voraus, welche für die gute Elite unabdingbar sind:
• Offenheit: Wer nicht offen ist, kann nicht kommunizieren und zum Reflektieren angeregt werden.
• Ehrlichkeit: Wer nicht ehrlich ist, kann nicht offen sein.
• Berechenbarkeit: Wer nicht berechenbar ist, schafft keine guten Grundlagen für Vertrauen.
• Verlässlichkeit: Verantwortung übernehmen nur verlässliche Personen.
• Glaubwürdigkeit: Verlässlich können nur glaubwürdige Personen sein.
Diese Persönlichkeitsmerkmale charakterisieren also die gute Elite. Wissenschaftlich sind sie zwar spekulativ. Sie eignen sich aber wenigstens zur Reflexion über das eigene Denken und Tun.
Damit hat sich der Kreis geschlossen: «Jesus schläft, was soll ich hoffen?» deutet auf Hilflosigkeit hin. «Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?» ist die Herausforderung, an etwas zu glauben, tätig zu werden und für seine Ideen und Ziele einzustehen. Schön wäre es, wenn jeder einzelne Mensch diesem Aufruf folgen würde. leider wird heute dieser Aufruf immer unwirksamer: Man ist in seinen Wertvorstellungen – nicht selten als Folge von Manipulationen und Opportunismus – hin- und hergerissen, man geniesst den Augenblick, statt bis in die persönlichen Lebensbereiche hinein aufgrund reflektierter Werthaltungen langfristig wirksam tätig zu wer- den, und man weicht aus, wenn es unangenehm wird. Deshalb braucht es je länger desto mehr eine gute Elite – und alle weiteren gesellschaftlichen Entscheide in Richtung einer Gleichmacherei bleiben eine sozialpolitische Schwärmerei, die letztlich niemandem zum Vorteil gereicht. Aber haben wir die Kraft und den Mut, auch dazu wie ein Felsen in der Brandung zu stehen?
Literatur
• Hans-Joachim Schulze, Die Bach-Kantaten. Einführung zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs, 2. Auflage, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2007
• Siegfried Uhl, Die Mittel der Moral- erziehung und ihre Wirksamkeit, Klinkhardt, Bad Heilbrunn 1996
• Albert Ziegler, Verantwortungssouverä- nität, 2. Auflage, Josef Schmidt Verlag, Bayreuth 1994