Siehe, ich will viel Fischer aussenden
BWV 088 // zum 5. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Corno I+II, Oboe d’amore I+II, Taille, Fagott, Streicher und Continuo
BWV 88 gehört zu einer Gruppe von sieben im Jahr 1726 für den Leipziger Hauptgottesdienst komponierten zweiteiligen Kirchenkantaten, deren wahrscheinlich vom Meininger Herzog Ernst Ludwig gedichteten Libretti je ein Wort aus dem Alten und Neuen Testament zugrunde liegt. Bachs Komposition deutet diesen Bibeltext in ungewöhnlich bildkräftiger Weise aus, wobei die auf den Gegensatz von Fischern und Jägern abhebende Eingangsarie in wirkungsvoller Weise kreisende Wellenbögen und kernige Horntöne gegenüberstellt. Die von der Choralstrophe «Sing, bet und geh auf Gottes Wegen» beschlossene Kantate nähert sich in ihren Rezitativen, Arien und Duetten der Botschaft vom unablässig um die menschliche Seele ringenden Vatergott mit klanglicher Durchsichtigkeit und motivischer Feingliedrigkeit an. Im Mittelpunkt steht dabei Jesu ermutigende Zusage an den Fischer Petrus «Fürchte dich nicht!»
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Werkeinführung
Reflexion
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer
Viola
Susanna Hefti
Violoncello
Ilze Grudule
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe d’amore
Luise Baumgartl, Dominik Melicharek
Taille
Esther Fluor
Fagott
Susann Landert
Horn
Olivier Picon, Jurij Meile
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Isabelle Graessle
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
20.06.2008
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1
Zitat aus Jeremia 16,16
Textdichter Nr. 2, 3, 5, 6
Unbekannt
Textdichter Nr. 4
Zitat aus Lukas 5,10
Textdichter Nr. 7
Georg Neumark, 1657
Erste Aufführung
5. Sonntag nach Trinitatis
21. Juli 1726
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Erster Teil
1. Arie (Bass)
»Siehe, ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr.
Siehe, ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr,
die sollen sie fischen.
Und darnach will ich viel Jäger aussenden,
die sollen sie fahen auf allen Bergen und auf
allen Hügeln und in allen Steinritzen.«
2. Rezitativ (Tenor)
Wie leichtlich könnte doch der Höchste uns entbehren
und seine Gnade von uns kehren,
wenn der verkehrte Sinn sich böslich von ihm trennt
und mit verstocktem Mut
in sein Verderben rennt.
Was aber tut
sein vatertreu Gemüte?
Tritt er mit seiner Güte
von uns, gleich so wie wir von ihm, zurück?
Und überläßt er uns der Feinde List und Tück?
3. Arie
Nein, nein!
Gott ist allezeit geflissen,
uns auf gutem Weg zu wissen
unter seiner Gnaden Schein.
Ja, ja! wenn wir verirret sein
und die rechte Bahn verlassen,
will er uns gar suchen lassen.
Zweiter Teil
4.a Rezitativ (Tenor)
Jesus sprach zu Simon:
4.b Arioso (Bass)
Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fahen.
5. Arie (Duett Sopran, Alt)
Beruft Gott selbst, so muß der Segen
auf allem unsern Tun
in Übermaße ruhn,
stünd’ uns gleich Furcht und Sorg entgegen.
Das Pfund, so er uns ausgetan,
will er mit Wucher wieder haben;
wenn wir es nur nicht selbst vergraben,
so hilft er gern, damit es fruchten kann.
6. Rezitativ (Sopran)
Was kann dich denn in deinem Wandel schrecken,
wenn dir, mein Herz, Gott selbst die Hände reicht?
Vor dessen bloßem Wink schon alles Unglück weicht,
und der dich mächtiglich kann schützen und bedecken.
Kommt Mühe, Überlast, Neid, Plag und Falschheit her
und trachtet, was du tust, zu stören und zu hindern,
laß kurzes Ungemach den Vorsatz nicht vermindern.
Das Werk, so er bestimmt, wird keinem je zu schwer.
Geh allzeit freudig fort, du wirst am Ende sehen,
daß, was dich eh’ gequält, dir sei zu Nutz’ geschehen.
7. Choral
Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
verricht das Deine nur getreu
und trau des Himmels reichem Segen,
so wird er bei dir werden neu:
denn welcher seine Zuversicht
auf Gott setzt, den verläßt er nicht.
Isabelle Graesslé
«Vom Gejagten zum Jäger:
Gottes Plan mit dem Menschen»
Der Weg von der Verdammnis zur Gnade – gestern und heute
Es war an einem Sommerabend vor etwa 20 Jahren …
Da ich mich nördlich des Polarkreises befand, war es noch hell, und ein sanftes Licht streute Rosenblütenblätter auf das ruhige Wasser des Fjords. Eingepfercht in ein Boot, ungeschickt mit Köder und haken hantierend, gab ich mir Mühe zu angeln. Es sollte mein erster und letzter Versuch sein.
Der Gedanke, den Fang, übrigens einen sehr mageren Fisch, töten zu müssen, liess mein Blut erstarren, sodass ich so schnell wie möglich den unglücklichen Fisch ins Wasser zurückwarf.
Man muss zugeben, dass Fischen – und mehr noch Jagen – Gewaltakte sind, selbst wenn ihre Ausübung in Urzeiten zum Überleben der Menschheit notwendig war. Es handelt sich um Angriffsgesten, in denen die Zielscheibe zur Beute, das zitternde leben bis an die Schwelle des Todes verfolgt wird.
In der Anfangsarie der Kantate BWV 88 geht es um nichts anderes als um diese atemlose, bedrohliche, gnadenlose Verfolgung: «Siehe, ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr, die sollen sie fischen. Und darnach will ich viel Jäger aussenden, die sollen sie (fahen) fangen auf allen Bergen und allen Hügeln und in allen Steinritzen.»
Warum diese starr machende Gefahr? Einfach deshalb, so scheint mir, weil die Anfangsarie die genaue Wiederholung eines Orakelspruchs des Propheten Jeremias (16, 16), des einsamen Propheten Israels, ist.
Ein erschreckendes orakel, das all jenen gilt, die sich gegen den göttlichen Willen aufzulehnen wagen. Alle diese Schuldigen wer- den gesucht, verfolgt, aus den am weitesten entfernt liegenden Winkeln und den finstersten Spalten vertrieben. Denn nichts kann der göttlichen Stimme widerstehen.
Allerdings: Die logik der Ewigkeit kann nicht derjenigen der Menschen entsprechen. Denn die biblischen Geschichten erzählen davon, dass Gott stets vom Zorn zur Vergebung übergeht, von der Vergebung zur Gnade, von der Gnade zum hinreissenden Staunen. Ganz so, als wäre nichts je für die Ewigkeit festgelegt, denn die Ewigkeit ist gerade eben dies: ein loslassen der Zeit, ein nötiges und unendlich wohltuendes Abstandnehmen. Übrigens, als ob sie dieses loslassen, dieses Abstandnehmen betonen wolle, läuft die Melodie leichtfüssig über die Höhen der Hügel.
Die Jagd nach den Schuldigen tritt bei jedem Schritt ein wenig mehr in den hintergrund, und wenn die letzten Noten der Arie ver- hallen, ist die erschöpfende Jagd zum leichten Tanz geworden, die rauen Felsen haben sich in sanfte hügel verwandelt.
In völliger umkehrung ertönt nun das Wort der Verdammnis als Sendungswort: «Fürchte dich nicht; denn von nun an wirst du Men- schen (fahen) fangen». Du, die du zuvor eine bis ins Innerste der Erde gesuchte Beute warst, du atmest nun in der freien luft, du bist selbst zum Menschenfänger geworden. Tatsächlich ist das sich nä- hernde Reich Gottes nichts anderes als umkehr, eine umkehr in der Begegnung.
Die Verfolgung ist Tanz geworden; ein Gnadenfunken entzündet sich kurz und leuchtet im Abend, wie die Rosenblütenblätter, die auf dem ruhigen Wasser tanzen.
Was ist da geschehen? Das Verdammungswort hat sich in ein Gna- denwort verkehrt: «Beruft Gott selbst, so muss der Segen / auf allem un- sern Tun / im Übermasse ruhn.» Ich möchte in dieser umkehrung des göttlichen Wortes das Bestreben sehen, den Menschen noch einmal und immer wieder über seine irdische und manchmal so erden- schwere Identität hinauszuheben. Es ist ein Wunsch Gottes, den Menschen zu jenem Ursprung zu führen, der weiträumiger ist als alle Landschaften der Welt. Der Segen, diese Umkehrung im Göttlichen, lädt zur Erneuerung unserer Lebenstage ein.
Im alten Israel drehten sich die Priester, die das Gesicht der Bundeslade zugewandt hatten, im Augenblick des Segens den versammelten Gläubigen zu und sprachen diese rituellen Worte: «Gott unserer Väter, der du uns geboten hast, dein Volk mit Liebe zu segnen.»
Und genau in diesem Moment erhoben sie ihre Hände in Schulterhöhe und spreizten ihre Finger. Warum diese Gebärde? Weil, so lehren es die Weisen, die göttliche Gegenwart, die Schöne Gegenwart, beschlossen hatte, sich auf den entfalteten Fingern der Priester niederzulassen, Zeichen einer dem andern zugewendeten Aufmerksamkeit, einer nicht auf eigenen Vorteil bedachten und respektvollen liebe, Zeichen einer Präsenz, die den andern erhofft.
Im Grunde drehen sich alle Harmonien dieser Kantate wie konzentrische Kreise um diese Umkehrung, so als ob das Zusammen- spiel von Gesangsstimme und stimmigem Text zur Beruhigung menschlicher Ängste beitrüge: «Wie leichtlich könnte doch der Höchste uns entbehren / und seine Gnade von uns kehren, / (…)»
Müssen wir nun Rituale, Gebete, Liturgien oder Pilgerfahrten durchführen – und mögen sie auch nur in unserem Inneren stattfinden –, um an dieser Harmonie von Gnade und Frieden teilzuhaben? Es geht wohl eher darum, loszulassen, sich von der Schwere der Welt zu befreien, mit leichten Füssen über moosige Hügel zu laufen. Sich losmachen von den Seilen, die ersticken, von den schwarzen Zangen, die bedrücken, von jenen kleinen Nagern, die sich zäh in der Magengrube einnisten …
Die einzig nötige Wegzehrung für diese Reise nach innen ist die Demut. Wie könnte es auch anders sein, da diese Umkehrung zur Erneuerung unserer Tage führt? Wie im Anbeginn der Welt … Das Intime des Seelenraums öffnet sich dem äussersten und letzten.
Jede und jeder von uns erlebt manchmal solche Momente, die übrigens nicht unbedingt dem Göttlichen zugeordnet sein müssen. Und diese Augenblicke der Ewigkeit, wunderbare Gaben, machen uns empfänglich für die Geheimnisse der Welt.
In der Tat, wenn die Umkehrung des göttlichen Wortes bedeutet, dass wir in eine Art von Zeit ausserhalb der Zeit geführt werden, an den Punkt unserer eigenen Umkehr, dann müssen wir, dem Neugeborenen gleich, die Sprachen der Welt begreifen lernen, ihr Wissen und ihre Geheimnisse. So wie jene Fischer, berufen vom Propheten aus Nazareth, damals, an einem Gewittertag, am ufer des galiläischen Sees. Er ruft sie, und sie folgen ihm, merkwürdig gehorsam, bereit, sich von sich selber wegzuwenden, weiterzugehen, um ihrem Leben Geschmack und Würze zu geben, sie, die von nun an das Salz der Erde sind; licht auszustrahlen, sie, die künftig das Licht der Welt sein sollen. Eine merkwürdige Berufung, die jenen Männern gilt, welche so wenig begabt sind für spirituelle Initiationen, sondern wahrscheinlich eher ein wenig ungehobelt, ängstlich und naiv. So wie der Erste unter ihnen, Simon.
Simon, unser Doppelgänger, unser Bruder, dieser Beharrliche, der Erste eines neuen Geschlechts von Gotteswanderern, ständig schwankend zwischen Angst und Kühnheit, zwischen Unruhe und Glauben. Simon, der verspricht, sein Leben für seinen Meister hin- zugeben, und sich damit sozusagen im Voraus, mit Körper und Seele in den Tod stürzt, so wie er sich im Morgengrauen auf das graue Wasser des Sees gestürzt hatte, um dort auf den Spuren des Nazareners zu wandeln. Simon, unfähig, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, sich der Abwesenheit des Meisters zu stellen, der definitiven Abwesenheit. Simon, der aus seiner Nacht hervorgeht beim Hahnenschrei und endlich versteht, dass der Durchgang vollendet ist.
Simon, unser Doppelgänger: In seinen schwieligen Händen, wie auch in den unsrigen, bleiben nur Wortfetzen, Gedächtnisfunken, und, so wie heute Abend, gleich einem Geschenk offeriert in einem seidenbespannten Schmuckkästchen, die Harmonie einer inspirierten Musik.
Auch als ich schon Pfarrerin war, habe ich noch lange der Forderung der Evangelien widerstanden, Menschenfischer zu werden. Heute verstehe ich diese Aufforderung nicht mehr als ein Propagandamittel, das den verbrecherischsten Ideologien dienen kann. Es geht vielmehr darum, sich durch die Umkehrung des göttlichen Wortes erneuern zu lassen.
Das Wort hat sich erfüllt, es erfüllt sich auch heute und wird sich immer wieder erfüllen, jedes Mal, wenn ein Funke den Blick erhellt, den wir auf den andern werfen. Menschenfischer, das heisst ganz einfach, hingehen und den andern erwecken, weil man sich selbst eines Tages auferweckt, erneuert gefunden hat.
«Jesus sprach zu Simon: (…)». Doch was sagt Jesus zu Simon? Wir erfahren es nicht, denn die Musik nimmt den Platz der verhallenden Worte ein … und wenn das auch tatsächlich keinerlei Bedeutung hätte? und wenn, im Grunde, was da über die Zukunft des Jüngers gesagt wurde, bedeutungslos wird, angesichts dieses Zwiegesprächs, dessen Worte uns nicht wiedergegeben werden?
Jesus wendet sich an Simon. Alles ist enthalten in diesem intensiven Gegenüber, in dem der Erwecker erweckt wird. Alles ist darin enthalten. In der Stille der Anfänge. In diesem Augenblick, in dem die Schwere unsrer Tage sich auflöst, so wie ein Nebel verging, am Weltmorgen.
Ich möchte, wenn es möglich ist, diese Stille am Ende der Kantate nachklingen lassen. Vor dem nötigen Applaudieren, mit dem wir den Künstlern unsere Freude und unsere Dankbarkeit für ihr Talent ausdrücken, möchte ich die Stille ertönen lassen.
Jene bewohnte Stille, die uns noch lange tragen wird, so wie man am Ende einer Kreuzfahrt, wenn man wieder Boden unter den Füssen hat, noch einige Stunden oder sogar Tage lang «schlingert». Diese Stille erwächst aus dem Gegenüber zwischen dem Propheten und dem Fischer, zwischen Todesangst und Lebensfunken.
Ich möchte, wenn es möglich ist, dass wir dieser offenbarenden Stille Platz lassen; sie ist Trägerin aller Welterkenntnis, einzigartige Erfahrung von Zeit in der Ewigkeit, bevor die Dinge wieder ihren Lauf nehmen und sich fragmentieren in einer unaufhaltsamen Zeitgebundenheit.
Nach dem Anhören der Engelsharmonie schmiegt sich die Stille der Schönen Gegenwart, Bruchstück der Ewigkeit, in die Tiefen unseres Seins, und dieses heimliche leuchten wird uns durchqueren mit seinem Glühen. Denn in dieser unverbrauchten Stille wird dann die wunderbare Kantate des heutigen Tages einen Teil des ganzen Werkes offenbaren, des Gesamtwerks, des vollendeten Werks … und wir werden darin ein Bruchstück unseres Ursprungs wiederfinden.