Herr Christ, der einge Gottessohn

BWV 096 // zum 18. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Posaune, Flauto piccolo, Traverso, Oboe I+II, Fagott, Streicher und Continuo

Das Lied «Herr Christ, der einge Gotts Sohn» ist eine Dichtung von Elisabeth Cruciger, geb. von Meseritz, Ehefrau des Mitreformators Caspar Cruciger. Es ist 1524 entstanden und lehnt sich an den Weihnachtshymnus «Corde natus ex parentis» des Aurelius Clemens Prudentius (348- nach 405) an. Der unbekannte Librettist übernahm vom fünfstrophigen Lied die beiden Randstrophen wörtlich und gestaltete aus dem Text der drei Binnenstrophen zwei Rezitative und zwei Arien.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 96

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Chor

Sopran
Susanne Frei, Guro Hjemli, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Jennifer Rudin

Alt/Altus
Jan Börner, Olivia Fündeling, Katharina Jud, Alexandra Rawohl, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Clemens Flämig, Raphael Höhn

Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Martin Korrodi, Monika Altdorfer, Christine Baumann, Alessia Menin, Olivia Schenkel

Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof, Emmanuel Carron

Violoncello
Maya Amrein, Martin Zeller

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Luisa Baumgartl, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Posaune
Ulrich Eichenberger

Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein

Flauto piccolo
Maurice Steger (special Guest)

Orgel
Norbert Zeilberger

Cembalo
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Iso Camartin

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.10.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
Choralkantate eines unbekannten Dichters nach dem Lied von Elisabeth Cruciger (Creutziger)

Erste Aufführung
18. Sonntag nach Trinitatis,
8. Oktober 1724

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate über Elisabeth Crucigers Lied «Herr Christ, der einig Gottes Sohn» beginnt in nahezu weihnachtlichem Duktus. Die gewinnende pastorale Szenerie des Eingangschores lebt vom beschwingten 9/8 – Metrum, das Streicher, Oboen und Continuo mit ihren schwer-leichten Gesten energisch vorantreiben. Das auch von ernsten Gedanken durchzogene Lied, das in Bachs Kantaten auffällig häufig für Schlusschoräle herangezogen wurde, erhält hier einen betont freudigen Charakter, der durch die in Höhe und Schärfe eindringliche Obligatpartie der Piccoloflöte virtuos aufgebrochen wird. Diese von Bach selten gewählte Klangfarbe trägt ein Element besonderer Lieblichkeit in die Partitur; man mag dabei an das brünstige Girren eines hochfliegenden Singvogels – vielleicht mehr einer Amsel als der sprichwörtlichen Taube des Neuen Bundes – denken oder auch das Funkeln des «Morgensterns» am entrückten Firmament bewundern. In dieses luftige Korsett sind die Chorstimmen in der für Bachs Choraljahrgang typischen Weise eingefügt, wobei Sopran, Tenor und Bass das wiegende Orchestermetrum aufgreifen, während der Alt den Cantus firmus vorträgt, der somit in symbolischer Weise Gottes «Herz entsprossen» scheint. Unterstützung leistet dabei ein Corno da tirarsi (Zughorn), eine zur vollen Ausnutzung des Tonraums konstruierte Sonderform des Horns, deren Stimme in einer späteren Aufführung der Altposaune übertragen wurde.

Das folgende Rezitativ bleibt der Altstimme übertragen, die in hymnisch-feierlicher Diktion von der «Wunderkraft» der in der Christgeburt Gestalt gewordenen Liebe Gottes gegenüber seinen Geschöpfen redet, die Dichter und Komponist in grossartigen Klang-Bildern nachzeichnen.

In der Tenorarie darf der Piccolospieler zur Traversflöte greifen, was einmal mehr die Versatilität des Bach zur Verfügung stehenden Ensembles aus Stadtmusikanten, Aushilfen und Studenten belegt, die zwar sämtlich nicht über die spezialisierte Virtuosität einer Hofkapelle geboten, dafür jedoch vielerlei Sätteln gerecht wurden. Es handelt sich denn auch um eine typische Traversopartie, deren mehr einer flüchtigen Giga als einer gemütlichen Pastorale entsprechende aufgeräumte Stimmung so sehr an die Kantate «Schmücke dich, o liebe Seele» BWV 180 erinnert, dass man womöglich an einen Vertonungstopos denken kann. Er könnte hier wie dort mit der Einladung zum Abendmahl in Verbindung stehen, das ja nichts anderes ist als der sakramentale Ausdruck der in Jesus offenbarten Liebe. Das «Ziehen» der Liebes-«Seile» wird dabei von den Seufzern und Dehnungen der Musik wirkungsvoll verkörpert, während im eindringlicheren Mittelteil daraus züngelnde «Flammen» werden. Auch die instrumentale Solostimme dieser Arie ist in einer Wiederaufführung für Violino piccolo umgewidmet worden.

Das Sopranrezitativ knüpft daran mit der demütigen Bitte um «Erleuchtung» an, bringt jedoch zugleich den Gedanken der zu durchschreitenden Lebensbahn ein, den die passenderweise nicht als Da-capo-Rundform, sondern als zielgerichtete Durchkomposition angelegte Bassarie weiter ausführt. «Bald zur Rechten, bald zur Linken lenkt sich mein verirrter Schritt» – Bach setzt dieses schlingernde Schwanken in wörtlicher Weise um, indem er Streicher und Oboen blockhaft gegenüberstellt, was der Singstimme zusehends Unbehagen bereitet. Dieses – von einem Menuett als Chiffre für das glatte höfische Parkett besonders sinnfällig eingefangene – Spiel mit dem möglichen Scheitern weicht zu den Worten «Gehe doch mein Heiland mit» einem intensivierten Duktus, der das kantable Flehen des Basses mit vorwärtsdrängenden Akkordstichen des Orchesters begleitet. Zur Schlüsselzeile «Lass mich in Gefahr nicht sinken» tritt dann die «Rechts-links»-Motivik des Beginns wieder in Erscheinung – Gefahr und Irrtum bleiben allem himmlischen Schutz zum Trotz immer präsent, es bleibt ein hörbar mühseliger Weg bis zur Himmelspforte.

Nach der d-Moll-Sphäre dieser nachdenklichen Arie wird mit dem kernigen F-Klang des Schlusschorals energisch das Ruder herumgerissen. Das frühreformatorische Lied entfaltet hier den ganzen Zauber des Kraftvollen und Ehrwürdig-Alten, der durch das Mitgehen der Piccoloflöte in der Oberoktave himmelsleicht überhöht wird und damit zugleich sanft und tröstlich wirkt.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor


Herr Christ, der einge Gottessohn
Vaters in Ewigkeit,
aus seinem Herzn entsprossen,
gleichwie geschrieben steht,
er ist der Morgensterne,
sein’ Glanz streckt er so ferne
vor andern Sternen klar.

1. Chor
Jesus Christus ist gemäss biblischer Tradition ein Nachkomme Davids. Nach Offenbarung 22, 16 spricht er: «Ich bin die Wurzel und der Spross Davids, der helle Morgenstern.» Die Choralmelodie legt Bach in die Altstimme und verstärkt sie zur besseren Hörbarmachung durch ein Horn, bei späteren Aufführungen gar durch Posaune. Im Orchester fällt neben den zwei Oboen und Streichern als spezielle Farbe die Diskantblockflöte auf. Ihre hohen, bewegten Figurationen bilden den Glanz des Morgensterns nach. In einer späteren Aufführung übergab Bach diesen Part einer Piccolo-Violine.

2. Rezitativ

O Wunderkraft der Liebe,
wenn Gott an sein Geschöpfe denket,
wenn sich die Herrlichkeit
im letzten Teil der Zeit
zur Erde senket.
O unbegreifliche, geheime Macht!
Es trägt ein auserwählter Leib
den großen Gottessohn,
den David schon
im Geist als seinen Herrn verehrte,
da dies gebenedeite Weib
in unverletzter Keuschheit bliebe.
O reiche Segenskraft! So sich auf uns ergossen,
da er den Himmel auf-, die Hölle zugeschlossen.

2. Rezitativ
«Im letzten Teil der Zeit» (wörtlich aus der Vorlage der Dichterin übernommen), d.h. nachdem Gott vorzeiten auf vielerlei Weise zu seinem Volk gesprochen hat durch Propheten, «hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet durch den Sohn» (Hebräer 1, 2). Dass David schon im Geist Christus als seinen Herrn verehrt habe, erinnert an die Sonntagslesung aus Matthäus 22, 34–46, wo Christus nach Psalm 110, 1 zugleich Davids Sohn und Davids Herr genannt wird.

3. Arie

Ach ziehe die Seele mit Seilen der Liebe,
o Jesu, ach zeige dich kräftig in ihr.
Erleuchte sie, daß sie dich gläubig erkenne,
gib, daß sie mit heiligen Flammen entbrenne,
ach würke ein gläubiges Dürsten nach dir.

3. Arie
Aus der dritten Strophe von Elisabeth Crucigers Lied, «Lass uns in deiner Liebe und Erkenntnis nehmen zu», ist eine Arie geformt worden. Sie nimmt die Rede aus der Evangelienlesung vom vornehmsten Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe auf. Liebe ist Geschenk Gottes: «Mit Seilen der Liebe» zieht er sein Volk zu sich (Hosea 11, 4). Wie die Seele mit verschlungenen Seilen hinaufgezogen werden soll, erzählt die konzertante Querflöte, deren Gestus die Singstimme anschliessend aufgreift.

4. Rezitativ

Ach führe mich, o Gott, zum rechten Wege,
mich, der ich unerleuchtet bin,
der ich nach meines Fleisches Sinn
so oft zu irren pflege,
jedoch gehst du nur mir zur Seiten,
willst du mich nur mit deinen Augen leiten,
so gehet meine Bahn
gewiß zum Himmel an.

4. Rezitativ
Aus Strophe 4 des Liedes gestaltete der Librettist ein Rezitativ und die anschliessende Arie. Die Bitte um Gottes Führung und gnädiges Geleit ist aus biblischen Texten geschöpft: «Lehre mich, deinen Willen tun, denn du bist mein Gott; dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn» (Psalm 143, 10).

5. Arie

Bald zur Rechten, bald zur Linken
lenkt sich mein verirrter Schritt,
gehe doch, mein Heiland, mit,
laß mich in Gefahr nicht sinken,
laß mich ja dein weises Führen
bis zur Himmelspforte spüren.

5. Arie
Im Blick auf die Gefahr, vom «rechten» Weg abzukommen, möchte der Dichter etwas spüren von der weisen Führung Gottes. «Bald zur Rechten, bald zur Linken» schwankt der Schritt, was der Komponist durch schnelle Wechsel zwischen Bläsern und Streichern darstellt, während die Harmonieen sich immer wieder «verirren».

6. Choral

Ertöt uns durch dein Güte,
erweck uns durch dein Gnad;
den alten Menschen kränke,
daß er neu Leben hab
wohl hier auf dieser Erden,
den Sinn und all Begierden
und Gdanken habn zu dir.

6. Choral
Elisabeth Crucigers Schlussstrophe bekräftigt, dass der sündige «alte Adam» vergehen muss, damit der gläubige «neue Mensch» entstehen kann (Epheser 4, 20–24).

Reflexion

Iso Camartin

«In Seilen der Liebe»

Über das «Führen», das «Gezogen werden» und die zu verteidigenden Seilschaften des Lebens.

Was für eine tolle Frau, diese Elisabeth Cruciger, des Lutherschülers Caspar Crucigers Ehe- und Hausweib! Vermutlich war sie die erste protestantische Lieddichterin überhaupt. Das Lied, das sie schrieb, enthält Stichworte, die zur Reflexion geradezu anspornen. Man könnte zum Beispiel kosmologisch erkunden, was sich hinter dem «Morgenstern» verbirgt, der sein Glänzen ferne streckt, «vor andern Sternen klar». – Man könnte ebenso über das nachsinnen, was diese Frau, zuerst brave Nonne, dann mutige Ehefrau, mit «im letzten Teil der Zeit» gemeint haben könnte – also mit der Überzeugung, dass man als Christ in einer Endzeit lebe und darin zu bestehen habe. Eine weitere Variante wäre, darüber zu spekulieren, wie ein religiöser Glaube aussehen müsste, den man auch als eine «Süßigkeit im Herzen» erfahren muss. Und die Bedeutung des Satzes der Schlussstrophe: «Ertöt uns durch dein Güte» verdient mehr als nur ein Sinnieren darüber, was in uns abzusterben hat, damit wir nicht nur einigermassen gottgefällig, sondern schon in diesem Leben ein bisschen glücklich werden. Auch diese Elisabeth hat es in sich!
Ich wähle jedoch keines dieser Themen, sondern ein Stichwort, das wir dem unbekannten Bearbeiter des Kirchenlieds zum Kantatentext verdanken. in der ersten Arie bittet der Tenorsänger Jesus darum, dass dieser seine Seele «mit Seilen der Liebe» zu sich ziehe. Und im darauf folgenden Rezitativ lautet die Bitte der Sopranstimme: «Ach führe mich, o Gott, zum rechten Wege.» Meine Reflexion hat deshalb mit dem «Führen», dem «Gezogen werden» und mit den zu verteidigenden Seilschaften des Lebens zu tun.
Beginnen wir mit dem «Führen». Alle reden von Führungskompetenz. Kein Kadermitglied wird heute angestellt, ohne dass vorgängig in einem Assessment dessen Führungskompetenz getestet würde. Freilich sind Führerfiguren oft genug zwielichtige Gestalten. Die Welt hat mit Führern und Duces, mit Parteikapos und Caudillos die schrecklichsten Erfahrungen machen müssen – und auch jene angeblich so charismatischen Führerfiguren wie Napoleon haben Zerstörung und Elend in der Welt hinterlassen und taugten seltsam wenig als Glücksbringer und Friedensstifter. Nehmen wir uns also in Acht vor Führern, den selbsternannten und jenen, welchen die Menge zujubelt. Nietzsche hat über die Ambivalenz des Führungsgeschäftes im Wechsel zwischen kalter Machtausübung und warmer Verführung durch Propaganda und lockende Versprechungen Kluges zu sagen gewusst. ich zitiere nur einen seiner Gedanken zum Führungsanspruch: «Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.» («Jenseits von Gut und Böse» ii, S. 636) Skepsis und Distanz zu wahren jenen gegenüber, die durch Führungsmagie zu Ungeheuern und zu abgründigen Menschenverächtern werden, ist also Pflicht eines aufgeklärten Bürgers.
Doch darf man Gott zu seinem Führer machen? Ein religiöser Mensch würde mit seiner Zustimmung nicht zögern, weil ihm Gott als das vertrauenswürdigste Wesen vorkommt, das es überhaupt gibt. Doch mit dem Vertrauen ist es so eine Sache. Es ist eine riskante Vorleistung, ein letztlich schwer begründbares Wagnis, eine Vorinvestition auf Treu und Glauben. Es sind nicht alle zu solchen Vorleistungen bereit! Wie schnell es mit dem Vertrauen vorbei sein kann, erfahren heute Bankiers und CEOs so gut wie Ärzte und Priester. Und ist dieses Vertrauen einmal dahin, weiss niemand, ob und wann es wiederkommt. «Das Leben hat mich misstrauisch gemacht!» ist eine so häufige wie traurige Feststellung, und davon können selbst einander wohlgesinnte Eheleute mehr als nur ein Lied singen. Nur Kinder sind ganz und gar vertrauensselig, doch dies auch nur, solange das Leben sie in ihren Erwartungen noch nicht verletzt hat. Der erwachsene Mensch ist erfahrungsgeprägt und in der Regel nicht vertrauensfest, sondern eher wankelmütig. «Bald zur Rechten, bald zur Linken, lenkt sich mein verirrter Schritt.» Bach hat dieses unschlüssige Hin und Her von einer Position zur anderen wundersam in Töne gesetzt. Haben Sie gemerkt, wie es da in der Bassarie zuging zwischen Streichern und Bläsern? Wie sie gegeneinander im Dreivierteltakt wetteiferten, um den Schwankenden auf ihre Seite und für sich zu gewinnen? Seltsame Tanzschritte einer unsicher voranschreitenden Gestalt werden uns da vorgeführt. Wird der irrende gezogen, oder vielleicht doch eher geschoben? Und die Stimme dieses Verirrten: bald steigt sie und bald sinkt sie, so als sei das Leben ein schwankendes Boot auf meterhohen Wellen. Als seien gefährliche Einflüsterer im Hintergrund, die dem Zweifelnden zurufen: Her zu mir! Nein, zu mir sollst du kommen! Da weiss einer nicht mehr ein und aus. Nur eines bleibt in dieser Lage: «Lass mich in Gefahr nicht sinken!» bittet die Stimme, und: «Gehe doch, mein Heiland, mit!» So darf nur der gottgläubige Mensch bitten, der sein Vertrauen auf eine einzige Karte setzt: Gott wird sein Geschöpf schon nicht in die Abgründe sinken lassen, sondern es nach oben führen – «bis zur Himmelspforte». Die Musik führt uns dies durch fallende und steigende Bewegungen wundersam vor. Wir sind mittendrin: im Wanken und im Schwanken, im Steigen und im Fallen, und brauchen dringend jemand, der den Weg weist.
Eine weitere bemerkenswerte Formulierung findet sich im Kantatentext: «Willst du mich nur mit deinen Augen leiten.» Wie stellt man sich dies am besten vor? Bedeutet Vertrauen, die eigenen Augen zu schliessen und sich fremden Augen auszuliefern? ist blindes Ver­trauen im Leben gefordert, um zum rechten Ziel zu gelangen? Das bekannte Bild «Der Blindensturz» von Pieter Bruegel dem Älteren kommt einem in den Sinn. Bach kannte gewiss die Stelle aus dem Neuen Testament bei Matthäus, wo es heisst: «Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.» (Matthäus 15, 14) Es muss eine Alternative geben zu der Zielgeraden in den Untergang. Die Mahnung ist klar: Wir sollen uns Sehenden, nicht Blinden anvertrauen. Auf Ikonen der Ostkirche sieht man häufig Gestalten, die mit ihren Augen etwas zu suchen scheinen: nämlich die Augen des sie im Himmel erwartenden Erlösers. Als ob sie in den Bann besserer Augen als ihrer eigenen geraten müssten! Wir wissen es auch von verliebten Menschen, was für eine Erhellung ihres Wesens es ist, wenn sie dem oder der Geliebten endlich in die Augen sehen können. Liebende Augen üben einen seltsamen Sog auf das Gegenüber aus, man wird von ihnen magisch angezogen. Damit sind wir bei jener besonderen Art von Führung, die man beinah schon als Verfüh­rung bezeichnen muss. Eine Verführung durch magische Anziehung. Das heisst aber, dass unsere Aufgabe es nicht sein kann, mit geschlossenen Augen durch die Welt zu gehen und in den Tümpel zu fallen wie Bruegels blinde Bettler, sondern mit offenen Augen das richtige Ziel zu suchen. ich lese dieses «mit deinen Augen leiten» als einen Aufruf an den schwankenden Menschen, das richtige Ziel ins Auge zu nehmen. Gleichsam Aug in Aug auf das Ziel zuzuschreiten.
Dazu passt nun das Bild von den «Seilen der Liebe» aus der Tenorarie, mit welchen die Seele an den für sie vorteilhaften Ort gezogen werden soll. Die Liebe ist, wie wir wissen, nicht die einzige Macht, die uns zu sich heranzuziehen vermag. in gewissen Lebenssituationen gibt es weit stärkere Seilschaften, die uns in Atem halten. Der Hunger nach Macht, nach Einfluss, nach Geld, nach Sichtbarkeit, nach Prestige, nach Anerkennungen auch noch der lächerlichsten Sorte – dieser Hunger verfügt oft über die dickeren Seile und die stärkere Zugkraft als die Liebe. Der Ehrgeiz ist ein mächtiges Zugseil – wir sehen es gut in Zeiten, in denen Wahlen vor der Türe stehen. Auch die Habgier verfügt über Zugkräfte, die man nicht vermutet. Wer von ihr durchs Leben gezogen wird, büsst leicht sein Gerechtigkeitsgefühl ein und den Sinn für das richtige Mass. Aber auch der gesellschaftliche Neid kann uns in die Schlinge nehmen und in den Abgrund des Hasses ziehen, sodass wir nur noch heimzahlen und Rache üben möchten an denen, welchen wir ihre Stellung und ihren Reichtum von Herzen missgönnen. Vom eigenen Versagen, Pech und Unglück in die Enge getrieben, finden wir uns schnell in fürchterliche Seilschaften verwickelt, die uns bitter und rachsüchtig machen.
Seilschaften haben ohnehin etwas Dubioses an sich. Da riecht etwas doch deutlich nach Kumpanei und Kungelei, nach heimlichen Absprachen und Intrigen. Da wäscht doch eine Hand die andere. Bei den Banken, wer schaut da durch? Bei den Kirchen, wer kennt sich da noch aus? Man kann nur die Arme heben und wünschen: Das Leben bewahre uns vor sinistren Seilschaften!
Die «Seile der Liebe» muss man sich freilich ganz anders vorstellen. Und die des gegenseitigen Wohlwollens wohl auch. Kein Zwang ist dabei und keine Nötigung – es sind Seile, die mehr bewegen und beschleunigen, als dass sie binden. Die Tenorarie mit dem Querflötensolo macht es vor, wie man sich dieses Ziehen vorzustellen hat: als würde die Seele geradezu freundlich in den Arm genommen und in die gute Richtung bewegt, zwar kräftig und entschieden, doch ist das Seil, das hier zur Anwendung kommt, mehr eine Art Spielseil, mit welchem man in ein bewegtes Mitschwingen einbezogen wird, das einen von der Stelle und aufs Ziel zubewegt. Die Flötenfigur mit den aufschwingenden Sechzehnteln, die so absturzsicher immer wieder auf der Note h aufgefangen werden, als fange das Seil der Liebe jeden Glücksübermut und jede Gemütskapriole sicher auf, lässt es genau nachfühlen: Die Seile der Liebe sind nichts als die Flügel der Freiheit. Los, geh weiter! Es wird dir nichts passieren! Du bist gut unterwegs!
Doch woher stammt diese Kraft, die uns derart anzieht und zu sich lockt? Der wundersame Eingangschoral der Kantate – für mich einer der schönsten unter den vielen unvergleichlichen, die zum 2. Leipziger Jahrgang der Choralkantaten gehören – lässt darüber für den Christen keinen Zweifel: Es ist der «Herr Christ, der einge Gottessohn», der sozusagen die zentripetale Kraft des Glaubensuniversums ist und uns in den Bann seiner Macht und seiner Liebe zwingen soll. Doch solche theologischen Aussagen haben etwas dogmatisch Hartes und Unerbittliches an sich, das klärungsbedürftig bleibt und für die menschliche Vorstellungskraft erst durch eine überzeugende Bildersprache angemessen gemacht werden muss. Theologische Wahrheiten dürfen nicht in kalter logischer Nacktheit verharren, sondern müssen in Bilder gekleidet werden, die unsere Einbildungskraft erleuchten und erwärmen. Und das Bild für diese dunkle Materie, für diese schwarze Energie der unheimlich anziehenden Art ist ein ganz und gar leuchtendes und trägt folgenden Namen: «Er ist der Morgensterne, / seinGlanz streckt er so ferne / vor andern Sternen klar.» Kein Wunder, dass man diese Kantate auch mit Epiphanie, dem 6. Januar, in Verbindung gebracht hat, an welchem die drei Weisen aus dem Morgenlande, dem hellen Stern folgend, dem neuen König der Welt ihre Aufwartung gemacht haben. Dass von Sternen besondere Anziehungskräfte ausgehen, glaubt auch noch unsere astrologie-selige Gegenwart. Licht zieht ja nicht nur die Motten an, nicht weniger übt es auch auf die Menschen einen unwiderstehlichen Sog aus.
Was Bach nun musikalisch anstellt, um gerade diese beschwingte Unwiderstehlichkeit im Sog eines Sterns hörbar und spürbar zu machen, ist nahezu mirakulös: Einmal wählt er einen Sicilianarhythmus, eine auf Dreierfiguren basierende Fortschreitungsart – in unserem Fall einen Neunachteltakt, um diesen unaufhaltsam scheinenden und auf ein Ziel gerichteten inneren Bewegungsdrang zu charakterisieren. Da muss man doch einfach einspuren, mitschreiten, mitziehen, ja geradezu mittänzeln, so sehr nimmt diese Taktart unser musikalisches Grundgefühl am Ärmel und setzt uns unwillkürlich in Bewegung. Als Bach im selben Jahr 1724 zu Epiphanias die Kantate schrieb «Sie werden aus Saba alle kommen», tat er dasselbe wie als er den Zug der drei Könige mit ihren Gaben schilderte, nur wählte er hier den Sicilianatakt mit zwölf statt mit neun Achteln. Doch es gibt dem schreitenden Zug die gleiche Gangart. Seit ich diese beiden Eingangssätze der Bachkantaten kenne, weiss ich, dass Kamele sich nur im Sicilianarhythmus fortbewegen, wenn sie ihren Wüstentrab gefunden haben. Kamele verfügen zwar selten über schöne Stimmen, doch ihre Gangart gehört zu den musikalischsten, die im Tierreich vorkommen, und Bach hat es wie kein anderer verstanden, das Sicilianagen in der Gattung Camelidae Tylopoda, also der buckeltragenden Schwielensohler, für uns hörbar werden zu lassen. Man kann fast nicht schöner einherschreiten, als in diesem auftaktigen Dreierrhythmus, der jenen, die in seiner Bewegung bleiben, eine unwiderstehlich zielorientierte Gangart auf eine Glücksoase zu verleiht. Trauen wir dem Rhythmus der Kamele!
Doch damit nicht genug. Um uns das geheimnisvolle Leuchten, das Flirren und Funkeln des Morgensterns geradezu sinnlich erspüren zu lassen, hat Bach zu den üblichen Instrumenten des Orchesters mit Oboen, einem Horn, Streichern und der Continuogruppe noch ein Flauto piccolo hinzugefügt, eine Blockflöte – und dem Spieler alles zugemutet, was man bei einem Virtuosen tun darf. Man weiss zwar nicht, ob der damalige Piccoloflötist wirklich so unglaublich gut war wie Maurice Steger heute Abend, doch gut muss auch er gewesen sein, sonst hätte Bach ihm diese Art von Schwierigkeiten gewiss nicht zugemutet. Denn was wollte er anderes erreichen, als dass wir staunen: vor dem funkelnden Glanz und dem leuchtenden Zauber jenes Sterns, der uns nicht nur auf den richtigen Weg führt und geleitet, sondern in dessen Anziehungskraft wir selbst geradezu verwandelt werden. in diesem Satz geschehen nämlich ganz sonderbare musikalische Verschiebungen und Verrückungen. Wir fühlen uns zunächst in einem vertrauten F-Dur und den anverwandten Tonarten wohl aufgehoben, bis auf einmal Dinge geschehen, die uns in etwas schieben, was der österreichische Autor Robert Musil «den anderen Zustand» genannt hätte. Auf einmal ein Ruck – und wir sind in einer anderen Wahrnehmungswelt, in einer bisher fremden Zone. Etwas hat uns berückt und verrückt – gemeint ist der Schub, den Bach bei den Worten «er ist der Morgensterne» in Takt 90 einplant – man braucht die Takte nicht zu zählen, es genügt, plötzlich den Einbruch des Unerwarteten und Ungewohnten zu erleben, als bebe auf einmal der harmonische Boden unter den Füssen und als gäbe es für eine Sekunde so etwas wie einen musikalischen freien Fall. Bach ist zwar immer für Überraschungen gut, doch hier erwischt er uns geradezu auf dem linken Fuss!
Mit diesem Gedanken möchte ich meine kurze Reflexion hier auch abschliessen. Grosse Kunst hat vielleicht mit religiöser Erfahrung dieses gemeinsam, dass sie uns zuerst in Trab setzt und dann – oft an vollkommen unerwarteter Stelle – im gegebenen Augenblick manchmal sanft, dann wieder schockartig aus dem Trab wirft. Wir sind nämlich nicht Lasttiere, die sich im Sicilianarhythmus auf ihrem Gang durchs Leben einrichten und sich mit diesem abfinden dürfen. Wir brauchen ab und zu den Weckruf, der uns «den anderen Zustand» beschert. Wenn heute darüber geklagt wird, dass Religion nicht mehr jene zielorientierende Kraft habe, über die sie bei früheren Generationen – und ganz sicher bei Bach – verfügt haben mag, so ist mit der Klage allein noch nicht viel geholfen. Gedanken darüber, ob man im Leben auf der richtigen Spur unterwegs ist, macht sich jeder von uns meistens erst, wenn sie oder er in eine Krise geraten. Aber es könnte ja sein, dass man nicht zuerst blind in die Grube fallen muss, bevor man erwacht, die Augen öffnet und sich des Irrweges bewusst wird. Denn etwas hat sich ganz gewiss nicht verändert: Zwar lenken uns heute viele künstliche Lichter und bengalische Feuer vom Wesentlichen ab, doch aufgehört zu leuchten hat der Morgenstern noch nicht. Wer ihn sehen und ihm folgen will, muss aber die Augen auftun – und sich von den Seilen des Lichts ziehen lassen. in dieser Lichtseilschaft ist man auch heute noch ziemlich zielsicher unterwegs.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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