Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren
BWV 137 // zum 12. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Tromba I–III, Pauken, Oboe I+II, Streicher und Continuo
Choralkantate über eines der bekanntesten Kirchenlieder. Nach reformierter Tradition knüpfte Neander an einen biblischen Psalm an: «Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.» (Psalm 103). Ähnliche Gedanken klingen auch im Evangelium des Sonntags an, wo es nachdem Bericht von der Heilung eines Gehörlosen heisst: «Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. » (Markus 7, 37). Der Text des Liedes ist nirgends in Rezitative oder Arien umgearbeitet worden, sondern Bach hat alle Strophen in unverändertem Wortlaut übernommen und auch die Musik bleibt durchgehend der Choralmelodie verbunden. Trotz dieser engen Choralbindung gelingt Bach formale und expressive Vielfalt.
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Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Miriam Feuersinger
Alt/Altus
Claude Eichenberger
Tenor
Johannes Kaleschke
Bass
Markus Volpert
Chor
Sopran
Susanne Frei, Léonie Gloor, Noëmi Sohn, Guro Hjemli
Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Francisca Näf, Lea Scherer
Tenor
Clemens Flämig, Raphael Höhn, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova, Monika Baer, Sylvia Gmür, Sabine Hochstrasser, Yuko Ishikawa, Olivia Schenkel
Viola
Susanna Hefti, Emmanuel Carron
Violoncello
Claire Pottinger
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Kerstin Kramp, Andreas Helm
Fagott
Susann Landert
Trompete/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel, Michael Bühler
Timpani/Pauke
Martin Homann
Orgel
Norbert Zeilberger
Cembalo
Annette Gfeller
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Martin Johann Staehli
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
20.08.2010
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Joachim Neander, 1680
Erste Aufführung
12. Sonntag nach Trinitatis,
19. August 1725
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Versus 1
Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren,
meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.
Kommet zu Hauf,
Psalter und Harfen, wach auf!
Lasset die Musicam hören!
1. Chor
Wie der Psalmsänger fordert auch der Dichter seine Seele zum Lobe Gottes auf. Aber auch die Gemeinde soll sich daran beteiligen. Mit der «Musica» soll dies geschehen! Dazu gehören beide, Singstimmen und Instrumente. Trompeten, Oboen und Streicher verbreiten festlichen Glanz und folgen so der Einladung der (vom Sopran integral vorgetragenen) ersten Choralstrophe.
2. Arie (Alt)
Versus 2
Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,
der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,
der dich erhält,
wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?
2. Arie
Das Bild von «Adelers Fittichen» stammt aus der Tradition vom Auszug aus Ägypten, wo Gott zu den Israeliten spricht, sie hätten gesehen, «wie ich euch auf Adlersflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe.» (2. Mose 19, 4). Eine konzertierende Violine verleiht dem Gesang der Altstimme Flügel.
3. Arie (Duett Sopran, Bass)
Versus 3
Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet,
lobe den Herrn, der künstlich und fein dich bereitet,
der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet;
in wieviel Not
hat nicht der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet;
der gnädige Gott dir Flügel gebreitet,
der gnädige Gott
über dir Flügel gebreitet!
3. Arie
In der mittleren Strophe stehen zwei zentrale Gedanken des Liedes: Gott hat den Menschen «künstlich und fein bereitet» (Psalm 139, 14), und er leitet ihn freundlich, auch in Zeiten der Not. Mit den ausgebreiteten Flügeln ist hier wohl an die Henne gedacht, welche unter ihren Flügeln den Küken Schutz bietet (Matth. 23, 37). Die Choralmelodie wird im Eingangsritornell eingewoben in die Melodielinie der zwei Oboen, die beiden Singstimmen, Sopran und Bass, halten sich eng an den, nun nach Moll eingedunkelten, Choral.
4. Arie (Tenor)
Versus 4
Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet,
der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet;
denke dran,
was der Allmächtige kann,
der dir mit Liebe begegnet.
4. Arie
Die Tenorpartie steht in a-Moll, die Trompete dagegen intoniert die Choralmelodie im hellen C-Dur, ein expressiver Hell-Dunkel Kontrast und einer der vielen Einfälle, für die wir Bach bewundern. Mit dem «Stand», den Gott gesegnet hat, ist wohl der Ehestand gemeint und an Kinderreichtum gedacht (Psalm 147, 13). Der Regen, welcher die dürre Erde tränkt und Frucht wachsen lässt, ist in der Bibel oft ein Bild für die fürsorgende Liebe Gottes, welche im Übermass segnet.
5. Choral
Versus 5
Lobe den Herren, was in mir ist, lobe den Namen!
Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen!
Er ist dein Licht,
Seele, vergiß es ja nicht;
Lobende, schließe mit Amen!
5. Choral
Wie schon im Eröffnungschor setzen auch hier die sehr selbständig geführten Trompeten dem Ensemble ihren Glanz auf. In der letzten Strophe des Liedes wird nochmals der Anfang des 103. Psalms zitiert und zum Gotteslob im Bunde Abrahams aufgefordert. «Abrahams Nachkommenschaft» versteht der Dichter als Gemeinschaft der Glaubenden im Sinn des Apostels Paulus: «Wenn ihr aber Christus gehört, dann seid ihr Nachkommen Abrahams und gemäss der Verheissung seine Erben» (Galater 3, 29).
Martin Johann Stähli
«Gott loben im 21. Jahrhundert»
«Was sollen wir heutzutage mit solch’ seltsamen Texten anfangen? Mit einem Gott, einem König, einem Vater, der von uns fordert, permanent fröhliche Loblieder auf ihn anzustimmen? Ist es das, was wir brauchen, heute?» So zu lesen in der «NZZ am Sonntag» vom 20. Juni 2010 unter dem Titel «Das Wort zum Einschlafen».
Wie können wir im 21. Jahrhundert Gott als Herrn und König, als Patriarchen, ja überhaupt Gott anrufen? Die Musik mag schön, ja grossartig sein, aber der Text?
Schon Dietrich Bonhoeffer sprach doch vom Lebensvollzug des modernen Menschen «et si deus non daretur», als ob es Gott nicht gäbe, ein Leben ohne einen Lückenbüsser, der für den verbleibenden Rest des noch nicht von der Wissenschaft Erklärten herhalten muss. Seit Darwin ist die Idee der Schöpfung vom Tisch. Auch die Begriffe «Natur» und «Welt» und nicht nur die Kirchengeschichte, wie Goethe meinte, sind doch ein «Mischmasch von Irrtum und Gewalt». Und auch jegliches Wissen, das wir Menschen generieren, ist letztlich nur «Vermutungswissen» (Karl Popper), für Albert camus unsere Welt absurd.
Nach dem 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, Auschwitz, Korea und Vietnam, Stalin, Hitler und Mao, Kambodscha und Ruanda, Srebrenica, stellt sich noch eindringlicher die Frage: Wo war denn der gütige, gnädige Gott? und dieser Abwesende soll nun auch noch gelobt werden? Nach Bhopal, Seveso, Tschernobyl, dem Golf von Mexiko, dem weltweiten Finanz- und Staatsgebaren ist doch nicht mal mehr der bürgerlichen Vernunft zu trauen. Nun, auf der Ebene von Vernunft und Wissen gibt es ohnehin nichts zu loben, sicher nicht Gott als Herrn und König.
Der Mensch im Zeitalter von Wissenschaft und Technik, westlicher Prägung zumal, hat so sein Kreuz mit Gott. Er lebt mit «scientia est cognitio eminens theoretica», mit der Wissenschaft als hervorragender theoretischer Erkenntnis. Die intellegible Welt hat und braucht keinen Platz für Gott.
Bachs Musik bleibt, Gott verschwindet und mit ihm der Einfluss der Kirchen. Kunst der Fuge, Wohltemperiertes Klavier, Suiten und Konzerte haben Bestand, Kantaten, Weihnachtsoratorium und Passionen verlieren zumindest als Text an Bedeutung.
Einzig jene, bei denen die positiven Seiten des gutbürgerlichen Lebens überwiegen, empfinden wohl beim Hören oder Singen z. B. des heutigen Kantatentextes Dankbarkeit gegenüber dem bisher auf Erden Erfahrenen. Sie fühlen sich «sicher geführet», «freundlich geleitet» und gnädig begleitet.
Rührt daher die grosse Popularität dieser Kantate und des Liedes? Nehmen sie wie schon im 19. Jahrhundert die Volksfrömmigkeit des mitteleuropäischen Durchschnittsbürgers auf, nachdem sie in Ludwig Erks «Volksgesangbuch» von 1868 und in den «Deutschen Liederhort» von 1894 Eingang und damit grosse Verbreitung gefunden haben?
Wurde deswegen die Melodie unserer Kantate bei der Grundsteinlegung zum Kaiserdenkmal auf dem Kyffhäuser in Thüringen 1892 gesungen? Der Entwurf des Denkmals stammt übrigens vom Architekten Bruno Schmitz, der später das Denkmal zur Völkerschlacht von Leipzig baute. Ob das Lied auch bei dessen Einweihung gesungen wurde? Jedenfalls findet sich das Lied auch noch unter der Nummer 68.11 im Band «Schweizer Armee. Lieder und Gebete für Militärgottesdienste beider christlicher Konfessionen». In den Kirchengesangbüchern ist es längst ökumenisches Gut. War es nicht immer die vom Judaismus «lobe mit Abrahams Samen» (Gal. 3, 29) gereinigte Version, also neu «lob ihn mit allen, die seine Verheissung bekamen»?
Heisst das: Für den aufgeklärten, wissenschaftlich orientierten Bürger bleibt die Musik, während für den Volksfrommen, solange er das Leben des Durchschnittes leben darf, immer noch gilt, «denke dran, was der Allmächtige kann» und «er ist dein Licht, Seele, vergiss es ja nicht»?
Erkenntnis und Gefühl
Wie können wir unter den heutigen Voraussetzungen auch dem Text der Kantate gerecht werden? Zunächst, indem wir zwei Typen einander gegenüberstellen: Zum einen: den Wissenschaftler, der sich des Verstandes bedient. Er konstruiert, experimentiert, verifiziert, falsifiziert, lebt mit Modellen und Theorien. Seine Welt ist die instrumentelle, anwendungsorientierte Welt. Jede ideologische Überhöhung gefährdet seine Welt der steten Vorläufigkeit. Er anerkennt daher seine Begrenztheit und bleibt auf dieser Ebene, der Ebene der Bescheidenheit, notabene. Gott kommt hier zu Recht nicht vor. Es geht nur ohne Gott. Wissenschaft hat mit unserem Text nichts zu tun. Ihr gehört die Ebene von Wissen und Erkenntnis.
Zum anderen: den Volksfrommen oder Volksreligiösen, wie ich ihn nenne, der angesichts eines hehren Momentes in Geschichte und Natur, oder sei es nur bei einem Fussball- oder Tennisspiel, vor einem Faszinosum steht, das alles übersteigt, was er zu begreifen vermag. Es löst ein Staunen, Zittern und Gerührtsein, ja Tränen zum unterdrücken oder Laufenlassen aus. Es ist die Ebene des Gefühls, die Welt des «Faszinosum und Tremendum», des Heiligen, wie Rudolf Otto es nennt. Es ist Ausdruck des Verbundenseins mit einem den Menschen übersteigenden Allumfassenden, Übergreifenden, Transzendenten. Es ist der Ort des «Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit» und beim Bildungsbürger dazu des «Sinns und Geschmacks für das Unendliche», um die Begriffe von Friedrich Schleiermacher anzuführen.
Charles Taylor nennt dieses Gefühl in seinem 2009 bei Suhrkamp erschienenen Buch «Ein säkulares Zeitalter» unter dem Leitwort «Wie fühlt es sich an, als Subjekt in die Welt gestellt zu sein?» «le désir d’étérnité», die Sehnsucht nach Ewigkeit, nach Transzendenz, religiöse Ergriffenheit. Er bedauert die «Exkommunikation religiöser Gefühle aus der Kirche» und fordert die katholische Kirche auf, die «spirituelle Sinnsuche» wieder in die Kirche zu integrieren.
Warum solche Gegensätze postulieren? Man kann doch die Musik einer Kantate geniessen, auch ohne als aufgeklärter Mensch mit dem Text etwas anfangen zu können. Und warum sollen Erschauern und Gerührtsein, religiöse Ergriffenheit und Sehnsucht nach Transzendenz oder einfach Dankbarkeit im modernen Leben nicht Platz haben?
Gefühle gehören natürlich auch heute zum Menschsein, sie sind einfach da, was immer der Stellenwert sein mag, den man ihnen einräumt. Und wer diese Musik hört, kann von den Gefühlen, die sie auslöst, ja nur mitgetragen werden.
«Ein Gefühl des Heiligen» will sogar der Autor des zitierten NZZ-Artikels «bestenfalls gelegentlich bei der Musik, etwa bei Stücken von Bach» lokalisieren.
Aber es bleibt der Text. Was ist mit ihm? Kann, darf man einfach von ihm absehen?
Musik und Text
Text und Musik sind bei Bach komplementär. Wir haben es inhaltlich mit protestantischer, lutherischer Theologie des 17. Und 18. Jahrhunderts zu tun, in unserer Kantate eher mit pietistischer, herzensfrommer Theologie. Bach komponiert für den Menschen seiner Welt. Diesem Zeitgenossen sind das Alte und das Neue Testament geläufiger als den Menschen unserer Welt. Den Katechismus kennt er. Er war Gegenstand der Unterweisung, des kirchlichen Unterrichts. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt heisst Katechismus «was von oben her ertönt».
Und damit sind wir im Zentrum meiner Betrachtung. Unsere Welt ist die westliche Welt, geprägt durch die christliche Kultur, heute säkularisiert mit christlichem Antlitz, wie Charles Taylor meint. Wir hören Bach, haben aber Mühe mit dem Text. Wir kennen kaum mehr den Hauptbezug, die Bibel, stehen daher den Textinhalten «a priori» fremd und hilflos gegenüber. Besuchen wir Kirchen mit Wandmalereien, einst Visualisierungen von Texten, die nur wenige lesen konnten, so brauchen wir heute einen Führer, der uns die Bilder erklärt. Und noch wichtiger: Wir verstehen sie, angeregt von unserer aktuellen Befindlichkeit, von unserem Gefühl her oder korrelieren sie befremdet mit der Ebene von Wissen und Erkenntnis, wie sie der Wissenschaft eigen ist. Beide Male sind wir Subjekt, die biblischen Darstellungen Objekte. Die biblischen Geschichten und ihre Tradition werden also heute entweder auf der Ebene des subjektiven, allenfalls religiösen Gefühls oder des Für-wahr-Haltens wahrgenommen und beurteilt.
Hören wir auch so Musik oder ist es nicht gerade umgekehrt? Die Musik ist Subjekt und nimmt uns mit. «Wir sind Ohr», heisst eine schöne Formulierung, nicht Kopf, Hirn oder Verstand, wir tauchen ein, wir sind mitgerissen. Auf genau diesen Vorgang zielen auch die biblischen Bilder und Texte. Der Mensch ist in seinem Menschsein angesprochen, hört die Botschaft, die auf ihn gerichtet ist. Er ist nicht Subjekt, sondern Objekt. Der Inhalt widerfährt ihm, er stellt sich unter das Wort, das sich an ihn richtet. Und das Vertrauen in dieses Wort, in diese Anrede heisst Glauben. Vertrauen meint, sich Verlassen auf, nicht den Gegensatz zu Wissen, also Nichtwissen. Noch deutlicher wird die lateinische Wortform «credo», ich glaube, ich setze mein Herz auf etwas.
Der Kantatentext ist demnach als Antwort auf ein Angesprochensein zu verstehen. Er ist zweites Wort, nachdem das erste gehört wurde. Die verwendete Begrifflichkeit entspricht zwar der jeweiligen Zeit. Sie ist jedoch Bekenntnis, nicht Erkenntnis; sie ist Lob und Dank nach Erhalt einer bestimmten Gabe, nicht allgemeine Stimmung.
Beim ersten Wort, dem «logos», geht es indes um seinen Inhalt. Er ist der Weg der jüdisch-christlichen Botschaft mit ihrem Sitz in den Texten der Bibel und ihrer Interpretation in Gesellschaft und Kultur durch die Jahrhunderte. Zentrum ist die Botschaft vom Geschick des Nazaräers, von dem es in Johannes 19, 5 heisst: «idou ho anthropos», «ecce homo», «siehe da, der Mensch».
Bachs Texte, woher er sie auch bezog, sind ohne diesen Hintergrund von Offenbarung, dem schönen, deutenden und oft missverstandenen Wort, nicht zu verstehen. Aus dem Griechischen modern übersetzt meint Offenbarung «Erschliessung», «Eröffnung». Musik und Text sind Antworten auf die Eröffnung dieses christlichen Horizontes.
Wie Farbe und Form in der bildenden Kunst, Klang und Form in der Musik, wechseln auch in den Texten Worte und Begriffe in der Zeit. Bachs Texte widerspiegeln zwar die jeweilige Zeit, sie sind aber die inhaltliche Antwort auf das Angesprochensein im jüdisch-christlichen Kulturkontext.
Die Weisheit biblischer Tradition
Gemeint ist das jüdisch-christliche Daseins- und Weltverständnis. Aus der Tradition des Alten und Neuen Testamentes und bestätigt durch die anfangs erwähnten Ereignisse unserer Zeit wissen wir, dass der Mensch ein gebrochenes, ambivalentes Wesen, ein «krummes Holz» (Kant) ist. Altertümlich gesprochen, ein Sünder. Er bedarf der Vergebung und der Verzeihung. Es gibt keine Selbsterlösung durch Verdienste, Verhalten oder Anstrengungen aller Art. Der christliche Mensch bei Bach oder in der Gegenwart steht unter dem Kreuz, dem Symbol des Gebrochenen und des Leidens in der Welt. Er steht aber auch unter der Gnade des Lebens und Gestaltens in Freiheit als kreativem Auftrag. In horizontaler Richtung auf die Mitmenschen bezogen und in vertikaler Richtung auf Gott bezogen, von dem der hebräische Name uns nur sagt, dass er der sei, als der er sich erweisen werde.
Die Erfahrung des Momentes der Gnade der Lebensfülle, wie und wo auch immer, stimmt das Lob Gottes an. Die Bilder und Begriffe sind Zeitdokumente und Ausdruck des Wortes «Wes Herz voll ist, des geht der Mund über». Hier, in der Antwort des Glaubenden ist den Gefühlen freier Lauf zu lassen. Der Pianist András Schiff sagt dazu: «(…) und wenn man Bach spielt und hört, da muss man von dieser Kraft des Glaubens überwältigt sein. Wer das nicht empfindet, ist kaum zu retten.» Sie unterscheidet sich so von der Selbstbefragung, Selbsterfahrung, vom Selbstgespräch oder vom Selbstbesingen eines Menschen oder vom Unverständnis des eindimensionalen Rationalisten, der in den Texten von Bachs Kantaten nur vergangene Mythologie erkennen kann.
Bachs Kantaten tragen auch im Text weiter, was immer schon gehört und erzählt wurde. Sie berichten von unserem Woher und Woraufhin. Ihre Texte sind die biblischen Gebrauchstexte unserer Kultur. Das Hören von Bachs Kantaten provoziert uns zur eigenen Antwort auf das Angesprochensein im christlichen Kontext. Dabei ist nicht nur auf die Musik zu hören, sondern ebenso auf den Text. Er verlangt vom Hörer zudem gelegentlich auch die Anstrengung der Übersetzungsarbeit.
Ist das Verstehen der Kantatentexte, wie erwähnt, dem geschichtlichen Wandel ausgesetzt, so im Übrigen auch das Verstehen der Texte der wissenschaftlichen Ebene und natürlich derjenigen volks-frommer Gefühle. Darin unterscheiden sie sich gerade nicht. Trotzdem gibt es verschiedene Ebenen für uns Menschen, die nicht miteinander verwechselt werden sollten.
Der Text unserer Kantate, wie alle christlichen, geistlichen Texte, ist daher einer ganz bestimmten Ebene zuzuordnen. Diese benennt David Hollaz (1648–1713), ein älterer Zeitgenosse Bachs und Rektor eines lutherischen Lyzeums, mit dem Diktum: «Theologia est sapientia eminens practica», die christliche Theologie ist eine hervorragend lebenspraktische Weisheit. Sie bezieht sich auf unsere Lebenswelt, in der wir Menschen nicht vom Brot allein leben.