Warum betrübst du dich, mein Herz
BWV 138 // zum 15. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe d’amore I+II, Streicher und Continuo
Als Grundlage für diesen Kantatentext dienten dem unbekannten Librettisten die ersten drei Strophen des Liedes «Was betrübst du dich, mein Herz», das da-mals Hans Sachs (1494-1576) zugeschrieben wurde und als Hauptlied für diesen Sonntag vorgeschlagen war. Überschrieben war es in den Gesangbüchern mit «In der Theurung» oder «Trostreiche Gedanken über die Vorsorge Gottes, auch wider die Haus- und Bauch-Sorge». Ferner nimmt die Kantate Bezug auf das Evangelium des Sonntages aus Matthäus 6, einem Abschnitt aus der Bergpredigt, in welchem ebenfalls von falscher und echter Sorge die Rede ist. Die Choralmelodie und drei ihrer Textstrophen werden in den Sätzen 1, 3 und 7 dieser Kantate zitiert. Die enge Bindung an einen Choral wird ein Jahr später zum Kompositionsprinzip eines ganzen Kantatenjahrgangs von Bach.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Susanne Frei, Leonie Gloor, Noëmi Sohn, Mirjam Berli
Alt/Altus
Antonia Frey, Jan Börner, Simon Savoy, Olivia Heiniger
Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Clemens Flämig
Bass
Michael Blume, Fabrice Hayoz, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Plamena Nikitassova, Monika Baer, Christine Baumann, Christoph Rudolf, Ildiko Sajgo
Viola
Susanna Hefti, Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe d’amore
Luise Baumgartl, Thomas Meraner
Fagott
Susann Landert
Theorbe
Juan Sebastian Lima
Orgel
Norbert Zeilberger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Christoph Wolff
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
10.09.2010
Aufnahmeort
Speicher AR
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Unbekannt
Erste Aufführung
15. Sonntag nach Trinitatis,
5. September 1723
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die ebenfalls aus Bachs erstem Leipziger Jahrgang stammende Kantate BWV 138 ist von deutlich modernerem Zuschnitt als das mindestens stilistisch im Weimarer Idiom beheimatete «Was soll ich aus dir machen?» (BWV 89). Tatsächlich wirkt sie mit ihrer Cantus-firmus-Basierung, der abwechslungsreichen Interaktion von chorisch vorgetragener Liedsubstanz und freisolistischen Kommentaren sowie der überzeugenden orchestralen Einkleidung des reformatorischen Gesangs wie ein Vorausblick auf die Choralkantaten von 1724/25.
Das mit einem elegischen Streichersatz sowie warm aussingenden Oboen d’amore besetzte Orchestervorspiel verleiht dem Eingangschor eine zugleich schwebende wie tragische Grundstimmung, die über den Gegensatz von Vokalsoli und Tutti hinaus von der altertümlichen Melodik des aus dem Umfeld der Nürnberger Meistersinger stammenden Liedes Gebrauch zu machen versteht. In der nahezu stillstehenden Bewegung sowie den anrührenden Klagen des gesamten Klangapparates bricht sich eine bis zur Todessehnsucht reichende Verzweiflung Bahn, die den späteren Umschlag zum heilsamen Gottvertrauen umso wirkungsvoller vorbereitet.
Das folgende Recitativo con coro setzt diesen Gestus der Selbstanklage in zu Herzen gehenden Metaphern fort, was die im schlichten Kantionalsatz mit Oboennachspielen vorgetragenen Liedzeilen wie einen Trost aus weiter Ferne erscheinen lässt. Die gegen die Strophenlogik verstossende Wiederholung des in imitativem Motettengestus vorgetragenen letzten Zeilenpaars («dein Vater und dein Herre Gott») erscheint dabei als bewusste Entscheidung im Sinne einer den Choral ebenso ästhetisierenden wie deutenden Romantik «avant la lettre».
Entsprechend weicht der Widerstreit von Klage und Zuversicht im folgenden Tenorrezitativ reflektierter Selbstermutigung, die alle Sorgen «unter Kissen» stopft und in der direkt anschliessenden Menuettarie des Basses ein befreit aussingendes Gotteslob ermöglicht. Zwar werden in den Couplets dieser Rondoform weiterhin «Sorgen», «Armut» und «Leid» in Erinnerung gerufen. Doch behält die zunehmend hymnisch ausgeführte Devise «Auf Gott steht meine Zuversicht, mein Glaube lässt ihn walten» wirkungsvoll das letzte Wort.
Ein kurzes Rezitativ gibt dem Alt Gelegenheit, diese mühsam errungene Seelenruhe als Ausblick auf das kommende himmlische Leben zu preisen, bevor der Schlusschoral Bach als sensiblen Erneuerer der kirchenmusikalischen Tradition zeigt. Wie schon in seiner Leipziger Bewerbungskantate «Jesus nahm zu sich die Zwölfe» (BWV 22) vom Sonntag Estomihi 1723 entschied er sich auch jetzt gegen einen schlichten Choralsatz, sondern kleidete die Wiederkehr des Eingangsliedes in einen federnden Orchestersatz ein, der die elegische Kantabilität und affektmässige Schärfe der Tonart h-Moll zu klingender Blüte bringt. Wie sich oboistische Bögen und flirrende Streichergirlanden dabei gegenseitig inspirieren und antreiben, ist von grosser Schönheit und verwandelt das alte Lied von 1561 in einen Gesang packender Aktualität und Lebensnähe.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Choral und Rezitativ (Alt)
Warum betrübst du dich, mein Herz?
bekümmerst dich und trägest Schmerz
nur um das zeitliche Gut?
Ach! ich bin arm,
mich drücken schwere Sorgen.
Vom Abend bis zum Morgen
währt meine liebe Not.
Daß Gott erbarm!
Wer wird mich noch erlösen
vom Leibe dieser bösen
und argen Welt?
Wie elend ists um mich bestellt!
Ach! wär ich doch nur tot!
Vertrau du deinem Herren Gott,
der alle Ding erschaffen hat.
1. Choral und Rezitativ
Der Chor singt die erste Strophe des Liedes, welche von gläubigem Gottvertrauen spricht. Im eingefügten Rezitativ hingegen klagt die Einzelstimme in zweifelnder Sorge. Ein Satz aus dem 7. Kapitel des Römerbriefes klingt an: «Ich elender Mensch! Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?» (Siehe BWV 48). Dieser Wechsel zwischen der Choralmelodie der «Gemeinde» (Gottvertrauen) und der rezitativischen Einzelstimme (zweifelnde Sorge) prägt die Sätze 1-3 und fasst sie zu einer grösseren, dramatischen Einheit zusammen.
2. Rezitativ (Bass)
Ich bin veracht’,
der Herr hat mich zum Leiden
am Tage seines Zorns gemacht;
der Vorrat, hauszuhalten,
ist ziemlich klein;
man schenkt mir vor den Wein der Freuden
den bittern Kelch der Tränen ein.
Wie kann ich nun mein Amt mit Ruh verwalten,
wenn Seufzer meine Speise und Tränen
das Getränke sein?
2. Rezitativ
In der Klage einer weiteren Stimme über die Gottverlassenheit klingen verschiedene Bibelzitate an, z.B. Psalm 42,4: «Tränen sind meine Speise geworden bei Tag und Nacht, da man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?»
3. Choral und Rezitativ (Sopran, Alt)
Er kann und will dich lassen nicht,
Er weiß gar wohl, was dir gebricht,
Himmel und Erd ist sein!
Sopran
Ach, wie?
Gott sorget freilich vor das Vieh,
er gibt den Vögeln seine Speise,
er sättiget die jungen Raben,
nur ich, ich weiß nicht, auf was Weise
ich armes Kind
mein bißchen Brot soll haben,
wo ist jemand, der sich zu meiner Rettung findt?
Dein Vater und dein Herre Gott,
der dir beisteht in aller Not.
Alt
der dir beisteht in aller Not.
Ich bin verlassen,
es scheint,
als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen,
da er’s doch immer gut mit mir gemeint.
Ach Sorgen,
ach werdet ihr denn alle Morgen
und alle Tage wieder neu?
So klag ich immerfort:
Ach! Armut! hartes Wort,
wer steht mir denn in meinem Kummer bei?
Dein Vater und dein Herre Gott,
der steht dir bei in aller Not.
3. Choral und Rezitativ
Der Chor singt aus der zweiten Strophe des Chorals von der Treue Gottes, der wohl weiss, was die Menschen nötig haben, wie es im Evangelium steht (Matthäus 6, 32). In den Rezitativen aber werden Einwände und Klagen des sorgenden Menschen laut. Gott ernähre zwar die «Vögel des Himmels» und die «jungen Raben» (Matthäus 6, 26; Psalm 147, 9); doch wer steht den klagenden Menschen in ihrem Kummer bei? Darauf antwortet der Chor zweimal mit den Schlusszeilen der Liedstrophe in sinngemäss abgeänderter Form: Der Librettist ersetzte das originale «mein Vater und mein Herre Gott» durch «dein Vater und dein Herre Gott, der steht dir bei in aller Not». Auf diese persönliche Zusage hin tritt die Wende ein.
4. Rezitativ (Tenor)
Ach süßer Trost! Wenn Gott mich nicht verlassen
und nicht versäumen will,
so kann ich in der Still
und in Geduld mich fassen.
Die Welt mag immerhin mich hassen,
so werf ich meine Sorgen
mit Freuden auf den Herrn,
und hilft er heute nicht, so hilft er mir doch morgen.
Nun leg ich herzlich gern
die Sorgen unters Kissen
und mag nichts mehr als dies zu meinem Troste wissen:
4. Rezitativ
Die Aufforderung zum Gottvertrauen wird angenommen und nach dem Wort aus 1. Petrus 5, 7 werden die Sorgen mit Freuden «auf den Herrn geworfen».
5. Arie (Bass)
Auf Gott steht meine Zuversicht,
mein Glaube läßt ihn walten.
Nun kann mich keine Sorge nagen,
nun kann mich auch kein Armut plagen.
Auf Gott steht meine Zuversicht!
Auch mitten in dem größten Leide
bleibt er mein Vater, meine Freude,
er will mich wunderlich erhalten.
5. Arie
Die einzige Arie dieser Kantate singt überzeugt von der Glaubenszuversicht. Aus Psalm 43, 4 stammt das Wort von «Gott, der meine Freude ist».
6. Rezitativ (Alt)
Ei nun!
so will ich auch recht sanfte ruhn.
Euch, Sorgen! sei der Scheidebrief gegeben.
Nun kann ich wie im Himmel leben.
6. Rezitativ
Nun sei den Sorgen der Scheidebrief gegeben. Nach 5. Mose 24, 1 kann ein Mann der Frau einen Scheidebrief geben, wenn er «etwas Schändliches an ihr gefunden hat».
7. Choral
Weil du mein Gott und Vater bist,
dein Kind wirst du verlassen nicht,
du väterliches Herz!
Ich bin ein armer Erdenkloß,
auf Erden weiß ich keinen Trost.
7. Choral
Die dritte von insgesamt 14 Strophen des Liedes bildet den Schlusschoral. Die Sorgen sind verabschiedet; es bleibt der Trost, dass Gott sein Kind nicht verlassen wird.
Christoph Wolff
«Einsichten in Bachs Arbeitsweise»
Der Komponist als musikalisch-theologischer Interpret.
Die Kantate «Warum betrübst du dich, mein Herz» zeigt modellhaft, wie Bach arbeitet: Er lässt sich vom Text leiten und gibt ihm zugleich auch musikalisch eine neue Dimension. Dabei gelangt er in der Verbindung von Wort und Musik zu jener unmittelbar packenden Lebendigkeit, die heute einen Teil seiner Aktualität ausmacht.
Das Nachdenken über Johann Sebastian Bachs Kantatentexte, die – genauso wie ihre Vertonung – nicht in der Sprache unserer Zeit reden, kann in ganz verschiedene Richtungen zielen, um einen Aktualitätsbezug herzustellen. Ungewöhnlich, wenngleich besonders nahe liegend, mag die im Folgenden zu entwickelnde Vorstellung vom Komponisten als Leser der von ihm in Musik zu setzenden Texte sein.
Tatsächlich war Bach ein besonders sorgfältiger und tiefschürfender Leser, der sich – trotz aller zeitlichen Bedrängnis, unter der seine allwöchentlichen Kantatenaufführungen standen – die Ruhe nahm, vor der eigentlichen Kompositionsarbeit seine Texte genau zu analysieren. Dabei ging es ihm hauptsächlich um ihren Inhalt, denn die Kantaten sollten ja musikalische Predigten sein und die Hörer als solche erreichen. Nicht weniger wichtig waren ihm freilich die unterschiedlichen poetischen Qualitäten und Strukturen der Texte, wie sie sich in biblischer Prosa, Gesangbuchliedern oder metrischer und gereimter Verslyrik zeigen, zumal sie den wesentlichen Ausgangspunkt für die gezielte Übersetzung der Worte in Töne bilden.
Viel Zeit blieb Bach für intensives Textstudium nicht, wenn wir uns einmal ein typisches Wochenschema der Kantatenproduktion verdeutlichen und dabei die weiteren beruflichen und familiären Verpflichtungen Bachs unberücksichtigt lassen. Es betrifft die ersten Jahre des 1723 angetretenen Thomaskantorats, die ihm zur Erstellung eines Kantatenrepertoires dienten. Später trat eine deutliche Entlastung ein, wenn er vorwiegend Wiederaufführungen vornehmen konnte. Doch in der Anfangsphase ging es höchst gedrängt zu. Am Sonntagnachmittag nach dem Vespergottesdienst konnte Bach frühestens damit beginnen, sich der Kantate für den folgenden Sonntag zu widmen, die dann in den ersten Tagen der Woche komponiert werden musste. Denn um die Wochenmitte musste mit dem Kopieren der vokalen und instrumentalen Aufführungsstimmen begonnen werden, damit noch ausreichend Zeit zum Einstudieren der meist anspruchsvollen Partien blieb und für die Gesamtprobe am Samstag alles gerichtet war.
Stimmig und bildhaft
Die Kantatentexte hatte Bach zuvor in Gruppen von etwa sechs ausgesucht, denn sie mussten als 16-seitige kleine Einzelhefte zum Mitlesen für jeweils mehrere Sonn- und Feiertage gedruckt und verkauft werden. So kannte er den Text bereits; wenn er mit der Vorbereitung der Komposition begann, hatte er sich vielleicht sogar Notizen gemacht. Bei der Auswahl der Texte spielten vor allem zwei Gesichtspunkte eine Rolle: erstens ein stimmiger Bezug zum Sonntagsevangelium, zweitens – und für Musiktexte des Barock ganz entscheidend – ihre Ausdruckskraft und Bildhaftigkeit. Beides trifft auch für die Kantate «Warum betrübst du dich, mein Herz» zu. So zunächst die Verbindung zur Evangelienlesung aus Matthäus 6, der Bergpredigt, mit Jesu Aufforderung, sich nicht kleingläubig zu sorgen. Dazu passen die ausdrucksstarken Verse des unbekannten Dichters wie etwa in Satz 1 «(…) / mich drücken schwere Sorgen. / Vom Abend bis zum Morgen / währt meine liebe Not.» Oder in Satz 6 heisst es dann gemäss dem Zuspruch der Bergpredigt «(…) / Euch Sorgen! sei der Scheidebrief gegeben. / Nun kann ich wie im Himmel leben.» Solch kontrastreiche Verse benötigt der Komponist, um durch entsprechende Musik die Gemüter der Hörer zu bewegen.
Der Text der Kantate BWV 138 zeichnet sich zudem darin aus, dass er ungewöhnlicherweise drei Strophen eines Kirchenliedes einbezieht. In die beiden Anfangsstrophen des nachreformatorischen Chorals «Warum betrübst du dich, mein Herz», der vielfach als Sonntagslied für den 15. nach Trinitatis gebraucht wurde, interpoliert der Dichter insgesamt vier frei gedichtete, kommentierende Abschnitte. Bach vertont sie als Rezitative, liest allerdings den zusammenhängenden Text ganz auf seine Weise. Denn er vertont drei von fünf Zeilen der ersten Choralstrophe doppelt und weist sie dem Solotenor zu. Dieser bietet die ersten drei Choralzeilen zunächst in freier, besonders expressiver Melodik, bevor der Choral vom Chor mit der zugehörigen Gesangbuchmelodie vierstimmig gesungen wird. Wir hören damit zu Anfang der Kantate Choraltext und Choralmelodie je zweimal: zuerst die Choralmelodie instrumental (in der 1. Oboe d’amore), also ohne Text; dann den Choraltext (im Tenor), aber ohne die Choralmelodie; schliesslich Choraltext und Melodie als Steigerung (im vierstimmigen Chor).
Was ist Bachs Idee hier? Der Choraltext «Warum betrübst du dich, mein Herz» (Hervorhebung: c. W.) ist ichbezogen. Das greift der Dichter auf, wenn es in seinen eingeschobenen Versen heisst «Ach, ich bin arm» beim ersten Mal (Alt), dann «ich bin veracht’» beim zweiten Mal (Bass), «ich armes Kind» beim dritten Mal (Sopran) und zuletzt «Ich bin verlassen» (wiederum Alt). Bachs Entscheidung, nun auch die ersten drei Zeilen des Liedes von einer Einzelstimme (Tenor) vortragen zu lassen und damit alle vier Chorstimmen auch solistisch zu verwenden, betont die Ichbezogenheit des Choraltextes. Er differenziert auf diese Weise symbolisch zwischen dem Kollektiv in Gestalt des vierstimmigen Gemeindechorals und dem Individuum in Gestalt der vier Einzelstimmen. Damit entsteht – über die Textvorlage des Dichters hinausgehend – ein vierfacher Dialog und damit gleichsam ein Miniaturdrama, das durch die Choraleinschübe des vierstimmigen Chores seine Gliederung erfährt. Bachs Originalpartitur verdeutlicht, dass er den gesamten Komplex um die ersten beiden Choralstrophen (die Nummern 1–3) als eine zusammenhängende textlich-musikalische Einheit versteht. Dies wird auch durch die geschlossene Tonart h-Moll unterstrichen.
Die in sich geschlossene Struktureinheit der Kantaten-Einleitung macht umso mehr Sinn, als mit dem Rezitativ Nr. 4 der Ton des Sorgens, der Not und des Kummers inhaltlich umschlägt in Zuversicht und Trost aus dem Glauben heraus. Bach unterstreicht diesen deutlichen Einschnitt durch den Tonartenwechsel nach G-Dur, ein strahlendes Melisma zum Wort «Freude» in der Mitte des Satzes, aber auch dadurch, dass er den Satz erneut dem Tenor zuweist. Hatte der Solotenor die Kantate mit der klagenden Frage «Warum betrübst du dich, mein Herz» eröffnet, so leitet er nun über in den zweiten Teil der Kantate mit den emphatischen Worten «Ach süsser Trost! / (…) / Nun leg ich herzlich gern / die Sorgen unters Kissen / und mag nichts mehr als dies zu meinem Troste wissen: / (…)». Hier zeigt sich, wie die musikalische Form der Kantate auch im Blick auf ihre inhaltliche Gestaltung mehr durch den Komponisten als durch den Textdichter bestimmt wird.
Umakzentuierung der Dichtung
Die Kantate kennt nur eine Arie, Satz 5. Das hat der Dichter so gewollt und durch die zentrale Aussage des Textes im regelmässigen jambischen Versfuss auch entsprechend hervorgehoben: «Auf Gott steht mei-ne Zu-ver-sicht, / mein Glau-be lässt ihn wal-ten.» Was aber macht Bach daraus? Das Metrum legt musikalisch einen auf- taktigen Dreierrhythmus nahe (3/4: «Auf | Gott steht | mei-ne | Zuver- | sicht»), aber Bach verzichtet auf den natürlichen Auftakt und deklamiert stattdessen: | «Auf Gott steht | mei-ne | Zu-ver- | sicht, | mein Glau-be | lässt ihn | wal– | ten.» | (Metrische Hervorhebungen: C. W.) Er erzielt damit andere Betonungen als der Dichter. Vor allem gelingt ihm dadurch die Hervorhebung von «meine» und «Zuversicht» sowie auch «mein Glaube» und insbesondere das melismatisch ausgedehnte «walten». Der nachdenkliche Leser Bach wird durch seine Umakzentuierung der Dichtung zum musikalisch-theologischen Interpreten. Seine eigene Textdeutung unterstreicht er durch eine stabile instrumentale Motivik sowie einen energisch pulsierenden Streichersatz, um damit den Gesamtcharakter von freudiger Zuversicht und Glaubensfestigkeit zu vermitteln.
Bach muss beim Lesen gegen Schluss des Textes ein besonderes Problem entdeckt haben. Denn die letzte Strophe von «Warum betrübst du dich, mein Herz» enthält in den Worten «(…) dein Kind wirst du verlassen nicht, / (…)» zwar einen leicht positiven Einschlag, dennoch verliert sie den Klageton nicht, zumal sie mit der Zeile endet: «(…) / auf Erden weiss ich keinen Trost.» Auch steht die Choral-melodie in Moll und passt damit ganz und gar nicht zur inhaltlichen Wende der Kantate in Richtung freudiger Zuversicht.
Wie überwindet der Komponist nun die Schwierigkeit, den Choral, den er zu Beginn der Kantate erstmals und so ausdrucksvoll von der dunkel gefärbten Oboe d’amore vortragen liess, von seinem angestammten Klagecharakter zu befreien, ohne ihn zu verfälschen? Bach gelingt, was fast der Quadratur des Kreises nahekommt, durch drei besondere Massnahmen. Erstens versetzt er den Choral in ein neues Metrum, einen 6/8-Takt. Zweitens nutzt er den damit gewonnenen Spielraum für einen aufgelockerten, aber sechsstimmigen und vom Choral unabhängigen Instrumentalsatz. Drittens gewährt er dem dominierenden Orchestersatz mit 46 Takten sehr viel Raum, wobei der eigentliche Choral nur 18 Takte beansprucht. Und mit der reichen und ausgebreiteten Figuration des Orchestersatzes erhält nun der Schlusschoral genau das, was ihm «eo ipso» fehlt: nämlich den doppelbödigen Charakter freudiger und fester Glaubenszuversicht, die immer noch vorhandene Sorgen und Klagen zu überwinden weiss und im instrumentalen Nachspiel letztlich die Oberhand gewinnt.
Die Kantate «Warum betrübst du dich, mein Herz» zeigt damit in beispielhafter Klarheit, wie sich Bach vom Text leiten lässt, ihm jedoch zugleich musikalisch eine neue Dimension verleiht und in der Verbindung von Wort und Musik eine unmittelbar packende Lebendigkeit erzielt, die auch den modernen Hörer im Banne hält.
Eine kurze Schlussbemerkung sei hier noch erlaubt. Die im September 1723 und damit wenig mehr als ein Vierteljahr nach Bachs Leipziger Amtsantritt entstandene Kantate scheint den Komponisten vom Text her besonders angesprochen und angeregt zu haben, vor allem in der Nutzung mehrerer, dem gleichen Kirchenlied entnommener Strophen. BWV 138 ist damit die einzige Beinahe-Choralkantate des I. Jahrganges, aber vermutlich dasjenige Werk, das Bach eine vielversprechende Idee eingab, nämlich: einen ganzen Kantatenjahrgang über Choraltexte und -melodien zu schreiben – eine Idee, die er dann mit den Choralkantaten von 1724/25 in die Tat umsetzte.