Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
BWV 126 // zu Sexagesimae
für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Trompete, Streicher und Basso continuo
Die im Rahmen des Choraljahrganges 1724/25 vorgelegte Vertonung dieses erzlutherischen Trutzliedes gehört nicht zufällig zu Bachs streitbarsten Kompositionen. Ihr wuchtiger Eingangschor bettet den aufgestörten Choralvortrag in einen kantigen Orchestersatz ein, dessen halsbrecherische Trompetenpartie in Moll von erregender Kühnheit ist. Dass alle Rettung als von oben kommendes Geschenk anzusehen ist, machen die beiden Arien mit ihrer abwärtsgerichteten Bewegung deutlich, in der sich sowohl die helfende Hand Gottes als auch die endzeitliche Verwerfung der lästernden Widermacht manifestieren. Das flehentliche Gebet um Erhaltung von Gotteswort und Kirche in aller Bedrängnis mündet in die berührende Bitte des Schlusschorals: «Verleih uns Frieden gnädiglich».
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Anna Walker, Maria Weber
Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Francisca Näf, Damaris Rickhaus, Simon Savoy
Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Tobias Mäthger, Sören Richter
Bass
Fabrice Hayoz, Grégoire May, Valentin Parli, Jonathan Sells, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Martina Zimmermann
Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Katharina Arfken, Philipp Wagner
Trompete
Lukas Gothszalk
Fagott
Gilat Rotkop
Cembalo
Christoph Anzböck
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Thomas D. Trummer
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
22.02.2019
Aufnahmeort
ev. Kirche St. Mangen // St. Gallen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erstmalige Aufführung
4. Februar 1725, Leipzig
Textdichter
Unbekannt – auf der Grundlage der Choralstrophen von
- Martin Luther (1483–1546) 1, 2, 3, 6a
- Justus Jonas d. Ältere (1493–1555) 4, 5
- Johann Walter (1496–1570) 6b
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Martin Luthers «Kinderlied, zu singen, wider die zween Ertzfeinde Christ und seiner heiligen Kirchen, den Bapst und den Türcken» von 1543 wurde nach der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg 1547 und den lähmenden Spaltungen der reformatorischen Bewegung zu einer Bekenntnishymne des trotzig beharrenden Luthertums. Angesichts der Koexistenz von protestantischer Mehrheitsbevölkerung und katholischem Dresdener Landesherrn war so etwas in Bachs Leipziger Wirkungszeit notorisch heikel; womöglich war es auch deshalb an einem Nebensonntag wie Sexagesimae leichter möglich als zum Reformationsfest, derlei konfessionelle Kontroverstheologie in Tönen zu zelebrieren. Während der Vakanz des Thomaskantorates 1755/56 bot der durch wichtige Bachabschriften ausgewiesene Chorpräfekt Christian Friedrich Penzel die Kantate dann tatsächlich zum Jubelfest des Augsburger Religionsfriedens am 29. September 1755 in beiden Leipziger Hauptkirchen dar, bevor sie zu Sexagesimae 1756 nochmals erklang. Der streitbare Duktus scheint offenbar die musikalischen Anforderungen der Kantate aufgewogen zu haben.
Ihr Eingangschor lässt die Kantate als Teil des Choraljahrgangs von 1724/25 erkennen und ist dabei eine der zupackendsten Musiken dieses Langzeitprojektes. Trotz seiner Molltonalität ist der Satz mit einem virtuosen Trombapart ausgestattet, durch den sich schon Bachs Trompetensolist Takt für Takt hindurchkämpfen musste. Die signalartige Melodik ruft kriegerische Anklänge hervor, die das mit Oboen und Streichern schlagkräftig besetzte Orchester als jene «protestantische Phalanx» agieren lassen, die das 19. Jahrhundert an etlichen Bachkantaten wahrnahm. Die chorischen Unterstimmen steigen mit gestischer Deklamation «Erhalt uns, Herr!» ein, während der breit aussingende Sopran jeden Zeilenschluss beschwörend dehnt. Dass Bach die Durchführung der ersten Liedzeile direkt in die Behandlung der zweiten übergehen lässt, erhöht die Eindringlichkeit dieses klingenden Sturmlaufs, der in einer greulichen Abwärtskoloratur auf «Mord!» ausser Kontrolle zu geraten scheint. Passend zur von Jesus Christus redenden dritten Liedzeile durchwärmt sich das Satzgefüge, ehe «Stürzen wollen von seinem Thron» erneut das Chaos eines Engelskampfes heraufbeschwört. In dieser kaum für ökumenische Verständigungstage geeigneten Musik findet sich die ganze Angst und Polemik des blutigen Reformationszeitalters eingefangen.
Demgegenüber kommt die Arie «Sende deine Macht von oben» als tenorale Bitte daher, wobei im betörenden Register zweier absteigender Oboen die Erhörung einkomponiert wirkt. Der klangschöne Triobeginn lässt an einen eleganten Kanzelredner denken, der die wüste Rhetorik der Luther-Zeit im aufklärerischen Sinne nobilitiert. Die ausgedehnte Doppelkoloratur «Deine Kirche zu erfreuen und der Feinde bittern Spott augenblicklich zu zerstreuen» verwandelt dabei alle Verletztheit in stentorhaft vorgetragene Zuversicht («Herr der Herren, starker Gott»).
Einen anderen Ansatz verfolgt das mit Choraleinsprengseln vermischte Rezitativ. Alt und Tenor verbinden sich zum beseelt ausgeschmückten Zeilenvortrag; die abwechselnd vorgetragenen diskursiven Passagen versuchen hingegen, die Liedaussage zu aktualisieren. So sei der «ärgste Feind» im Innern der Gottesstadt selbst zu finden, wobei unklar bleibt, ob mit der «Gefährlichkeit der falschen Brüder» die fünfte Kolonne des Katholizismus oder aber Pietisten und «Schwärmer» im Luthertum gemeint sind. Berührender sind da die Musik gewordenen Kommentare zur Überwindung des Todes, jenes «letzten Feindes» der Anfechtungsstunde.
Mit dieser Wendung in Innerlichkeit und Sterbebereitung könnte der Bogen der Kantate erfüllt sein. Doch hebt eine erstaunlich virtuose und ausgedehnte Bravourarie für Bass und Continuo nochmals die kämpferischen Momente in einer Weise hervor, die an das eifernde «Deposuit» des Bach‘schen Magnificat erinnert: «Stürze zu Boden, schwülstige Stolze.» Wessen Anschläge hier eigentlich zunichte gemacht werden sollen, ist allerdings nicht leicht zu entscheiden – es ist wohl eine Mischung aus Vernunft, Frau Welt und katholischer Hofverderbtheit, gegen die Bach mit tonmalerischer Freude einen Torpedo nach dem anderen abfeuert. Vielleicht brauchte es auch 1725 zuweilen einen ordentlichen Widersacher, an dem man sich im Sinne des seelischen Stressabbaus abarbeiten konnte.
Doch soll all dies nach Lesart des folgenden Rezitativs nur dazu dienen, Gottes Wort und Wahrheit offenbar werden zu lassen. Geschickt baut Bachs unbekannter Librettist dabei sowohl einen Bezug zum sonntäglichen Evangelium vom Sämann wie eine Wendung zum Frieden als Rahmen jedweder segensvollen Existenz ein.
Diesen irenischen Zug verstärkt die abschliessende Lutherstrophe «Verleih uns Frieden gnädiglich», in der man im Zusammenhang mit Johann Walters Ergänzung «Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit» von 1566 die territorialstaatliche Konsolidierung des eschatologischen reformatorischen Impulses der 1520er Jahre sehen kann. In dieses verbindliche Kantatenende vermag sich gar die lärmende Tromba mit warmem Glanz einzubringen. Ob das nun ein Friede des fairen Ausgleichs oder der Erschöpfung nach unentschiedenem Streit ist, mag jeder hörend selbst entscheiden. «Fried und gut Regiment» brauchen wir hingegen mehr denn je, und da wir in einer demokratisch verfassten Gesellschaft heute selbst die «Obrigkeit» sind, müssen wir uns diese umsichtige Lenkung immer auch selbst geben und zumuten – was erfahrungsgemäss schwerer fällt, als zornig auf allerlei Feinde loszupoltern…
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort,
und steur‘ des Papsts und Türken Mord,
die Jesum Christum, deinen Sohn,
stürzen wollen von seinem Thron.
1. Choral
1529 hatte Wien den türkischen Truppen unter Sultan Süleyman I. knapp widerstanden – als sich 1539 die Gefahr erneuerte, erbat Kurfürst Johann Friedrich ein Wort von Luther («Vermahnung zum Gebet wider die Türken», 1541). In diesem Kontext dichtete Luther «Ein Kinderlied, zu singen wider die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen, den Bapst und Türcken» – ein Lied, das später trinitarisch aufgebaut und ergänzt wurde durch Strophen von Jonas und Walter und so in die Gesangbücher einging. Die Kopfstrophe haben Bach und sein unbekannter Librettist integral übernommen, obwohl die zweite Zeile schon im 17. Jahrhundert vielfach abgemildert wurde. Bach entwirft dafür einen kämpferischen Orchestersatz, dessen endzeitlich drängende Effizienz durch eine von ruppigen Fanfarenklängen zu dahinjagenden Koloraturen wechselnde Trompetenstimme überwölbt wird, deren überraschender Einsatz in einem Moll-Stück die Erregtheit der Szenerie verdeutlicht. In diesen schlachtähnlichen Duktus passen sich die Singstimmen mit ihrer anspringend gestischen Linienführung wirkungsvoll ein.
2. Arie — Tenor
Sende deine Macht von oben,
Herr der Herren, starker Gott!
Deine Kirche zu erfreuen
und der Feinde bittern Spott
augenblicklich zu zerstreuen.
2. Arie
Die Aria entspricht der zweiten Strophe des Lutherliedes, die textlich vom Librettisten allerdings überarbeitet wurde zu der Bitte, die Kirche «zu erfreuen und der Feinde Spott … zu zerstreuen.» Die abwärtsgerichteten Linien des Oboen-Continuo-Trios sind ebenso wie die edel-heroische Tenorstimme vom Bild der von oben kommenden Rettung geprägt; der gegenüber dem Eingangschor merkliche Wandel der Klangfarbe verdeutlicht die Schönheit des Evangeliums und die dadurch bewirkte innere Kräftigung.
3. Choral; Rezitativ — Alt, Tenor
Alt
Der Menschen Gunst und Macht
wird wenig nützen,
wenn du nicht willt
das arme Häuflein schützen,
Alt, Tenor
Gott heilger Geist, du Tröster wert.
Tenor
Du weißt, dass die verfolgte Gottesstadt
den ärgsten Feind nur in sich selber hat
durch die Gefährlichkeit der falschen Brüder.
Alt, Tenor
Gib dein‘m Volk einerlei Sinn auf Erd,
Alt
daß wir, an Christi Leibe Glieder,
im Glauben eins, im Leben einig sei‘n.
Alt, Tenor
Steh bei uns in der letzten Not!
Tenor
Es bricht alsdann der letzte Feind herein
und will den Trost von unsern Herzen
trennen;
doch laß dich da als unsern Helfer kennen,
Alt, Tenor
g‘leit uns ins Leben aus dem Tod!
3. Choral; Rezitativ
Die tropierte, d.h. mit Rezitativen ergänzte 3. Choralstrophe Luthers nimmt aus dem Episteltext 2. Kor. 11, 26 die Warnung vor den falschen Brüdern und Feinden im Innern auf. Eine für Bach nicht ungewöhnliche Verknüpfung von Rezitation und Choralzitaten erfährt durch die zweistimmig verzierte Aussetzung der Liedzeilen eine besondere Wärme und Eindringlichkeit, die wie das Residuum des vertrauenden Gebets und der jenseitsbezogenen Weltabwendung im äusseren Getümmel wirkt und zeigt, wie genau Bach Luthers der Gewalt im Dienste des Glaubens gegenüber skeptische Haltung verstanden hat.
4. Arie — Bass
Stürze zu Boden schwülstige Stolze!
Mache zunichte, was sie erdacht!
Laß sie den Abgrund plötzlich verschlingen,
wehre dem Toben feindlicher Macht,
laß ihr Verlangen nimmer gelingen!
4. Arie
Die Bassarie ist eine den Text dramatisierende, aber auch sprachlich verbessernde Umarbeitung einer Strophe von Justus Jonas, die den drei Lutherstrophen angefügt worden war: Aus «…und stürz sie in die Grube ein, / die sie machen den Christen dein» wurde: «Stürze zu Boden schwülstige Stolze! / Mache zunichte, was sie erdacht!» (vermutlich eine Paraphrase von Psalm 73, 18–19). Einer solch bildkräftigen Poesie konnte kein barocker Komponist widerstehen – herabfahrende Zweiunddreissigstel-Ketten und kantige Drehklangsbrechungen setzen zur brummigen Sonorität des Basses die Vision vom Höllensturz aller Feinde Christi als triumphierendes Perpetuum mobile in Klang.
5. Rezitativ — Tenor
So wird dein Wort und Wahrheit offenbar,
und stellet sich im höchsten Glanze dar,
daß du vor deine Kirche wachst,
daß du des heilgen Wortes Lehren
zum Segen fruchtbar machst;
und willst du dich als Helfer zu uns kehren,
so wird uns denn in Frieden
des Segens Überfluß beschieden.
5. Rezitativ
Auch das Rezitativ ist eine Umdichtung einer JonasStrophe, mit welcher der Kerngedanke des Evangelientextes Lukas 8, 14–15 nun deutlicher und schöner herausleuchtet: Aus «So werden sie erkennen doch, / dass du, unser Gott, lebest noch» werden die strahlenden Sätze: «So wird dein Wort und Wahrheit offenbar / und stellet sich im höchsten Glanze dar.» Das, was Musik und Gottesdienst erstreben, wird jetzt ausgesprochen: eine Kirche, die wächst, Gottes Wort, das auf guten Boden fällt, als dessen Früchte sowohl Frieden als auch Segen.
6. Choral
Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten;
es ist doch ja kein andrer nicht,
der für uns könnte streiten,
denn du, unser Gott, alleine.
Gib unsern Fürst‘n und aller Obrigkeit
Fried und gut Regiment,
daß wir unter ihnen
ein geruh‘g und stilles Leben führen mögen
in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Amen.
6. Choral
Der Schlusschoral ist der unveränderte Text der von Luther so schön übersetzten lateinischen Antiphon «Da pacem domine» – eine Bitte, die durch eine Zusatzstrophe Johann Walters «Gib unsern Fürst’n und aller Obrigkeit / Fried und gut Regiment» seine politische Konkretion und der Choralkantate einen jenseits aller Emotionen und Ängste gültigen Schluss gibt. Die Rückkehr zum a-Moll des Eingangschores setzt an die Stelle streitbarer Verteidigung den gesammelten Ernst einer unerschütterlichen Tradition.
Thomas D. Trummer
Stürze zu Boden. Sich gegenseitig Wut zusprechen.
Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
Evangelische Kirche St. Mangen, St. Gallen
Kantate BWV 126
J. S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Freitag, 22. Februar 2019, 17.30 bzw 19.00 Uhr
«Er sackte in sich zusammen und fing an. Spielte von unten nach oben sozusagen, nicht wie alle anderen von oben nach unten.» (Ug36) Ist das nicht eine Selbstbeschreibung, ein Eingeständnis körperlicher Gebrochenheit, eines Gebrechens und mental tiefer Horizonte? Doch es ist keine Selbstbeschreibung, wenn man das bei diesem Dichter, bei dem so vieles erdichtet und dennoch nichts fiktiv ist, überhaupt sagen kann. Thomas Bernhard beschreibt Glenn Gould, den Virtuosen der Goldberg-Variationen. Vor wenigen Tagen, am 12. Februar, wurde der dreissigste Todestag des Autors begangen. «Kaum sass er am Klavier, war er auch schon in sich zusammengesunken gewesen, er sah aus wie ein Tier, bei näherer Betrachtung aber dann wie der scharfsinnige, schöne Mensch, der er gewesen war.» (Ug34) Bernhard beschreibt den eigentümlichen Pianisten, der vor dem Klavier hockt, nein kauert, sich anschleicht, als würde er verstohlen auf die Tasten zugreifen. Tatsächlich hatte Gould einen charakteristischen Stil, eine ungewöhnliche Körperhaltung, die er kaum zu ändern imstande war, auch das Bewegen der Lippen nicht. Sie waren Zeichen für höchste Konzentration und Perfektion. Goulds sonderbare Haltung vermittelt etwas Untertäniges, um nicht zu sagen Verwegenes und Verschwörerisches. Der Grund aber liegt in der Technik. Sein Lehrer Alberto Guerrero war der Überzeugung gewesen, dass Kraft und Stütze nicht aus den Oberarmen und Schultern, sondern aus dem Rücken kommen sollten. Bernhard, der diese Idee eigentlich hätte aufnehmen müssen, naturgemäss, wie er zu sagen pflegte, hat es dennoch nicht getan. Er beschreibt diese Exzentritäten, wie Gould seine eigene Normabweichung beschrieb, nicht, widmete dem Pianisten dafür einen ganzen Roman oder, sagen wir besser, ein Drittel. «Der Untergeher» kennt einen Ich-Erzähler, Glenn Gould und einen gewissen Wertheimer, ebenfalls Pianist, der sich kurz davor erhängt hatte, und zwar in Zizers bei Landquart, weshalb der Roman ursprünglich «Chur» hätte heissen sollen; sogar einen dementsprechenden Umschlagentwurf von Suhrkamp gab es schon. Alle drei, so heisst es, hätten gemeinsam bei Horowitz in Salzburg studiert, was naturgemäss erfunden ist.
Jetzt hören Sie mal in der Kantate, wie die Zweiunddreissigstel in prustenden Kaskaden nach unten stürzen. Die ganze Tonleiter. Zuerst 7 und dann 11. Dazwischen klettern die Töne in Achtelschritten wieder nach oben. Die Orgel keucht wie bei einem hastigen Aufstieg. Dann erhebt sich die Bassarie, die Stimmlage, die Bernhard tatsächlich und nicht erdichtet auf dem Mozarteum studierte. Dieses Niederfahren – man hat Angst, dass sich die Celli die Saiten durchsäbeln –, dieses ungebremste Stürzen, dieses «Von oben nach unten», eine Lawine, ein Grollen, ein Beben, ein Höllensturz. Da ist keine Gebrochenheit, das ist ein Erbrechen. Hier wünscht sich jemand den Absturz der anderen, ja sogar den Mord. «Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steurʼ des Papsts und Türken Mord.» Das ist ein Appell und – bei allem Respekt für die theologische Autorität Luthers – ein Aufruf zum Komplott. Ein verängstigtes «Von unten nach oben». Gegen die anderen und das Establishment, es sprechen die Rechthaber gegen die Machthaber, vor allem gegen die Andersgläubigen. Der zweite Textabschnitt stammt von Justus Jonas, von dem sich ein schönes Gemälde in der Marienkirche von Halle an der Saale befindet. Er sitzt dort fest und schwer, mit steifem Rückgrat. Die Kirche befindet sich gleich neben dem Händel-Denkmal übrigens, der sich, auf dem Postament stehend, in Bronze, lässig auf ein Notenpult stützt, tänzelnd geradezu. Jonas bemüht einen kaum weniger besonnenen Ton. Die Ansage ist ironiefrei. «Stürze zu Boden. Schwülstige Stolze. Mache zunichte, was sie erdacht. Lass sie den Abgrund plötzlich verschlingen.»
Thomas Bernhard, das ist der Wutbürger aus der literarischen Avantgarde, der Wutbürger avant la lettre. Denn das Wort wurde erst 2010 geprägt, übrigens von einem Journalisten des «Spiegels», der dieses Phänomen des Aufbegehrens gegen die Entscheidungsträger, das Aufbegehren der empörten Bürger während einer Lesung von Thilo Sarrazin beschrieben hat. Dieser beckmesserische Ungeist, der immer gerade sitzt, niemals gebrochen, das darf man sagen, richtet sich gegen Zuwanderung und Islamisierung («Deutschland schafft sich ab», 2010, «Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht», 2018), sie sind das Feindbild, sonst stürze Deutschland zu Boden, obwohl sein Name «Sarrazin» – wie in einem Treppenwitz der Geschichte – seine Herkunft von den Sarazenen verrät. Ist die Bildung wirklich gefährdet oder gar der IQ? Die Wutbürger haben es zu einer gesellschaftlich, ja demografisch relevanten Gruppe gebracht, die – glaubt man Ralf Konersmann, dem grossen Begriffsanalytiker des deutschen Denkens – nur in zwei Stufen denken können, es gäbe «die Gerechten hier unten, die nicht die Macht, aber die Moral an ihrer Seite wissen». Es sei der «Fanatismus der Saturierten». Diese Menschen sprechen sich gegenseitig Wut zu.
Bei Bernhard ist die Suada, das Misanthropische, die Beschimpfung, die Schmähung ein Schmäh. Er ist der Wutbürger, nicht weil er selbst wütend war (NZZ), sondern weil er ein Ohr hatte für die Enthusiasten der Empörung und Daseinskomödien, die er übertreibt und überspielt. Aber ein wenig spielte schon Bach. Denn das Säbeln der Celli ist ernst und bedrohlich, aber nur beim ersten Mal, aber Bach setzte ein Dacapo. Wie jedes zweite Mal ist die böse Drohung in der Wiederholung nahe der Farce. Bernhard aber trieb die Farce auf die Spitze, mit verschmitzten Zügen um die stummen Lippen. Er spielte Literatur von unten nach oben. Aber er brüllte nicht und niemals fanatisch. Das trennt ihn von den Wutbürgern von heute. Stets bleibt eine Prise linkischer Ungewissheit. «Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.» Das schrie Bernhard dem Kulturminister 1968 nach, als dieser empört den Saal verliess, weil der Dichter von der Infamie und Geistesschwäche der Österreicher sprach. Dann sackte er in sich zusammen und wollte aussehen wie dieser schöne und scharfsinnige Mensch, der er eigentlich gewesen war.
Thomas Bernhard: Der Untergeher (Ug), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.
Paul Jandl: Vor 30 Jahren ist Thomas Bernhard gestorben, NZZ, 11.2.2019.
Ralf Konersmann: Die Widerspenstigkeit der Wutbürger, Hamburger Abendblatt, 31.3.2011.
Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht, München: FinanzBuch-Verlag, 2018.