Der faszinierende Reichtum des in seinen geistigen und musikalischen Dimensionen eigentlich kaum zu bewältigenden Werkes hat mittlerweile eine nahezu unüberschaubare Zahl von Einspielungen hervorgebracht, die jede neue Annäherung an die Passion unter einen erheblichen Erwartungsdruck setzt: Was kann zu einem derart bekannten Werk noch Neues gesagt werden? Wie soll und will man sich im Kanon der Referenzeinspielungen verorten? Welche Zugänge bleiben noch freizulegen, wenn selbst Felix Mendelssohn Bartholdys gekürzte Leipziger Bearbeitung von 1841 schon in mehreren Rekonstruktionen auf CD vorliegt, und sowohl im klassischen Fach als auch im Gewand der historischen Aufführungspraxis alle nur denkbaren Varianten ausgereizt scheinen?
In jüngerer Zeit wurde versucht, diesem verfestigten Erbe durch konsequentes Erkunden sowohl besetzungsmäßiger Varianten als auch der originalen Raumakustik doch noch neue Schichten abzutrotzen. So hat Paul Mc Creesh 2003 unter Bezug auf die Thesen Rifkins und Parrotts eine Version vorgelegt, die mit der Beschränkung auf Solosänger in allen Stimmen tatsächlich Neuland beschritt, dies jedoch mit einem betont farbigen und effektvoll registrierten Orgelcontinuo verband. Rene Jacobs hingegen versucht in seiner kürzlich veröffentlichten Einspielung, auf technischem Wege die Raumwirkung und die Entfernungen der historischen Thomaskirche von 1736 mit ihren Emporen und Orgeln zu rekonstruieren, um zu einem authentischen Klangbild dieser sicher bedeutsamsten und wohl auch größtbesetzten Kirchenaufführung Bachs in Leipzig vorzudringen.
Eine andere Annäherung an das Werk haben nun Chor und Orchester der J.S. Bachstiftung St. Gallen unter Leitung von Rudolf Lutz und unter Mitwirkung international renommierter Solisten vorgelegt. In ihrer – in Zusammenarbeit mit Radio SRF 2 Kultur realisierten –Einspielung geht es weniger um eine bestimmte Fassung oder Facette des Werkes und auch nicht um eine ideologisch überhöhte „letztgültige“ Zugangsweise. Im Kern handelt es sich um ein bemerkenswert unbefangenes und wohltuend direktes Herangehen, das sich jedoch als „Zauberformel“ erweist, um trotz der erdrückenden Rezeptions- und Einspielungsgeschichte wieder zum Kern und Grundtext des Werkes vorzudringen und damit dessen Darbietung gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen – oder besser: auf den musikalischen Instinkt und das mitdenkende Herz zurückzuführen. War doch zur Zeit ihrer Entstehung die Matthäus-Passion weder ein Eckstein des internationalen Oratorienrepertoires noch ein über Generationen hinweg tradiertes und dabei zusehends abgeschliffenes kirchenmusikalisches Monument, sondern ein Werk von erregender Neuheit und Radikalität, für das Bach all seine Kunst und Kreativität mobilisierte, um dem dramatischen Geschehen bei Jesu Passion und Tod eine zugleich würdige wie eindringliche und die Sinne der Zuhörer anrührende Gestalt zu geben. So, wie die im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts noch brodelnd neue und von vielen Theologen misstrauisch beäugte Gattung der musikalischen Passion für Bach eine besonders spannende Herausforderung darstellte, erweist sich die relative Randlage St. Gallens im Reigen der Bachzentren als hörbarer Vorzug des Projektes. Trotz der seit nunmehr fast einem Jahrzehnt anhaltenden Bemühungen der Stiftung um die zyklische Aufführung sämtlicher Bachkantaten besteht hier noch ein erheblicher Entdeckungsbedarf, der es erlaubt, sich von den vielerorts eingeführten Vorprägungen und Darbietungstraditionen freizumachen und einen unverstellten eigenen Zugang zu finden. Diese Neugier auf die Musik und Handlung, diese unverbrauchte Frische hört man der Einspielung mit ihren beschwingt federnden Tempi und ihrer Orientierung am natürlichen Affektausdruck allenthalben an. Dass die Konzerte und Tonaufnahmen der Stiftung grundsätzlich Live-Charakter tragen und improvisatorische Zugänge und Ergänzungen die Spielpraxis ihres Ensembles prägen, erweist sich nun selbst bei dieser im Nachgang zu drei Konzertaufführungen 2012 realisierten Studioaufnahme als großer Gewinn. Erhält die Musik durch diesen Geist des spontanen und risikofreudigen Musizierens doch jene szenische Prägnanz und Gewalt sowie jenen subtilen Charme zurück, der ihr unter der Last einer gewaltigen Partitur nicht selten verloren geht. Voraussetzung für diese Sicherheit und Freiheit ist natürlich ein akribisches Studium der Musik und ihrer Voraussetzungen, mit dem sich Dirigent und Ausführende wie für eine Gipfeltour zum naheliegenden Säntis gerüstet zu haben scheinen …
So angegangen, realisiert sich auch die liturgisch-theologische Einbindung und Aussage nicht als äußerlich herangetragenes Konzept, sondern von innen heraus – aus der Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit des Musizierens. Nicht selten in ein allgemein menschliches Drama von Schuld, Seelengröße und Massenpsychologie umgedeutet, behält die Passion im souveränen Abschreiten der Bachschen Satzfolge auch außerhalb einer gottesdienstlichen Darbietung jederzeit ihren unverzichtbaren Entstehungs- und Deutungshintergrund als lutherische Vespermusik zum Karfreitag. Dieses (berechtigte) Vertrauen in die Kraft, Effektivität, Genialität und Geistlichkeit der Bachschen Tonsprache prägt die Aufführung in all ihren Details. Von tragender Bedeutung sind dabei wie stets die beiden Personen Jesus und Evangelist. Ersterem verleiht Peter Harvey eine rare Klarheit und Sensibilität, die ihn zugleich als erhabenen Gottessohn wie als intensiv am Geschehen beteiligten Menschen porträtiert. Charles Daniels trägt die biblische Erzählung mit überlegener Sprachmacht und brennendem Interesse vor, wobei er als aufführungspraktische Variante zusätzlich die Tenorarien übernimmt. Die Sopran-, Alt- und Bass-Solopartien befinden sich bei Joanne Lunn, Margot Oitzinger und Wolf Matthias Friedrich ebenfalls in bewährten Händen. Die Rollen der kleineren Soliloquenten konnten bemerkenswerter Weise vollständig aus dem Chor heraus besetzt werden.
Dessen mit 4-5 Sängern pro Stimme zwar schlank, jedoch dezidiert ensemblemäßig besetzte beide Vokalchöre erreichen mit ihren jugendlichen gemischten Stimmen durchgehend eine Frische und Deutlichkeit, die dem Klang des Bachschen Schülerensembles näher kommen mag als ein routinierter Kammerchor oder gar ein solistisch konzipiertes Doppelquartett. Dem entspricht ein gut aufeinander eingespieltes Orchester, dessen beide Teile und Stimmführer sich dennoch je eigene Klangfarben erarbeiten. Angesichts der Verbundenheit zahlreicher Mitwirkender mit der Lehrpraxis der Basler Schola Cantorum sowie generell der Schweizer Alte Musik-Szene verstand sich die Verwendung originalgetreuen Instrumentariums samt entsprechender Spielweisen nahezu von selbst. Dagegen entspricht die Mitwirkung eines Knabenchores – hier die von Markus Teutschbein geleitete Knabenkantorei Basel – im Cantus firmus des Eingangssatzes einer erst im 19. Jahrhundert aufgekommenen, jedoch klanglich reizvollen Besetzungstradition.
Die Nutzung einer gemeinsamen Continuogruppe für beide Orchester reflektiert bewusst nicht die Spätfassung von 1736, sondern orientiert sich an der langwierigen Entstehungsgeschichte des zunächst nur einchörigen Werkes. Sie setzt an die Stelle der räumlichen Stereowirkung eine durchgängige Konzentration auf das klanglich-satztechnische Fundament und seine kreative Realisierung im Sinne der schulbildenden Generalbaß-Kunst Bachs mit ihren textbezogenen „wunderlichen Figuren“ (J. Chr. Kittel).»
Dr. Anselm Hartinger