Sie werden aus Saba alle kommen

BWV 065 // Epiphanias/Dreikönigsfest

Für Tenor und Bass, Vokalensemble Horn I+II, Blockflöte I+II, Oboe da caccia I+II, Streicher und Basso continuo

Die zum Epiphaniasfest 1724 komponierte Kantate ist eine rechte Dreikönigsmusik, in der die herrschaftlichen Hörner zu den Blockflöten und tiefen Oboen der Hirtenwelt an der Krippe hinzutreten und mit ihnen dialogisieren. Entsprechend dominieren warme und festliche Töne sowie schwingende Dreierrhythmen; das Kopfmotiv des Eingangschores hat Bach auch für das grosse C-Dur-Orgelpräludium BWV 547/1 benutzt, das nicht zufällig in Organistenkreisen als «Diakonissen-Walzer» bekannt ist. Dass der Kantatentext zugleich darauf hinweist, jenseits aller Schätze das Herz der Gläubigen als wahre Morgengabe zu betrachten, trägt eine ethische Dimension in die Komposition hinein, die wie ein spannungsvoller Vorausblick auf das anbrechende neue Jahr wirkt.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 65

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Sebastian Noack

Chor

Sopran
Simone Schwark, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger Alexa Vogel, Anna Walker, Mirjam Wernli

Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Dina König, Francisca Näf, Simon Savoy

Tenor
Manuel Gerber, Achim Glatz, Tobias Mäthger, Joël Morand

Bass
Serafin Heusser, Simón Millán, Daniel Pérez, Retus Pfister, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Ildiko Sajgo, Cecilie Valter, Aliza Vicente Aranda

Viola
Peter Barczi, Sarah Mühlethaler, Rafael Roth

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Guisella Massa

Corni da caccia
Stephan Katte, Olivier Picon

Blockflöte
Annina Stahlberger, Teresa Hackel

Oboe da caccia
Andreas Helm, Thomas Meraner

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

 

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Arend Hoyer

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
15.01.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
6. Januar 1724, Leipzig

Textdichter
Jesaja 60, 6 (1. Satz); Johann Spangenberg (2. Satz); Anonym (Sätze 3–6); Sebastian Franck (7. Satz)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Kantate BWV 65 wurde am 6. Januar 1724 erstmals aufgeführt. Passend zum Rang des Epiphaniasfestes ist ihr Eingangschor von feierlichen Tönen und einem beschwingt zeremoniellen Charakter geprägt. Die Kombination prunkvoller Hörner sowie pastoraler Blockflöten und Oboen da caccia illustriert das biblische Zusammentreffen von Königen und Hirten an der Krippe, in das der strahlende Morgenstern hineinzuleuchten scheint. Das kleinteilige Konzertieren der Instrumentalgruppen wird abgelöst von imitierenden Passagen und syllabischen Klangflächen des Chores, aus denen sich beinahe unmerklich eine weiträumige Fuge herausschält. Daraus entwickelt sich einschliesslich festgehaltener Gegenthemen eine komplexe Struktur, ehe Bach mit den festlichen Hornklängen und Unisoni des Beginns die nötige Abrundung schafft. Dass er den majestätischen Fluss des Eingangsthemas später in das Orgelpräludium C-Dur BWV 547/1 verwandelte, belegt seine Wertschätzung dieser eingängigen Inventio.

Überraschend folgt darauf mit dem Choral «Die Kön‘ge aus Saba kamen dar» – einer Strophe des Liedes «Ein Kind geborn zu Bethlehem» – ein weiterer Tuttisatz. Was 1724 im archaischen Duktus der alten Liedmelodie der gemeindlichen Aneignung des zuvor konzertant gepriesenen Festtagsgeschehens diente, wurde in Abschriften des choralversessenen 19. Jahrhunderts als eigentlicher Kantatenbeginn missverstanden.

Das folgende Bassrezitativ verknüpft in zeittypischer Weise Geschehnisse und Bezüge des Alten wie des Neuen Testamentes. Das von Jesaja verheissene Reis Jesse ist in Bethlehem erblüht und die Weisen und ihre Geschenke werden zur vorbildhaften Aufforderung, sich auch selbst an die Krippe zu begeben und wie der selige Simeon im Jesuskind das «Licht der Heiden» zu erkennen. Die Bassarie exponiert warme und tiefe Klänge der Oboen da caccia über einem lakonischen Continuofundament; sie bekräftigt den bereits im Rezitativ angeklungenen Gedanken, dass das glaubende Herz das edelste Geschenk sei, dessen der Mensch überhaupt fähig ist. Entsprechend ist selbst das Gold aus dem antik-afrikanischen Eldorado- Land Ophir viel zu gering – alle eitlen Weltschätze haben an Jesu Krippe nichts zu suchen. Dass die Kritik am mammonschürfenden Bergbau der «aus der Erde gebrochenen Gaben» die Axt an die Wurzel des sächsischen Wohlstands legte und von Bachs späterem eigenem Anteilsbesitz Lügen gestraft wurde, rückt diese moralische Position in die Nähe eines allzu gut gemeinten Neujahrsvorsatzes.

Das Tenorrezitativ erneuert die eindringliche Bitte, das demütige Herz nicht zu verschmähen, das dabei selbst als ein Werk Gottes aufgefasst wird und von daher «des Glaubens Gold», den «Weihrauch des Gebets» und «die Myrrhen der Geduld» in sich trägt. Der von Gott durch den Glauben verwandelte Mensch wird so zum grössten vorstellbaren Reichtum der Erde, der auf die erneuerte Gemeinschaft mit Jesu im Himmel vorausblicken lässt.

Derart mit Gott versöhnt, stimmt der Tenor in seiner Arie eine Art geistliches Menuett an, das ähnlich wie der Eingangschor prachtvoll und spielerisch zugleich daherkommt. Im eleganten Schmelz der Partie wird das edle Herz zum kostbar verpackten Geschenk. So naht man sich zugleich selbstbewusst und demütig einer Hoheit – eine Idealvorstellung, an der sich der Mensch Bach im Umgang mit seinen realen Obrigkeiten lebenslang abarbeitete.

Nach diesem konzertanten Suitensatz wäre der Schlusschoral geeignet, die Botschaft der Kantate verständlich zusammenzufassen. Allerdings hat Bach in seiner Partitur keinen Hinweis auf die gewünschte Textunterlegung hinterlassen – die aufführungspraktische Wahl des Chorals ist insofern stets zugleich Deutung. Während die Neue Bach-Ausgabe eine Strophe aus Paul Gerhardts «Ich hab in Gottes Herz und Sinn» präferierte, folgt diese Aufnahme einem auf das Coburger Gesangbuch von 1645 zurückgehenden Vorschlag Martin Petzolds.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die zum Epiphaniasfest 1724 komponierte Kantate stellt mit dem Episteltext Jesaja 60, 1–6 und dem Evangelientext Matthäus 2, 1–12 die königlichen Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe ins Zentrum – und verinnerlicht diese zum Geschenk des eigenen Herzens an Jesus. Bachs Kantate ist eine schwungvolle Dreikönigsmusik, in der die herrschaftlichen Hörner zu den Blockflöten und tiefen Oboen der Hirtenwelt an der Krippe hinzutreten. Entsprechend dominieren warme und festliche Töne sowie schwingende Dreierrhythmen; das Kopfmotiv des Eingangschores hat Bach auch für das C-Dur-Orgelpräludium BWV 547/1 benutzt. Dass der von einem unbekannten Librettisten stammende Kantatentext darauf hinweist, jenseits aller Schätze das glaubende Menschenherz als wahre Morgengabe zu betrachten, fordert zu jener Konzentration auf das Wesentliche auf, die uns in unserer gegenwärtigen Situation ebenso nottut wie den Leipzigern der Bach-Zeit.

1. Chor

«Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herren Lob verkündigen.»

1. Chor

Der Eingangschor legt mit dem Vers 6 aus dem Episteltext Jesaja 60, 1–6 die Betonung auf die Gaben, welche dieser Vision einer Völker- und Königswallfahrt gemäss nach Zion mitgebracht werden: «Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herren Lob verkündigen.» Die Achtelketten und Fanfarenanklänge des eröffnenden Hörnerpaares setzen den Ton für eine erhaben-festliche Musik, in die dennoch ambitionierte fugierte Abschnitte eingearbeitet sind – Bachs heilige Könige sind offenbar nicht nur herrschaftliche Repräsentanten, sondern auch emsig tätige Gottsucher.

2. Choral

Die Kön’ge aus Saba kamen dar,
Gold, Weihrauch, Myrrhen brachten sie dar,
alleluja, alleluja!

2. Choral

Es folgt als Bestätigung die aus dem Lateinischen übersetzte 8. Strophe des Liedes «Puer natus in Bethlehem», eines ursprünglich gregorianischen Gesangs, der in verkürzten deutschsprachigen Bearbeitungen bereits im 16. Jahrhundert in evangelischen Gesangbüchern erscheint. Durch die mit den Singstimmen mitlaufenden Flöten und Oboen wird auch klanglich die Brücke zum Eingangschor geschlagen.

3. Rezitativ — Bass

Was dort Jesaias vorhergesehn,
das ist zu Bethlehem geschehn.
Hier stellen sich die Weisen
bei Jesu Krippen ein
und wollen ihn als ihren König preisen.
Gold, Weihrauch, Myrrhen sind
die köstlichen Geschenke,
womit sie dieses Jesuskind
zu Bethlehem im Stall beehren.
Mein Jesu, wenn ich itzt an meine Pflicht gedenke,
muß ich mich auch zu deiner Krippen kehren
und gleichfalls dankbar sein:
Denn dieser Tag ist mir ein Tag der Freuden,
da du, o Lebensfürst,
das Licht der Heiden
und ihr Erlöser wirst.
Was aber bring ich wohl, du Himmelskönig?
Ist dir mein Herze nicht zuwenig,
so nimm es gnädig an,
weil ich nichts Edlers bringen kann.

3. Rezitativ — Bass

Das Rezitativ verbindet die Verheissung des Episteltextes Jesaja 6 mit der Erfüllung im Evangelientext Matthäus 2 – nun kommen die Weisen nach Bethlehem, huldigen dem Königskind und bringen ihre Geschenke: Gold, Weihrauch, Myrrhen. Der unbekannte Textdichter fragt: «Was aber bring ich wohl, du Himmelskönig?» – und beantwortet die Frage gleich selbst: «Ist dir mein Herze nicht zu wenig, so nimm es gnädig an, weil ich nichts Edlers bringen kann.» Die sonore Basslage des Solisten lässt einzelne Textpassagen wie einen Vorausblick auf die Jesus-Begegnung des lebenssatt harrenden Simeon erscheinen.

4. Arie — Bass

Gold aus Ophir ist zu schlecht,
weg, nur weg mit eitlen Gaben,
die ihr aus der Erden brecht!
Jesus will das Herze haben.
Schenke dies, o Christenschar,
Jesu zu dem neuen Jahr!

4. Arie — Bass

Die Bass-Arie führt den Gedanken fort: Gold zähle zu den «eitlen», irdischen Gaben, Jesus wolle unser Herz, dieses solle man ihm im neuen Jahr zum Geschenk machen! Zwischen der pastoralen Klangfarbe der beiden Oboen da caccia und der teils lapidar distanzierenden, teils aber auch kunsthaft ausgesponnenen Motivik tut sich eine Spannung auf, in der man auch mit Blick auf die abgedunkelte Moll-Tonalität zugleich die vertrauende Einfalt der ersten Krippenbesucher wie die Dürftigkeit aller menschlichen Anstrengung sehen kann.

5. Rezitativ — Tenor

Verschmähe nicht,
du, meiner Seelen Licht,
mein Herz, das ich in Demut zu dir bringe.
Es schließt ja solche Dinge
in sich zugleich mit ein,
die deines Geistes Früchte sein.
Des Glaubens Gold, der Weihrauch des Gebets,
die Myrrhen der Geduld sind meine Gaben,
die sollst du, Jesu, für und für
zum Eigentum und zum Geschenke haben.
Gib aber dich auch selber mir,
so machst du mich zum Reichsten auf der Erden;
denn, hab ich dich, so muß
des größten Reichtums Überfluß
mir dermaleinst im Himmel werden.

5. Rezitativ — Tenor

Als Bittgebet nun die Worte des Rezitativs, Jesus möge dieses dargebrachte Herz nicht verschmähen, denn es enthalte, so die schöne Interpretation, «des Glaubens Gold, der Weihrauch des Gebets, die Myrrhen der Geduld» – alles Früchte des göttlichen Geistes. Und schliesslich die mystische Bitte: «Gib aber dich auch selber mir» – denn das werde den Bittenden «zum Reichsten» auf Erden wie später im Himmel machen. Der Wechsel in die höhere Tenorlage entspricht der pathetischen Intensivierung des Redegestus.

6. Arie — Tenor

Nimm mich dir zu eigen hin,
nimm mein Herze zum Geschenke.
Alles, alles, was ich bin,
was ich rede, tu und denke,
soll, mein Heiland, nur allein
dir zum Dienst gewidmet sein.

6. Arie — Tenor

Wiederum bekräftigt die Arie den im Rezitativ formulierten mystischen Gedanken des gegenseitigen Herzensgeschenks und führt ihn über in eine Ethik des Dienstes: Sprechen, Taten, Gedanken sollen dem Heiland gewidmet sein. Wie so oft kleidet Bach den Affekt wiedergewonnener Glaubenssicherheit in eine tänzerische Form eingängiger Perioden, die wirkungsvoll mit dem feinsinnig differenzierten Orchestertutti korrespondieren – wahre Demut strahlt eben am hellsten, und sie kann sogar hörbar frohgemut machen!

7. Choral

Hier ist mein Herz, Herr, nimm es hin,
Dir hab ich es ergeben.

Welt immer fort aus meinem Sinn
Mit deinem bösen Leben:
Dein Tun und Tand hat nicht Bestand,
Das bin ich worden innen.

Drum schwingt aus dir sich mit Begier
Mein freier Geist von hinnen.

7. Choral

Der in der Originalpartitur nur mit «Choral» überschriebene vierstimmige Satz enthält keinen Hinweis auf den vorgesehenen Strophentext. Meist wird die 10. Strophe aus Paul Gerhardts «Ich hab in Gottes Herz und Sinn» gesungen, die heutige Aufführung folgt dem Vorschlag Martin Petzoldts in seinem Bach-Kommentar und schliesst mit der ersten Strophe des gleichnamigen Liedes Sebastian Francks aus dem Coburger Gesangbuch von 1645: «Hier ist mein Herz, Herr, nimm es hin.»

Reflexion

Arend Hoyer

Bach und der Notfallseelsorger

Je mehr ich mich mit Bachs Musik beschäftige, desto mehr werde ich mir bewusst, dass sie mich jedes Mal in eine andere Welt versetzt. Es sind nicht die 300 Jahre alten Klänge, die dies bewirken, oder die blumige Lyrik der Kantaten – irgendwann gewöhnt man sich an sie, und sie werden einem gegenwärtig. Nein, der Anspruch, den diese Musik, diese in Töne gekleidete Dichtung an mich stellt, konfrontiert mich mit einem Weltverständnis, wofür mein Verstand nicht geschaffen wurde. Was an mich herangetragen wird, ist in Wort und Ton komprimierte Erfahrung, ist im Gewand von Lyrik und Musik gekleidete Wissenschaft.

An dieser Stelle ist es wichtig, uns des enormen Kulturbruches bewusst zu werden, der zu Bachs Lebenszeit Leipzig gerade noch verschont bzw. dessen Vorboten die Stadt gerade erst erreichen und Bachs Musik gerade eben noch streifen, ohne sie tiefer zu beeinflussen. Die eigentlich weltoffene Messestadt Leipzig befindet sich mit ihrem Kult- und Musikbetrieb erst noch an der Schwelle zur Aufklärung – ich verstehe darunter die jüngere, harte Aufklärung, wie sie ein Immanuel Kant wenige Jahrzehnte nach Bach deutlich vertreten wird; die Gestalt von Aufklärung, die nicht mehr zwischen dem Buch der Natur und dem Buch der Offenbarung zu vermitteln trachtet, sondern das Individuum ganz allein auf den eigenen Verstand stellt und wohl noch Natur, aber kein Buch mehr gelten lässt, keine Tradition – und noch weniger eine Geschichte im Kanon der erkenntnisleitenden Diskurse duldet wie die der Weisen aus dem Morgenland. Woran wir uns seither gewöhnt haben, ist Erkenntnis ohne Erbe, ohne gesammeltes, vermitteltes Wissen, ohne Griechisch oder Latein.

Genau darauf baut aber die Kultur auf, im Rahmen derer Bach seine Musik schreibt: die griechische und römische, die vorderorientalische Antike, Bücher ohne Ende – ganz abgesehen vom Buch der Bücher –, Namen, Referenzen, eine Kompilation von Lehrgebilden und einzelnen Lehrsätzen, eine Aufschichtung von Erfahrungen, Zusammenhängen und Erzählungen; eine Welt, die irgendwie und geheimnisvoll zusammenhält, eine Einheit von Theologie, Philosophie, Geometrie, Naturkunde, Mathematik, Astronomie, Rhetorik: Wissenschaft als Kunst und Kunst als Wissenschaft, dies alles regional verschieden und konfessionell miteinander konkurrierend, aber letztlich zusammenhängend, eine mystische Einheit bildend, Dies- und Jenseits miteinander ins Gespräch bringend. Kunst verflüssigt das über die Jahrhunderte gesammelte und komprimierte Wissen: Über Mass, Zahl und Gewicht lassen sich alle Phänomene erschliessen und aktualisieren: die christliche Offenbarung mit den Kulturschätzen der heidnischen Antike, die Predigt mit der griechischen und römischen Rhetorik, die Oper mit Jesus, der Gottesdienst mit dem Alltag. Alt und neu ergänzen einander, Einsicht und Andacht, Lust und Ernst, Humor und Wahrheit, Ordnung und Freiheit, Prunk und Einfalt, Armut und Masslosigkeit: Alles zusammen ohne Unterscheidung, das eine in das andere übergehend, Natur und Geist, Wissen und Glauben, Körper und Seele, Denken und Fühlen, das Individuum und das Ganze, Widerspruch und Weisheit, ich, du und wir, oben und unten, was gerade Mode ist mit dem Altbewährten. Das ist Bachs Wissenschaft – wo es das All-Eine zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu verstehen gibt und alle Fragen beantwortet werden, wenn man innerhalb der Systeme nur lang genug navigiert.

Und wir heute stehen an einem ganz anderen Ort und sind für das All-Eine völlig blind geworden. Die zu Königen mutierten Weisen aus dem Morgenland sind orientalisierende Romantik und weiter nichts. Ein Wohlgeruch aus Tausendundeiner Nacht mit seinen edlen Hölzern, Gewürzen, Räucherharzen, eine bei Mond- und Kometenschein über Dünen geführte Karawane mit ihren Kameltreibern, dumpfe Trommeln schlagenden und näselnde Schalmeien spielenden Musikern. Ganz entsprechend können wir nicht anders, als die Inszenierung der königlichen Prozession in den ersten beiden Sätzen dieser Kantate zu belächeln und den Versuch einer Aktualisierung in den darauffolgenden Arien und Rezitativen als sentimental abzuwerten.

In der Tat: Sentimentalität und Kitsch haben in meiner Arbeit als Seelsorger, insbesondere als Notfallseelsorger, nichts zu suchen. Hier ist eine Logik an ihr Ende gekommen: Eine Kleinfirma wurde in mühevoller Arbeit gegründet und zur Blüte gebracht. Jetzt aber sitzt eine Polizeibeamtin am nur zur Hälfte abgeräumten Frühstückstisch, die im fünften Monat schwangere Ehefrau mit Migrationshintergrund spricht in sich gekehrt wenig und nur gebrochen Englisch, der Bezirksarzt untersucht den Körper des heute Morgen an einem Herzinfarkt verstorbenen Vierzigjährigen.
Das ist unsere Welt, Fakten, an die unsere Lebensgeschichten irgendwann einmal stossen, früher oder später. Kein Entrinnen, kein «süsser Trost», wie in den Predigten eines Salomon Deyling, der gleichzeitig mit Bach in Leipzig wirkte. Kein Aufgehobenwerden in ein grösseres Ganzes, kein Bekenntnis ausser zu sich selbst und zur eigenen Leistung. Wichtig, sehr wichtig natürlich die Angehörigen und der Freundeskreis. Aber auch dort bleibt die hilflose Antwort auf alle Fragen dieselbe. Irgendwann spricht sie jemand aus: «Das Leben geht weiter.» Weiter… reicht unser Horizont nicht.
Und ich als Seelsorger, mittendrin, ermutige leise, für das Erlebte wieder eine Sprache zu finden und somit posttraumatischen Störungen vorzubeugen.

Weit näher als die Könige aus Saba und das dankbar sich ergiessende Herz der Bachkantate liegt uns die Geschichte des Scheiterns eines Torquato Tasso, wie sie Johann Wolfgang von Goethe in seinem gleichnamigen Künstlerdrama beschreibt. Tasso lebt als Künstler an einem italienischen Hof und scheitert nach Goethe an unerfüllter Liebe, unverstandener Kunst und der mit seinem Status verbundenen Unfreiheit. Kurz bevor der Vorhang fällt, lässt ihn Goethe vor Antonio, seinem persönlichen Feind und gleichwohl Begleiter in der Not, sprechen:

Zerbrochen ist das Steuer, und es kracht
Das Schiff an allen Seiten. Berstend reisst
Der Boden unter meinen Füssen auf!
Ich fasse dich mit beyden Armen an!
So klammert sich der Schiffer endlich noch
Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.

Dieses Bild des Seemanns, der sich an demselben Felsen festhält, an dem sein Schiff zerschellte, begleitet mich als Seelsorger und überhaupt als Theologe und Beobachter meiner Zeit und meines eigenen Lebens.
Es ist eine widersinnige und gleichzeitig unentrinnbar logische Gedankenfolge: Woran soll sich einer denn sonst halten als an dem Felsen, an dem sein Schiff zerschellte? So werden wir von Fakten weit mehr als von Gedanken geleitet und gesteuert und scheitern, die eine früher, der andere später an irgendeinem Felsen, dem der eigenen Gesundheit, dem einer Wirtschaftskrise, einer Glaubens-, Orientierungs- oder Beziehungskrise, klammern uns fest, suchen Antworten und finden natürlich keine – ausser: «Das Leben geht weiter.»
Ein corps à corps mit einem Leben, das einem in die Quere kommt wie Tassos Felsen, der zu einem Zeitpunkt auftaucht, an dem die eigene Logik an ein Ende geraten ist. Auf die Frage «Was nun?» erhalten wir als einzige Antwort: Weiter so! Der Leichnam des Mannes, der natürlich am Vorabend nicht zum Arzt gehen wollte, liegt noch intubiert am Boden. Das gemeinsame Kind wächst im Bauch der Ehefrau. Ist das nicht ein höhnisches Sinnbild des unentrinnbaren «Das Leben geht weiter»?

Zurück zu Bach:
Der Seemann mit seinem zerbrochenen Steuer hat natürlich auch bei ihm Platz – im idealtypischen Ich, in den geistlichen – wie weltlichen – Geschichten und Dialogen, die in den Kantaten, Passionen und Oratorien erzählt werden. Doch theologisch und philosophisch gesprochen reisst einem der Boden unter den Füssen nicht erst am Schluss des Dramas auf, sondern an dessen Beginn. Bachs Ichs wissen schon längst um ihre Abgründe, schlagen sich durch das Gewirr des Lebens, schnappen nach Luft, klagen sich selbst an und werden dabei von Poesie und Musik getragen, die gemeinsam Gestalten der Bibel, aber auch ein Herkules am Scheidewege, Sterndeuter und Könige neu in Szene setzen, um dieses irrende Ich besser auf seinen Versöhnungsprozess mit der eigenen Existenz begleiten zu können. Bachs Musik ist in meinen Augen das jeweils zur Verfügung gestellte Wissen vergangener Jahrtausende, das sich über sogar für unsere Ohren bisweilen überraschende Harmonien, Rhythmen und Anklänge an weitere Melodien und Texte dem Versand wie dem Gemüt erschliesst und beiden hilft, sich vom Felsen der eigenen Lebenstragödie zu lösen und sich begleitet und ermutigt wieder aufs offene Wasser zu wagen.

Im Verlauf meines Seelsorgeeinsatzes stehe ich, sitze und wandle durch das Familienhaus des Verstorbenen und spreche mal mit der Mutter, mal mit dem Vater, mal mit der Nachbarin. Eine Zeitlang sitze ich zusammen mit der jungen Witwe im Dachgeschoss. Angehörige kommen zu ihr und gehen wieder. Und ich sitze wie eine mesopotamische Skulptur aus dem Louvre aufrecht und nehme, die Hände ineinandergelegt, nicht viel Platz ein, aber Anteil am Geschehen und spreche, wenn die Stille erdrückend wird. Dies sehe ich im Augenblick als meine Aufgabe an und schaue die Frau mit Wohlwollen an als meist stummer Zeuge einer Wahrheit, die der Frau, den Anwesenden und mir selbst durch den wuchtigen Felsen noch versperrt bleiben muss, an dessen harter Flanke ihr Mann und ihr eigenes Leben heute Morgen gescheitert sind. Vielleicht lesen die Anwesenden in meiner Haltung und in meinen Zügen die Botschaft: «Das Leben geht weiter.» Vielleicht können sie aber auch aus dieser Szene die Solidarität der Gescheiterten herauslesen und aus der Zuwendung eines fremden, aber freundlichen und beinahe schon vertrauten Menschen wieder Mut schöpfen, für das künftige mit neuem Wissen und neuen Erfahrungen angereicherte Leben eine ebenfalls neue Sprache zu finden.

Bach und seine Wissenschaft bleiben mir fremd. Gleichwohl hilft diese mir, in einer der Rauheit der Fakten ausgesetzten Zeit den Boden nicht zu verlieren und mich als oftmals stummen Zeugen eines Lebens zu betrachten, das es immer schon gut mit uns gemeint hat – und auch jetzt gut mit uns meint.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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