Ach Gott, wie manches Herzeleid

BWV 003 // zum 2. Sonntag nach Epiphanias

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Posaune, Oboe d’amore I+II, Streicher und Basso continuo

Nach der innigen Begegnung mit dem Krippenkind sind die Lesungen der Epiphaniassonntage von der Trauer über den wieder verlorenen Jesus geprägt, wobei die barocken Librettisten die Suche nach dem in den Tempel aufgebrochenen Heilandsknaben in ein Sinnbild der auf die Wiederkehr des Erlösers wartenden Kirche verwandeln. Entsprechend durchziehen den Eingangschor der Kantate BWV 3 intensive Klagetöne, die dank der durchsichtigen Faktur schmerzhaft offen liegen und durch die sehnsüchtige Klangfarbe der Oboen d‘amore besonders zu Herzen gehen. Die Basslage der Choralmelodie greift diesen gedrückten Eindruck auch architektonisch auf. Auch für die Folgesätze dieser eindrücklichen Kirchenmusik hat Bach besondere Klangmittel eingesetzt – von der Vierstimmigkeit des litaneiartigen ersten Rezitativs über die bärbeissige Bitterkeit der Bassarie bis zur entrückten E-Dur-Tonalität und motivischen Verschlungenheit des mit einem schimmernden Instrumental-Unisono ausgestatteten Duettes.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Chor

Sopran
Lia Andres, Stephanie Pfeffer, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Maria Weber, Alexa Vogel

Alt
Antonia Frey, Stephan Kahle, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Lea Pfister-Scherer

Tenor
Zacharie Fogal, Joël Morand, Christian Rathgeber, Nicolas Savoy

Bass
Serafin Heusser, Daniel Pérez, Retus Pfister, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Marita Seeger, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Claire Foltzer, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Jakob Herzog

Violone
Markus Bernhard

Posaune
Henning Wiegräbe

Oboe d’amore
Katharina Arfken, Clara Espinosa Eucinas

Fagott
Susann Landert

Orgel
Nicola Cumer

 

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Christoph Quarch

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
12.02.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
14. Januar 1725, Leipzig

Textdichter
Martin Moller (Sätze 1, 2, 6)
unbekannter Dichter (Sätze 3 – 5)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die zum 2. Sonntag nach Epiphanias 1725 komponierte Choralkantate BWV 3 «Ach Gott, wie manches Herzeleid» bezieht sich in ihrem Libretto weniger auf das Sonntagsevangelium von der Hochzeit zu Kanaa, sondern gibt – nur wenige Wochen nach der weihnachtlichen Präsenz des Heilands – der Trauer um Jesu neuerliche Ferne ausgiebig Raum.

Entsprechend kommt der Eingangschor als schwerblütiges Adagio daher, das auch die einbrechende Dunkelheit nach dem Tod am Kreuz illustrieren könnte. Über einem lastenden Orgelpunkt und einem an der zweiten Liedzeile orientierten zurückgenommenen Streichersatz dialogisieren zunächst beide Oboen d‘amore mit einem gestisch sprechenden Motiv, das später zum klagenden «Ach Gott» vokalisiert wird. Dieser nahezu reglose Beginn kommt dann vom Continuo aus langsam in eine immer wieder vom Verzagen bedrohte Fahrt, die beim Einsatz der Singstimmen über Streicherseufzern herzzerreissende Intensität gewinnt. Dass der Cantus firmus dem von einer Posaune verdoppelten Bass übertragen ist, passt zur deprimierten Stimmung des Satzes, dessen fremdartige Modulationen und harmonische Härten ebenso wie die düster gestauten Zeilenschlüsse Momente endzeitlicher Verzweiflung in die Musik bringen. Die Oboen tragen dabei tapfer durch ein Klagelied, das durch den Seufzerrhythmus der Streicher wie ein Trauermarsch wirkt, dabei aber immer von einem A-Dur-Glutkern durchwärmt bleibt und in der komponierten Himmelswanderung des Sopranschlusses nicht ohne Hoffnung endet.

Auch das folgende Rezitativ bleibt auffällig choralbezogen – das vollständig auf der Liedsubstanz beruhende Continuoritornell setzt einen kämpferischen Kantionalsatz in Gang, der immer wieder von selbstkritischen solistischen Reflexionen durchzogen wird. Das lange Abschlusswort des Basses platziert dann eine sowohl auf Weihnachten zurückblickende wie auf die Passion hin ausgerichtete Botschaft.

Die folgende Arie belebt zwar diesen kompakten Gestus, ist jedoch von äusserst dichtem und melodisch vertracktem Charakter. Mit ihrer Besetzung allein für Bass und Continuo erschafft sie eine abgedunkelte tiefe Konstellation, die zu «Höllenangst und Pein» passt und aus der sich der «Freudenhimmel» des Herzens nur mühsam herausschält. Der ausgedehnte Satz hebt im Mittelteil den Namen Jesu heraus, ohne dass sich angesichts fortdauernder «Schmerzen» der Duktus nachhaltig aufhellt. Diesen Gedanken greift das folgende Tenorrezitativ auf, indem es die Entschlossenheit der Seele betont, mit Jesu zu verschmelzen und dessen Vorbild folgend Grab und Tod nicht zu scheuen. Dabei wird nach dem trüben cis-Moll der Arie ein verinnerlicht strahlendes E-Dur erreicht.

Im folgenden Duett hat sich dann selbst der Charakter des Quartaufsprunges gegenüber dem Eingangschor verwandelt. An die Stelle demütiger Seufzer ist jetzt die Entschlossenheit getreten, in festem Vertrauen allen «Sorgen zu trotzen». Das durchaus einengende konstruktive Gerüst aus einem quasi ostinaten Generalbass, einer instrumentalen Unisono- Oberstimme sowie den Singstimmen Sopran und Alt lässt allerdings deutlich werden, wie mühselig der Ausgang aus den fortbestehenden Banden von Daseinsangst und Kleingläubigkeit bleibt. Im tapferen Duettieren der beiden Singstimmen vermag man förmlich die über sich hinauswachsenden Knabensolisten der Bach‘schen Elitekantorei zu hören. Im Mittelteil führt dann das Wissen darum, dass Jesus das eigene Kreuz tragen hilft, zur Bejahung selbst des Leidens («Es dient zum Besten allezeit»), wobei das instrumentale Nachschlagmotiv wie eine Bekräftigung von höherer Warte aus wirkt.

Der Schlusschoral verleiht im Medium des kompakten Gemeindegesangs nochmals der Sehnsucht nach der «Wiedervereinigung» mit dem Heiland Ausdruck und hebt so den Bann des von Vereinsamung gezeichneten Eingangschores auch inhaltlich auf. Das mit dem Sopran mitlaufende Horn dunkelt dabei das wieder erreichte A-Dur sensibel ab.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate «Ach Gott, wie manches Herzeleid» zum 2. Sonntag nach Epiphanias wurde am 14. Januar 1725 erstmalig in Leipzig aufgeführt. Sie gehört zu Bachs Cho­ralkantatenjahrgang und beruht ausschliesslich auf dem achtzehnstrophigen Lied Martin Mollers (1547–1606), aus dem drei Strophen wörtlich zitiert werden. Die rest­lichen fünfzehn Strophen wurden vom unbekannten Textdichter mit Teilzitaten und Paraphrasen zum vor­liegenden Kantatenlibretto umgearbeitet. Dass kurz nach dem Weihnachtsfest solche Trauertöne erklingen, hängt mit den Vorgaben des Kirchenjahrs und mit der zeit­genössischen Interpretation der Evangelienlesung aus Johannes 2, 1–11 (Hochzeit zu Kana) zusammen – der Wein geht aus, «meine Zeit ist noch nicht gekommen». Sie wird als Krise menschlicher Existenz gedeutet. Einer anderen Interpretation zufolge ist es die nachweih­nachtliche Trauer über den wieder verlorenen Jesus, wo­ bei für den Librettisten die Suche nach dem im Tempel weilenden Heilandsknaben ein Sinnbild der auf die Wiederkehr des Erlösers wartenden Kirche ist. Für diese zugleich von Trauer wie Tapferkeit ge­prägte Textvorlage hat Bach besondere Klangmittel und Satzkonzepte gesucht, die zeigen, dass ihn das standardisierte Modell des Choraljahrgangs anhal­tend inspirierte. Die lange eher dunkleren Register der Kantate setzen dabei eine besondere Empathie frei, mit der die Musik sowohl von der menschlichen Bedrängnis als insbesondere von Jesus als bleiben­ dem «Schatz und Reichtum» redet. Jenseits von Selbst­mitleid oder Triumphgeste entsteht so ein klingendes Bild verhaltener Hoffnung, die gesetzte Grenzen ak­zeptiert und aus dem alten Chorallied erstaunlichen Trost zu schöpfen vermag. Während die Originalstimmen der Kantate als De­positum des Thomaner­-Chores im Bach­-Archiv Leip­zig verwahrt werden, befindet sich die autographe Partitur Bachs heute in Basler Privatbesitz.

1. Chor

Ach Gott, wie manches Herzeleid
begegnet mir zu dieser Zeit!
Der schmale Weg ist trübsalvoll,
den ich zum Himmel wandern soll.

1. Chor

Der Eingangschor bringt integral die erste von den achtzehn Strophen des Liedes «Ach Gott, wie manches Herzeleid» von Martin Moller aus dem Jahr 1587, das vom schmalen, «trübsalvollen» Weg zu Gott handelt. Ihn durchziehen feierliche Klagetöne, die dank der durchsichtigen Faktur des Satzes schmerzhaft offenliegen und durch die Klangfarbe der Oboen eindrücklich zu Herzen gehen. Entsprechend verkörpert der Aufwärts­ sprung des Kopfmotivs hier keine zielgerichtete Entschlossenheit, sondern das von Verlassen­heit und Trübsal förmlich herausgepresste Seuf­zen. Die von einer Posaune unterstützte Basslage der Choralmelodie setzt diesen niedergedrück­ten Eindruck architektonisch um; die im Sprung­motiv durchaus angelegte «Wanderung gen Him­mel» scheint hier noch weit entfernt und führt dann auch über zahlreiche emblematische Kreu­ze.

2. Rezitativ und Choral — Sopran, Alt, Tenor, Bass; Chor

Wie schwerlich läßt sich Fleisch und Blut
so nur nach Irdischem und Eitlem trachtet
und weder Gott noch Himmel achtet,
zwingen zu dem ewigen Gut.
Da du, o Jesu, nun mein alles bist,
und doch mein Fleisch so widerspenstig ist,
Wo soll ich mich denn wenden hin?
Das Fleisch ist schwach, doch will der Geist;
so hilf du mir, der du mein Herze weißt.
Zu dir, o Jesu, steht mein Sinn.
Wer deinem Rat und deiner Hülfe traut,
der hat wohl nie auf falschen Grund gebaut.
Da du der ganzen Welt zum Trost gekommen
und unser Fleisch an dich genommen,
so rettet uns dein Sterben
vom endlichen Verderben.
Drum schmecke doch ein gläubiges Gemüte
des Heilands Freundlichkeit und Güte.

2. Rezitativ und Choral

Im Chorrezitativ erklingt die zweite Strophe des Moller­-Liedes, allerdings ergänzt durch frei ge­dichtete, aus Bibelworten dazwischen eingefügte Tropierungen, die jeweils durch die vier Solo­stimmen gesungen werden. Danach folgt eine Zusammenstellung von Liedmotiven aus den Strophen drei und vier. Sie alle verstärken das Thema des schwachen, widerspenstigen «Flei­sches» – und lenken doch hin zu Jesu Wort und Werk, zu des «Heilands Freundlichkeit und Güte». Die im Rezitativ seltene vierstimmige Aussetzung der Choralzeilen verleiht dem Satz litaneiartige Züge. Dass das ebenfalls vom Choral geprägte Continuoritornell konsequent durch die Tonarten wandert, verleiht der liedgewordenen Textaussage einen zwischen resignierender Aus­weglosigkeit und haltgebendem Vertrauen chan­gierenden Nachdruck.

3. Arie — Bass

Empfind ich Höllenangst und Pein,
doch muß beständig in dem Herzen
ein rechter Freudenhimmel sein.
Ich darf nur Jesu Namen nennen,
der kann auch unermeßne Schmerzen
als einen leichten Nebel trennen.

3. Arie

Die Bassarie paraphrasiert die Strophen fünf und sechs des Liedes, um die Auflösung der Span­nung zwischen «Höllenangst» und «Freuden­himmel» auf den erlösenden Namen Jesu zu be­ziehen. Allein vom Continuo begleitet, verströmt die so vollständig in tieferen Klangbereichen ver­bleibende Bassarie mit ihrer vertrackten Seuf­zermotivik eine bärbeissige Bitterkeit, von der sich der besungene «Freudenhimmel» nur mit Mühe absetzen kann.

4. Rezitativ — Tenor

Es mag mir Leib und Geist verschmachten,
bist du, o Jesu, mein
und ich bin dein,
will ichs nicht achten.
Dein treuer Mund
und dein unendlich Lieben,
das unverändert stets geblieben,
erhält mir noch dein’ ersten Bund,
der meine Brust mit Freudigkeit erfüllet
und auch des Todes Furcht,
des Grabes Schrecken stillet.
Fällt Not und Mangel gleich von allen Seiten ein,
mein Jesus wird mein Schatz und Reichtum sein.

4. Rezitativ

Das Rezitativ umspielt Elemente der Jesusmys­tik aus den Strophen sieben bis dreizehn, in der trotz Todesfurcht schliesslich eine Freudigkeit und Gewissheit aufkommt und betont wird, dass Not und Mangel durch den Schatz und Reichtum Jesu aufgewogen sind.

5. Arie — Duett Sopran, Alt

Wenn Sorgen auf mich dringen,
will ich in Freudigkeit
zu meinem Jesu singen.
Mein Kreuz hilft Jesus tragen,
drum will ich gläubig sagen:
Es dient zum besten allezeit.

5. Arie — Duett

Das Duett von Sopran und Alt nimmt nochmals eben gehörte Motive aus den Strophen vierzehn bis siebzehn wieder auf – eine redundanzmin­dernde Straffung des ursprünglichen Liedtex­tes: «Wenn Sorgen auf mich dringen, will ich in Freudigkeit zu meinem Jesu singen» – und mün­det in den glaubensgewissen Satz: «Es dient zum Besten allezeit.» Das im entrückten E-­Dur ange­siedelte und mit einem schimmernden Instru­mental-­Unisono ausgestattete Duett lässt erstmals hellere Sphären erahnen. Aus dem seufzenden Quartsprung des Eingangschores ist ein ermuti­gender Impuls geworden, der durch die ver­schlungene Sorgenmaschinerie dieser Arie zum erwünschten Ziel trägt. Bach macht so das «freudige Singen» zum perfekten Ausdruck der Tapferkeit in Bedrängnis und bringt damit zu­ gleich die beseelte musikalische Tätigkeit als Königsweg zu Glaubensstärkung und Krisen­bewältigung ins Spiel.

6. Choral

Erhalt mein Herz im Glauben rein,
so leb und sterb ich dir allein.
Jesu, mein Trost, hör mein Begier,
o mein Heiland, wär ich bei dir.

6. Choral

Der Schlusschoral fasst mit der achtzehnten und letzten Strophe des Moller­-Liedes die tröstliche Perspektive der ganzen Kantate in der Form einer Bitte zusammen: «Erhalt mein Herz im Glauben rein, so leb und sterb ich dir allein.»

Reflexion

Christoph Quarch

Ach Gott, wie manches Herzeleid…

«Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit!» Der erste Satz schwingt nach. Er spricht vom Leid in schwerer Zeit oder vom Leid an einer schweren Zeit – einer Zeit wie dieser vielleicht, die reichlich Grund zu Leid und Kummer bietet. Nicht nur, weil die Covid-Pandemie schon viele Menschenleben forderte, sondern vor allem, weil sie zu erkennen gibt, wie wenig unsere westlichen Gesellschaften in der Lage sind, mit einer solchen Krise umzugehen: Wie wenig uns Technik, Wissenschaft und Ökonomie in die Lage versetzen, diese Krise als Chance zum Aufbruch zu nutzen; wie sehr wir in konventionellen Denkbahnen gefangen sind und in Bequemlichkeit erstarren. «Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit», so bin auch ich versucht zu seufzen. Ich spüre eine starke Resonanz mit diesem ersten Satz unserer Kantate. Aber auch nur mit diesem. Warum?

Der Satz ist adressiert an das, wovon er spricht: ans Herz. Und eben dort erzeugt er Resonanz. Was auf ihn folgt, erreicht jedoch mein Herz in keiner Weise. Es spricht den Kopf an – und den Willen. Es dominieren darin Worte wie ich «soll», «muss» oder «darf». Es geht darin um «zwingen» und um «wollen». Es geht darin um einen Kampf des Subjekts mit sich selbst, um einen inneren Konflikt, der einem alten Sprachspiel folgend zwischen «Fleisch» und «Geist» besteht. So folgt dem Anfangsseufzer in der zweiten Strophe ein völlig anderes Thema, das nichts mehr mit dem Herzeleid in dieser Zeit zu tun hat – das in dieser Zeit begegnet –, sondern nur mit dem, was das Subjekt dieser Kantate an sich selbst beobachtet: mit der Schwierigkeit, das eigene «Fleisch und Blut» zu dominieren, ja zu «zwingen» – bis dahin, dass der Sopran das Evangelium zitierend klagt:

Das Fleisch ist schwach, doch will der Geist.

Statt von dem Herzeleid zu singen, das in dieser Zeit begegnet, ergeht sich die Kantate fortan in selbstbezüglichen Reflexionen des gläubigen Subjektes. Damit endet zwar die Resonanz des Herzens, doch macht das die Kantate für den Philosophen interessant. Inwiefern?

Die Kantate ist interessant, weil sie Einblick in die Genealogie unseres Denkens gewährt. Was soll das heissen? Nun, die Weise, wie wir denken, ist nicht selbstverständlich. Sie ist das Produkt einer verschlungenen Geschichte, in deren Folge sich ein Menschenbild durchsetzte, nach dessen Massgabe wir heute leben, arbeiten, wirtschaften, unsere Welt organisieren und vergeblich versuchen, einer globalen Pandemie Herr zu werden. Man hat dieses Menschenbild Homo Faber oder Homo oeconomicus genannt – je nachdem, ob man seine Technikbesessenheit oder seine Egozentrik in den Vordergrund rückt. Seine jüngste Erscheinungsform ist, wenn wir dem israelischen Bestsellerautor Yuval Noah Harari folgen, der Homo Deus, der nur das eine Ziel verfolgt: mit Hilfe avanciertester Technik den Tod zu bezwingen.

Doch Homo Deus, Homo oeconomicus und Homo Faber wurden überhaupt nur möglich, weil sich im Fahrwasser der Reformation die Idee durchsetzte, der Mensch sei das Wesen, das kraft seines Geistes wollen kann – und an dessen Willen zum Glauben sich entscheiden werde, ob es für ihn Rettung vom «endlichen Verderben» geben wird oder nicht. Unsere Kantate versetzt uns nun gleichsam in die Kindheit dieses Menschenbildes. Von fern her klingt in ihr wohl noch ein Nachhall mittelalterlicher Christusmystik mit, doch dominiert im Mittelteil – besonders im dritten Satz – die Selbstreflexion eines Subjektes, das sich einerseits im Dreieck von wollen, sollen und müssen konstituiert und andererseits im Gegenüber zu seinem Fleisch.

Charakteristisch für das sich hier in statu nascendi formende erst reformatorische und dann neuzeitliche Selbstverständnis ist die Fokussierung auf den Tod. Martin Luther hatte in einer Wittenberger Fastenpredigt die Gläubigen wissen lassen:

Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den anderen sterben, sondern jeder in eigener Person für sich mit dem Tod kämpfen.

Der Tod geriet damit zum Memento Mori, das den Gläubigen in die Verantwortlichkeit für sein eigenes Leben und Seelenheil ruft. «Höllenangst und Pein» zu bezwingen, obliegt nun dem gläubigen Subjekt, das «nur Jesu Namen nennen» darf, um die Schrecknisse des Herzens in einen «rechten Freudenhimmel» zu verwandeln bzw. «des Todes Furcht, des Grabes Schrecken stillet» und «die Brust mit Freudigkeit erfüllet». Deshalb ist nur logisch, wenn das gläubige Subjekt im fünften Satz bekennt:

Wenn Sorgen auf mich dringen,
Will ich in Freudigkeit
Zu meinem Jesu singen.
Mein Kreuz hilft Jesus tragen,
Drum will ich gläubig sagen:
Es dient zum Besten allezeit.

Zweimal bekennt das Subjekt, dass es will. Es will den «Freudenhimmel» und die «Freudigkeit», es will den Trost, es will die Rettung. Und es verlässt sich dabei ganz auf eine theologische Theorie, die diesen Willen fordert:

Da du der ganzen Welt zum Trost gekommen
Und unser Fleisch an dich genommen,
So rettet uns dein Sterben
Vom endlichen Verderben.

Als endliches Subjekt sieht sich der Gläubige in der Pflicht, seinen Trost und seine Rettung allein von Jesus zu erwarten – denn ihm ist verheissen, dass ihm beides zuteilwird, sofern er sich auf diese Rettung verlassen will. Und tatsächlich wächst ihm aus seinem Willen zur Rettung durch Jesus der erhoffte Trost in seiner «Höllenangst und Pein». Doch ist das alles eine rein kognitive Operation, die das gläubige Subjekt in sich selbst vollzieht. Trost und Rettung findet es in sich: in seinem Willen zum Glauben.

Diese Selbstbezüglichkeit ist das Alleinstellungsmerkmal des neuen Menschenbildes, das sich unter dem Einfluss der Reformatoren im 16. und 17. Jahrhundert entwickelt hat und das durch unsere Kantate durchklingt. Es kürt den Menschen zu einem wollenden Subjekt, das sich kraft seines Willens zum Glauben gegen zwei Gegner behaupten kann: gegen «Not und Mangel», die es in «Reichtum» zu wandeln trachtet, und gegen «Todes Furcht» und «Grabes Schrecken», die es in einen «Freudenhimmel» kehren muss. Im Wege stehen ihm dabei jedoch die Impulse und Neigungen des «Fleisches», das sich nicht so einfach «zwingen» lässt. Und das verursacht diesem Subjekt «Herzeleid».

Doch ist das auch das «Herzeleid», von dem die erste Zeile unserer Kantate spricht? Ist es das Herzeleid, das in dieser Zeit begegnet? Ist das ein gefühltes Leiden, das aus der Verbundenheit des Herzens mit der Welt entsteht – aus Empathie mit «dieser Zeit» – dieser konkreten Zeit? Ist es nicht vielmehr ein hausgemachtes Leid, das aus der Selbstbezogenheit eines auf seinen persönlichen Vorteil – bzw. seine Rettung und seinen Trost – bedachten Subjektes wächst; das Leid eines Subjektes, das sich auf seinen Heiland verlassen will – und dabei nicht so kann, wie es gern wollte?

Das auf sich selbst bedachte neuzeitliche Subjekt, das sich hier bekundet, findet weder Leid noch Trost in seinem Herzen, sondern ausschliesslich in seinem Kopf. Und deshalb endet meine Resonanz des Herzens schon nach dem zweiten Vers dieser Kantate. Bis dahin rührt sie mich im Herzen an. Was aber danach kommt, ist Theorie bzw. Theologie. Und leider schlechte Theologie, weil sie ein Menschenbild und eine Welt hervorgebracht hat, die mir heute Herzeleid bereiten – echtes Herzeleid einer Verzweiflung an der Selbstbezüglichkeit der Menschen. Gerade in dieser Zeit, gerade in einer Pandemie, die uns eigentlich dazu ermutigen müsste, aus der Trance unserer Selbstbezüglichkeit zu erwachen und einen neuen Sinn für Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Verbundenheit auszuprägen: mit unseren Mitmenschen und mit der Natur.

Stattdessen verhalten wir uns – auf nur leicht modifizierte Weise – ganz so wie das Subjekt unserer Kantate. Wir fürchten uns vor Not und Mangel, sind getrieben von Todes Furcht und Grabes Schrecken. Wir verlassen uns auf unseren Willen, der sich auf Verheissungen verlässt, die uns gegeben sind und denen wir vertrauen wollen, auch wenn wir sie nicht verstehen, zum Beispiel: Die (un)heilige Dreifaltigkeit aus Wirtschaft, Wissenschaft und Technik wird uns retten. Oder: Du kannst mithilfe deines Willens, deines Optimismus oder deiner positiven Psychologie deine Höllenangst in einen Freudenhimmel wandeln – auch wenn du die Traurigkeit, die Müdigkeit, die Niedergeschlagenheit, die Schwäche deines Leibes dafür «zwingen» musst. Sieht sich das Subjekt unserer Kantate als seines Glaubens und damit seiner Errettung Schmied, so sieht sich das Subjekt der Gegenwart mithilfe seiner Technik, Wissenschaft und Wirtschaft als seines Glückes Schmied.

Strukturell hat sich an unserem Selbstverständnis seit dem Jahre 1725 nichts geändert. Strukturell sind wir noch immer in Selbstbezüglichkeit gefangen und kreisen ständig um uns selbst. Und es ist nichts dadurch besser geworden, dass wir dabei nicht mehr auf den Beistand Jesu hoffen, sondern auf den Beistand von … Experten.

Tragisch ist das Ganze deshalb, weil unsere Selbstbezüglichkeit uns daran hindert, den Weg einzuschlagen, der uns wirklich retten könnte: den Weg, mit dem unsere Kantate anhebt: «Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit!» Ja, das Leid begegnet mir in dieser Zeit. Es ist nicht das Produkt der selbstbezüglichen Sorge um mein Wohlergehen, sondern der Begegnung mit der Welt, die mich im Herzen anrührt: mit den mutlosen Menschen, die in der Pandemie ihre Sinnperspektive verloren haben, oder mit den Jugendlichen, die sich um ihre Jugendzeit betrogen sehen. Aber nicht nur sie verursachen mir Herzeleid, sondern auch die empathiefreien Politiker*innen, die uns regieren, oder die saturierten Nutzniesser der Krise.

Wer achtsam durch die Welt geht und nicht meint, in seinem Herzen müsse stets ein «rechter Freudenhimmel» sein, wird reichlich Herzeleid empfinden – und das Herzeleid wird ihn zurückbinden an das, was er nicht selber ist. Es wird ihn aus der Selbstbezüglichkeit befreien und seiner Verbundenheit mit anderen Menschen und der Natur bewusst werden lassen. Es wird das unheilvolle Menschenbild der Neuzeit sprengen, das einer unheilvollen reformatorischen Theologie entsprungen ist. Das Herzeleid kann zur Quelle einer neuen Rückbindung – lateinisch religio – an das Sein dieser Welt werden, zur Quelle eines neuen Menschenbildes, das im Herz und nicht im Willen seine Mitte hat und das den Menschen als ein Beziehungswesen deutet, das nicht selbstbezüglich, sondern in der Begegnung mit dem Anderen seine Erfüllung findet. Martin Buber, der grosse jüdische Religionsphilosoph, hat einmal gesagt:

Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Das ist wohl wahr. Auch – oder sogar gerade – dann, wenn die Begegnung Herzeleid verursacht. «Ach Gott, wie manches Herzeleid begegnet mir zu dieser Zeit!» – Und das ist gut so.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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