Jesu, nun sei gepreiset
BWV 041 // Neujahr
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Trompete I–III, Pauke, Oboe I–III, Streicher und Basso continuo
Die Kantate «Jesu, nun sei gepreiset» BWV 41 war der gewichtige Neujahrsbeitrag zu Bachs Choraljahrgang von 1724/25. Sie blickt daher stets zugleich voraus wie zurück und erfleht die kräftigende Gnade des Himmels, um allezeit mit Welt und Satan fertigwerden zu können. Der mit Blechbläserzwischenspielen ausgestattete Schlusschoral und vor allem der mit drei Instrumentalchören operierende Eingangssatz verleihen der Kantate eine repräsentative Festgestalt, wobei Bach das mit 14 Zeilen ungewöhnlich lange Chorallied in satztechnisch und rhythmisch besonders abwechslungsreicher Weise durchführt. Für die beiden Arien setzte er demgegenüber mit drei Oboen sowie Violoncello piccolo auf charaktervolle Klangfarben, die dem pastoralen angetönten «Halleluja» sowie einer herzerwärmenden Friedensvision beseelten Ausdruck verleihen.
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Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Lia Andres, Stephanie Pfeffer, Simone Schwark, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel
Alt
Anne Bierwirth, Nanora Büttiker, Antonia Frey, Francisca Näf, Lea Pfister-Scherer
Tenor
Zacharie Fogal, Achim Glatz, Tiago Oliveira, Christian Rathgeber
Bass
Jean-Christophe Groffe, Fabrice Hayoz, Serafin Heusser, Philippe Rayot, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Petra Melicharek, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Stella Mahrenholz
Violoncello
Martin Zeller, Magdalena Reisser
Violoncello piccolo
Martin Zeller
Violone
Guisella Massa
Oboe
Katharina Arfken, Philipp Wagner, Clara Espinosa
Trompete
Lukasz Gothszalk, Matthew Sadler, Alexander Samawicz
Pauke
Inez Ellmann
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Michael Maul, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Rudolf Osterwalder
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
29.04.2022
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
1. Januar 1725, Leipzig
Textdichter
Johannes Herman (Sätze 1, 6); Unbekannt (Sätze 2–5)
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die Kantate «Jesu, nun sei gepreiset» (BWV 41) war der Neujahrsbeitrag zum Choraljahrgang 1724/25. Dementsprechend verbanden sich in ihr der für den Jahresauftakt typische Klangaufputz mit der für diesen Jahrgang charakteristischen Bindung an das für den jeweiligen Tag bestimmte Kirchenlied.
Gleich der Eingangschor stellte Bach dabei vor eine besondere Aufgabe, gehört doch das von Johann Hermann 1593 gedichtete Lied mit insgesamt 14 Zeilen zu den ausgedehntesten Strophenbauten überhaupt. Bach reagierte darauf, indem er – eingebettet in den von einem kecken Synkopenmotiv beherrschten dreichörigen Orchestersatz aus Streichern, Blechbläsern und Oboen – zunächst einmal acht Zeilen in der gewohnten Kombination von gedehntem Liedvortrag im Sopran sowie beweglich aufgebrochenen Unterstimmen abhandelte, dann aber einen überraschenden Musterbruch herbeiführte, in dessen Umsetzung semantische Auslegung und strukturelle Abwechslung konvergieren, wird doch die Doppelzeile «Daß wir in guter Stille das alt Jahr haben erfüllet» nicht nur im Adagio vom zuvor dominierenden Blechbläserdrive abgekoppelt, sondern auch in statisch deklamierten Akkorden zugleich deutend zelebriert, ehe die stärker handlungsorientierte Sinneinheit «Wir wolln uns dir ergeben» einem beweglichen Motettensatz mit duplierenden Streichern und Oboen anvertraut ist. Die dem letzten Zeilenpaar zugeordnete und auf veränderter Tonstufe einsetzende Wiederkehr des synkopierten Orchestertutti sorgt dann für einen rauschenden Abschluss.
Nach diesem eröffnenden Kraftakt wirkt die folgende Sopranarie umso lieblicher; die zeremonielle Festakklamation weicht hörbar der nachdenklichen Bitte und persönlichen Aussage. Zum pastoralen Klang dreier Oboen und vom wiegenden 6/8-Takt umhegt, gibt die Singstimme der hoffenden Zuversicht Ausdruck, dass das begonnene Jahr von der Hand des Höchsten behütet bleibe und man darum auch an dessen Ende wieder ein dankbares «Halleluja» singen könne.
Das Altrezitativ greift diese Argumentation auf, wobei der Blick auf das in Gottes Hand liegende Leben sowohl des Einzelnen als auch der ganzen Gesellschaft in «Stadt und Land» gerichtet wird. Regelrecht philosophisch geraten jene Zeilen, die es dem Höchsten anheimstellen, in seinem Erbarmen jedem Menschen «Wohl und Leiden» erträglich zuzumessen.
Eine der traditionell wichtigsten Neujahrsbitten haben Librettist und Tonsetzer bisher noch ausgespart, dafür nun aber in eine besonders anrührende Form gebracht. Und nichts könnte auch heute aktueller sein als jener «edle Friede», der in der folgenden Adagio-Tenorarie durch die begleitende Kantilene eines hochgestimmten Violoncello piccolo betörenden Zauber entfaltet. Dass das damit gemeinte «seligmachende Wort» schon hier auf Erden Gemeinschaft und Heil zu stiften vermag, wird in den zugleich fragilen wie noblen Klanggesten dieser Arie zu einem alles Waffengetöse hinter sich lassenden Ereignis.
Dass dieses Dasein dennoch auch kampfbereite Festigkeit erfordert, ruft das Bassrezitativ unter Verweis auf den bei «Tag und Nacht lauernden Feind» nachdrücklich ins Gedächtnis. Eine Reverenz sowohl an den ernst-archaischen Charakter des Neujahrstages wie auch an die gemeindliche Einheit ist die Litaneizeile «Den Satan unter unsre Füße treten», die in einem an manche Bach’schen Passionsturbae erinnernden dissonanten Chorsatz in die Solorezitation einbricht.
Bachs Gefühl für Proportionen und Entsprechungen bewährt sich im folgenden Schlusschoral auf das Schönste. Indem er die naheliegende Option eines schlichten Kantionalsatzes zugunsten einer freien Reihungsform mit Bläserzwischenspielen und erneuten Tempo- und Gestuswechseln verwarf, konnte er nicht nur die wirkungsvollen Synkopen des Eingangssatzes in Erinnerung rufen, sondern auch dessen innovativen Abschnittsbau durch abschliessende Wiederholung plausibel machen. Und noch eine weitere Botschaft hat der erfahrene Musikpädagoge Bach in diesem Kehraus untergebracht: Zeigen doch die Zeilen 11 und 12 seiner Choralaneignung eindrücklich, dass sich «freudiges Singen» von alters her am besten mit einem beschwingten Dreiertakt verbindet.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Jesu, nun sei gepreiset
zu diesem neuen Jahr
für dein Güt, uns beweiset
in aller Not und Gefahr,
daß wir haben erlebet
die neu fröhliche Zeit,
die voller Gnaden schwebet
und ewger Seligkeit;
daß wir in guter Stille
das alt Jahr hab’n erfüllet.
Wir wollen uns dir ergeben
itzund und immerdar,
behüt Leib, Seel und Leben
hinfort durchs ganze Jahr!
1. Chor
Die erste Strophe von Johannes Hermans dreistrophigem Neujahrslied «Jesu, nun sei gepreiset » von 1591 bildet den Kopfsatz dieser Choralkantate. Sie verkündet in nicht ganz ebenmässigen Versen eine Frömmigkeit des Dankes für Bewahrung im vergangenen und der Bitte um Schutz und Hilfe im neuen Jahr. Erfüllung und Ergebung sind die Stichwörter dieses Glaubens! Wie Bachs motivischer und struktureller Umgang mit vielstimmigen Ensemblekörpern sich gegenüber der Weimarer Zeit weiterentwickelt hatte, lässt sich dem gegenüber BWV 31 trotz reicherer Gegenbewegungen deutlich zugkräftigeren Orchestereinstieg ebenso ablauschen wie der selbst im Korsett einer Choralbearbeitung flexibleren Führung der Singstimmen einschliesslich einer als drängende Bitte inszenierten Wiederholung der letzten beiden Liedzeilen. Der zwischenzeitliche Wechsel in den Dreiertakt spricht für das publikumsorientierte Feingefühl Bachs angesichts einer sonst drohenden Abnutzung des kompositorischen Verfahrens. Zudem hebt er als rhetorische Figur («Noema») die Erinnerung an das (perfekt?) erfüllte vorige Jahr musikalisch hervor.
2. Arie — Sopran
Laß uns, o höchster Gott, das Jahr vollbringen,
damit das Ende so wie dessen Anfang sei.
Es stehe deine Hand uns bei,
daß künftig bei des Jahres Schluß
wir bei des Segens Überfluß
wie itzt ein Halleluja singen.
2. Arie
Für die Sopranarie übernimmt der unbekannte Textdichter die erste Zeile der 2. Liedstrophe «Laß uns das Jahr vollbringen», ergänzt um den Gottesnamen, dankt für geschehene Bewahrung und hofft auf künftige, auf dass man am Jahresende wieder dankbar für die bewahrende Hand und Gottes Segen «ein Halleluja singen» könne. Nach dem massiven Kraftakt des Eingangschores stehen die luftigen Sechs-Achtel-Klänge des Oboenchores und der beschwingte Gestus der Sopranpartie für einen zuversichtlichen Jahresbeginn voller guter Vorsätze und lauterer Absichten.
3. Rezitativ — Alt
Ach! deine Hand, dein Segen muß allein
das A und O, der Anfang und das Ende sein.
Das Leben trägest du in deiner Hand,
und unsre Tage sind bei dir geschrieben;
dein Auge steht auf Stadt und Land;
du zählest unser Wohl und kennest unser Leiden,
ach! gib von beiden,
was deine Weisheit will,
worzu dich dein Erbarmen angetrieben.
3. Rezitativ
Im Rezitativ wird dieses Motiv von Gottes bewahrender Hand und seinem Segen weitergeführt – Gottes Vorsehung, sein Schutz, sein Wirken und seine Weisheit werden dankbar als A und O des menschlichen Lebens bezeichnet.
4. Arie — Tenor
Woferne du den edlen Frieden
vor unsern Leib und Stand beschieden,
so laß der Seele doch dein selig machend Wort.
Wenn uns dies Heil begegnet,
so sind wir hier gesegnet
und Auserwählte dort!
4. Arie
Die Bitten der zweiten Hälfte der mittleren Strophe werden in der Tenorarie genauer umschrieben: die Bitte um Frieden, um Gottes «selig machend Wort», welches «hier» Segen schenke und «dort» zu Auserwählten mache. Für das zu allen Zeiten kostbare Gut des «edlen Friedens» hat Bach in der Klangmischung aus nobler Tenorkantilene und hochliegender Violoncello-piccolo-Partie eine zugleich gespannte wie aparte Umsetzung gefunden. In den inspirierten Figurationen der Streicherstimme zeichnen sich neben der evozierten Aura zugleich die vom Segen hörbar durchwärmten Wirkungen des göttlichen Friedenswortes ab.
5. Rezitativ — Bass und Chor
Doch weil der Feind bei Tag und Nacht
zu unserm Schaden wacht
und unsre Ruhe will verstören,
so wollest du, o Herre Gott, erhören,
wenn wir in heiliger Gemeine beten:
Den Satan unter unsre Füße treten.
So bleiben wir zu deinem Ruhm
dein auserwähltes Eigentum
und können auch nach Kreuz und Leiden
zur Herrlichkeit von hinnen scheiden.
5. Rezitativ
Der knappe Satz im Herman-Lied «Die Teufel mach zuschanden hier und an allem Ort» findet eine reichhaltige Paraphrase im Bassrezitativ mit Chorpassagen – man spürt fast so etwas wie kämpferische Leidenschaft gegen den Satan – eine eschatologische Perspektive. Dass alle mitwirken müssen, um das Übel dieser Welt zu überwinden, wird durch den genialen Kunstgriff eines die rutschgefährdete Continuolinie förmlich hinwegsingenden Litanei-Einwurfs aller vier Singstimmen unmittelbar plastisch.
6. Choral
Dein ist allein die Ehre,
dein ist allein der Ruhm;
Geduld im Kreuz uns lehre,
regier all unser Tun,
bis wir fröhlich abscheiden
ins ewig Himmelreich,
zu wahrem Fried und Freude,
den Heilgen Gottes gleich.
Indes machs mit uns allen
nach deinem Wohlgefallen:
solchs singet heut ohn Scherzen
die christgläubige Schar
und wünscht mit Mund und Herzen
ein seligs neues Jahr.
6. Choral
Der Schlusschoral bringt die doxologischen Worte der dritten Strophe des Herman-Liedes, welches Ehre und Ruhm allein Gott vorbehalten und alles ihm anheimstellen will im Wunsch um ein «seligs» neues Jahr. Wie Bach hier durch kluge Rückgriffe auf die Bläsermotivik und die Dreiertakt- Passagen des Eingangschores die Kantate insgesamt abrundet, zeigt seine alle Jahrgangsroutine hinter sich lassende Meisterschaft.
Rudolf Osterwalder
«Du zählest unser Wohl und kennest unser Leiden, Ach! Gib von beiden»
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer
In erster Resonanz beim Anhören der Kantate sind mir die zwei «Achs» im Kantatentext aufgefallen. Wie sind sie zu interpretieren? Ein Ach der Demut, ein Ach der Sorge. Das zweite Ach, «Ach! Gib von beiden, Wohl und Leiden», hat in mir eine Erinnerung geweckt: Als Primarschüler wurden wir im Religionsunterricht aufgefordert zu überlegen, welche «Vater unser»-Bitte uns am meisten beeindrucke. Ich entschied mich zur Verwunderung des Lehrers für die Bitte: «Dein Wille geschehe.» (Ich hatte den Kantatentext nicht gekannt…) Heute, angesichts der dramatischen Situation in der Welt, fühle ich mich provoziert von der Aussage: «Gib uns vom Leiden.» Oder klingt im «Ach» ein leiser Widerstand und Protest mit, eine Klage? Das Wohl, aber auch das Leiden sollen aus «Weisheit und Erbarmen» Gottes angetrieben sein, ganz im Sinn der Theodizee von G. W. Leibniz. In der heutigen Zeit jedoch, wo das Leid und die Gewalt allgegenwärtig sind, provoziert jede romantische Bagatellisierung des Leidens, wie es zum Beispiel Eduard Mörike in seinem Gedicht formuliert hat:
«Herr! Schicke, was du willst, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, dass beides aus deinen Händen quillt.»
Trotz meiner Kritik an der für mich zu unkritischen Gutheissung des Leidens bin ich beeindruckt von der Frömmigkeit, welche die Kantate ausstrahlt. Dies vor dem Hintergrund der Geschichte Sachsens im frühen achtzehnten Jahrhundert. Pest und Hungersnöte, der Nordische Krieg mit vielen toten Sachsen und immer noch Hexenprozesse erschütterten die Lande oder waren erst gerade überstanden. Die Lebenserwartung betrug für Männer 35, für Frauen 38 Jahre. Johann Sebastian Bach verlor die Hälfte seiner Kinder, als sie kaum geboren oder noch sehr klein waren. Trotzdem schrieb er auf viele seiner Kantaten «Soli Deo Gloria», zur Ehre Gottes. Es entstanden vor dem Hintergrund tiefer Frömmigkeit nicht nur die wunderschönen Kantaten; im selben Zeitraum wurde auch die prachtvolle Frauenkirche in Dresden geplant und realisiert.
Wie ist diese Akzeptanz des Leidens zu interpretieren? Ist sie eine Identifikation mit dem Aggressor, eine Art Stockholmsyndrom? Der Theologe Karl Rahner sieht das Leiden in all seiner Härte: «Es gibt unendlich vielfältiges, entsetzliches Leid in der Geschichte der Menschheit, das zerstörerisch wirkt, den Menschen einfach überfordert und nicht in einen Prozess der Reifung und personalen Bewährung integriert werden kann.» Dazu sein seelsorgerischer Rat: «Lebe so, dass das dir und deiner Umgebung auferlegte Leid dich in deiner letzten Haltung auf Gott nicht zerstöre in Verzweiflung hinein.» In Bezug auf das Leiden ist von einem «Gib davon» nichts zu spüren.
Das Wort «Verzweiflung» baut mir eine Brücke zu meinem Beruf: Psychiater und Psychotherapeut. Weil ich in meiner Tätigkeit mit schrecklichem Leid und Schmerz der Patientinnen und Patienten konfrontiert wurde, verstehen Sie vielleicht besser meinen Widerstand gegen das Glorifizieren des Leidens. Wie soll einer traumatisierten Mutter, welche ihr sterbendes Kind, das aus dem Fenster gestürzt ist, in den Händen hält und es nur noch in den Tod begleiten kann, erklärt werden, dass dieser akute Schmerz einen Sinn hat? Wie soll ich für das Leid dankbar sein, wenn ein Student aus dem Examen rennt und sich erhängt? Wie soll ich den schwer depressiven Patientinnen und Patienten erklären, dass die Verzweiflung, die Leere, die Ohnmacht einen Sinn macht? Kann ich der verzweifelten vergewaltigten Frau zumuten, ihre Krise als Chance zu sehen? Wofür sollen Flüchtlinge für ihr Leid dankbar sein, wenn sie erlebt haben, wie Kinder im Bombenhagel starben, oder die Frauen ihre Männer im Krieg zurücklassen mussten.
Die Frage, warum Gott dies alles zulässt, kann bis heute die Theodizee für mich nicht beantworten. Ich halte mich an Odo Marquart, der sich intensiv mit dem Thema befasst hat und zum Schluss kommt, dass es für einen Menschen nicht möglich ist, die Fragen rund um die Theodizee zu beantworten. Befreiend wirkt die Ansicht F. Nietzsches, welcher Gott jenseits von Gut und Böse ansiedelt.
An dieser Stelle ist eine Differenzierung notwendig: Ich spreche dem akuten Leiden einen Sinn ab. Es gibt jedoch auch Menschen, die nach einer überstandenen Krise eine positive Entwicklung durchmachen; man könnte dies eine Kollateralchance nennen. So können aus einer Grenzerfahrung positive Entwicklungen, neue Wertsysteme entstehen. Ich denke an einen Manager, der nach einer Reanimation sein Leben umorganisierte und sich nur noch wohltätig engagierte. Eindrücklich seine Nahtoderfahrung: Er fühlte sich geborgen, eingehüllt in ein grelles helles Licht, welches zu seinem Erstaunen nicht blendete. Seit diesem Erlebnis hatte er keine Angst mehr vor dem Sterben, ja sogar eine gewisse Sehnsucht nach dem Erlebten, ohne jedoch suizidal zu sein. Ein weiteres Beispiel für einen positiven Effekt von Krisen zeigt die Literaturgeschichte: Viele Autorinnen und Autoren haben Inspirationen für ihre Werke durch Erfahrungen persönlicher Krisen gewonnen. Krisen müssen demnach nicht immer negativ sein. Die Entwicklungspsychologie zeigt auf, dass Turbulenzen für die Reifung der Persönlichkeit wichtig, ja nötig sein können. In den Therapien erlebt man oft, dass Erschütterungen im Behandlungsprozess durchaus fruchtbar sein und einen nächsten Entwicklungsschritt einleiten können.
Die Frage nach der Ursache des Leidens und des Bösen ist in Therapien weniger mit der Theodizee als vielmehr mit der Frage nach dem Sinn des Lebens verbunden.
Dazu C. G. Jung: In jeder Therapie spielt die religiöse Frage eine Rolle. Damit ist immer auch die Gretchenfrage an den Therapeuten oder die Therapeutin gestellt: Wie hältst du es mit der Religion? C. G. Jungs Antwort: «Das Leben birgt Sinn und Unsinn; ich habe die ängstliche Hoffnung, der Sinn werde obsiegen.» Wenn mir Patientinnen oder Patienten die Frage nach dem Sinn des Lebens stellten, habe ich in der Regel geantwortet: «Sie können mit der Sinnfrage verschieden umgehen: Das vertiefte Nachdenken kann im Grübeln und in der Verzweiflung enden. Es kann aber auch ins Staunen über das Wunder des Lebens und des Kosmos führen.» Ich meine, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise einen Bezug zur Transzendenz hat. Was bedeutet Transzendenz? Nach Karl Jaspers ist sie «das letzte unendliche Sein, welches sich jeder rationalen Denkbemühung oder objektivierenden Darstellung entzieht». Je nach soziokultureller Herkunft kann Gott oder etwas anderes so bezeichnet werden. Karl Jaspers verwendet als Sprache der Transzendenz das Wort «Chiffre». Eine Chiffre kann alles sein, was den transzendentalen Weg ebnet. Da nach der Bibel der direkte Weg zu Gott über Jesus geht, kann man ihn als die zentrale Chiffre für die Christen bezeichnen. Andere Schlüssel zur Transzendenz können unter anderem die herrliche Musik von J. S. Bach, die Mystik oder die Liebe sein. Selbst die Naturwissenschaft kann Chiffre sein, wenn sie zum Staunen führt. So wie Stephen Hawking sagt: «Wenn es einen Gott gibt, wäre er für mich die Summe aller Naturgesetze.» Eindrücklich ist Werner Heisenbergs Aussage: «Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.» Und: «Vor der Materie war die Symmetrie.»
In der Kantate wird dem Satan vehement der Kampf angesagt. Offenbar wird unterschieden zwischen dem Bösen und dem Leiden, welches Gott sendet. «Das Böse» ist ein Urwort wie die Liebe oder Gott. Das Wesen solcher Worte kann letztlich nicht erfasst, höchstens erahnt werden. Die Wirkungen und die Bedingungen des Bösen sind jedoch dramatisch spürbar.
Die Psychologie kennt verschiedene Zugänge zum Thema des «Bösen». Sigmund Freud hat in Anlehnung an Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg einen Todestrieb postuliert, welcher dem Eros gegenübergestellt ist. Dieser «Thanatos» kann überhandgewinnen und böses destruktives Verhalten bewirken. Besonders gefährlich ist die Situation, wenn sich Lust mit Aggression verbindet, wie es bei Vergewaltigungen geschieht. In der Psychologie von C. G. Jung wird beschrieben, dass der Mensch eine vorwiegend unbewusste Schattenseite habe, welche es ins Selbst zu integrieren gelte, damit destruktives Verhalten vermieden werden könne. Bei Alfred Adler spielt die Frustration durch Entwertung eine entscheidende Rolle für die Entstehung von aggressivem Verhalten. Die Narzissmuspsychologie geht davon aus, dass bei gefährlichen Narzissten der Übergang vom frühkindlichen zum sekundären reifen Narzissmus nicht gelungen ist und damit die Empathie und jede transzendentale Bewegung auf Mitmenschen hin behindert ist.
Erschreckend ist der Bericht von Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess, in dem sie die «Banalität des Bösen» beschreibt. Entsetzlich, wie kalt und technisch versiert getötet werden kann. Es geht aber nicht nur um Kriegsverbrechen, sondern auch um den ganz banalen Alltag. Jeder Mensch hat in sich seine Abgründe, seine Frustrationen, kennt Neid, Gier, Machtgelüste, Hass und Aggressionen.
Die Therapiestrategien gehen in zwei Richtungen: Die Menschen sollen befähigt werden, sich gegen Gewalt zu wehren, sie sollen aber auch lernen, mit eigenen Aggressionen umzugehen, um schädliches destruktives Verhalten zu vermeiden. Dabei spielen Empathietraining und transzendentale Horizonterweiterung eine entscheidende Rolle.
Hat der christliche Glaube einen therapeutischen Nutzen? Ja und nein. Für viele Menschen ist ein vernünftiger Glaube eine Stütze, er gibt ihnen einen Lebenssinn. Umgekehrt kann ein rigider Glaube an einen strafenden Gott vor allem bei Kindern die Entwicklung schädigen. Bei schwer depressiven Menschen können pathologische Schuldgefühle verstärkt werden. Patientinnen und Patienten mit Krankheiten aus dem Formenkreis der Schizophrenie bauen unter Umständen religiöse Inhalte in ihr Wahnsystem ein oder fühlen sich bedroht.
Lassen sie mich zum Schluss ein Beispiel aus meiner Praxis erzählen, welches für mich zu einer Chiffre der Transzendenz wurde und die Bedeutung der Empathie unterstreicht. Eine Frau mittleren Alters kam in Behandlung, nachdem sie mehrere ernsthafte Suizidversuche unternommen hatte. Ein Leben voller Frustrationen und Enttäuschungen führten immer wieder in die Verzweiflung und in das Gefühl einer ohnmächtigen Leere. Trotz meiner Professionalität wurde ich von der Stimmung angesteckt und ich spürte, dass alle meine üblichen Interventionen nutzlos sind. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu meiner Hilflosigkeit und Ohnmacht zu stehen. Zur Patientin sagte ich: «Momentan bin ich angesteckt von Ihrem emotionalen Zustand und fühle mich hilflos wie Sie. Aber vielleicht ist es für Sie leichter, wenn wir zu zweit in diesem Tunnel verharren und die schwierige Situation gemeinsam aushalten.» Später einmal, nach überstandener Krise, teilte sie mir den Grund mit, weshalb sie nicht mehr sterben wolle. Sie habe eingesehen, dass sie nur eine Chance habe: die Chance zur Teilnahme am Leben mit allem Leiden und auch Glück, was es auch bringen mag.
Das Wort «Chance zur Teilnahme» hat mich tief berührt. Ist das nicht das Ziel jeder Therapie? Die Patientin hat den transzendentalen Weg gefunden, hin zur Gemeinschaft, zur «Communio».
Teilnahme an der Gemeinschaft ermöglichen. Eine Gemeinschaft, die auch bereit ist, wie die Kantate eindrücklich zeigt, den Kampf mit dem Bösen aufzunehmen. Den Kampf mit Daimon, dem Verwirrer, der versucht, die Gesellschaft zu spalten.
Die Kantate hat mich herausgefordert. Aus einem ersten «Ach» des Protests gegen eine Bagatellisierung des Leidens ist ein «Ach» des Staunens über die Urgründe menschlichen Daseins geworden. Die wunderbare Musik hat dabei eine Metaebene gebildet, in welcher Glaube, Glück und Leid transzendiert werden, eine Chiffre der Transzendenz.
Es bleibt ein Auftrag an uns alle: Erweitern wir unsere Empathie und Achtsamkeit, um Böses zu vermeiden. Wehren wir uns gegen Lügen, Gewalt und Verstösse gegen Menschenrechte. Tragen wir dazu bei, dass alle Menschen, wie es die Patientin ausdrückte, die Chance haben, am Leben teilzunehmen.