Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut

BWV 117 // unbekannte Bestimmung

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Traversflöte I+II, Oboe I+II, (Oboe d’amore), Streicher und Basso continuo

«Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut» gehört zu einer Gruppe von vier Choralkantaten aus der Zeit um 1730, die «per omnes versus» komponiert sind und damit allein auf dem Liedtext ohne freie Umdichtungen beruhen. Da bisher kein Leipziger Aufführungskontext namhaft gemacht werden konnte, gewinnt die These einer Zweckbestimmung für den Weissenfelser Hof – von dem Bach 1729 den Titel eines externen Kapellmeisters ohne reguläre Dienstpflicht erhalten hatte – eine gewisse Plausibilität. Dazu würde der geschmeidige Ton passen, der sowohl die umrahmenden Tuttisätze mit ihrer von Flöten und Oboen getragenen luftigen Eleganz als auch die abwechslungsreich disponierten Rezitative und Arien auszeichnet. Dass sämtliche Liedstrophen mit der Devise «Gebt unserm Gott die Ehre» enden, stellte Bach vor eine bravourös gemeisterte Herausforderung variativer Verklammerung.

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Annekathrin Laabs

Tenor
Jan Kobow

Bass
Markus Volpert

Chor

Sopran
Jessica Jans, Jennifer Ribeiro Rudin, Simone Schwark, Noëmi Sohn Nad, Baiba Urka, Mirjam Wernli

Alt
Antonia Frey, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Jan Thomer, Sarah Widmer

Tenor
Clemens Flämig, Achim Glatz, Tobias Mäthger, Nicolas Savoy

Bass
Jean-Christophe Groffe, Johannes Hill, Grégoire May, Daniel Pérez, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Patricia Do, Claire Foltzer, Elisabeth Kohler, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Stella Mahrenholz

Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Tomoko Mukoyama, Rebekka Brunner

Oboe/Oboe d’amore

Clara Espinosa, Amy Power

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Caroline Schröder Field

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.10.2022

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
im Jahr 1731 – Schlosskirche in Weissenfels

Textdichter
Johann Jakob Schütz

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Der gesamte Text von Bachs Kantate «Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut» (BWV 117) beruht auf dem gleichnamigen neunstrophigen Lied von Johann Jakob Schütz (1640–1690). Sie gehört zu einer Gruppe von vier Choralkantaten aus der Zeit um 1730, die «per omnes versus» komponiert sind und den integralen Liedtext ohne freie Umdichtungen wiedergeben. Da bisher kein Leipziger Aufführungskontext nachgewiesen werden konnte, gewinnt die These einer Zweckbestimmung für den Weissenfelser Hof – von dem Bach 1729 den Titel eines externen Kapellmeisters ohne reguläre Dienstpflicht erhalten hatte – einige Plausibilität. Die neuere Forschung vermutet daher eine Entstehung als Geburtstagsmusik für Herzog Christian von Sachsen-Weissenfels, dem Bach 1713 bereits seine Jagdkantate (BWV 208) sowie weitere Gratulationsmusiken gewidmet hatte. Dazu würde der geschmeidige Ton passen, der sowohl die Tuttisätze mit ihrer von Flöten und Oboen getragenen luftigen Eleganz als auch die abwechslungsreich disponierten Rezitative und Arien auszeichnet. Dass sämtliche Liedstrophen mit der Devise «Gebt unserm Gott die Ehre» enden, stellte Bach vor die Herausforderung variativer Verklammerung, der auch die rahmende Wiederholung des Eingangschores auf den Text der letzten Liedstrophe dient. Dass Bach mit dieser Kantatengruppe ausgerechnet in und für Weissenfels die dank der Textreform des dortigen Superintendenten Erdmann Neumeister nach 1700 auseinandergegangenen Traditionen der alten Kirchenmusik samt Choral und «Concerto-Aria»-Rahmenanlage sowie der modernen opernhaften Formen Rezitativ und Arie miteinander versöhnt, gehört zu den reizvolleren Pointen der mitteldeutschen Musikgeschichte.

1. Chor
Versus 1

Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut,
dem Vater aller Güte,
dem Gott, der alle Wunder tut,
dem Gott, der mein Gemüte
mit seinem reichen Trost erfüllt,
dem Gott, der allen Jammer stillt.
Gebt unserm Gott die Ehre!

1. Chor

Die erste Strophe des integral übernommenen Lobliedes von Johann Jakob Schütz (1673) ist das Eingangstor für eine neunfache Entfaltung des «Moseliedes»: «Denn ich will den Namen des HERRN preisen. Gebt unserm Gott allein die Ehre!» (5. Mose 32, 3). Gründe für dieses Lob werden genannt (Güte, Wunder, Trost), und es endet mit einem deutsch wiedergegebenen «Soli Deo Gloria», das alle weiteren acht Strophen beschliessen wird. Schwungvolle Rhythmen und galante Anflüge prägen einen Orchestersatz, der mit seiner lichten Klanggestalt sowie seiner faktischen Dreistimmigkeit ausgeprägt fasslich daherkommt. Dazu passt der meisterlich kompakte Chorsatz, der von den aufwendigen Vorimitationen vieler Leipziger Choralkantaten nur zurückhaltend Gebrauch macht.

2. Rezitativ — Bass
Versus 2

Es danken dir die Himmelsheer,
o Herrscher aller Thronen,
und die auf Erden, Luft und Meer
in deinem Schatten wohnen,
die preisen deine Schöpfersmacht,
die alles also wohl bedacht.
Gebt unserm Gott die Ehre!

2. Rezitativ

Das Bassrezitativ beginnt mit dem Hinweis auf das himmlische und irdische Lob der Schöpfermacht Gottes – mit Anklängen an viele Motive in Psalmen und Choraltexten. Die Befestigung der Choralsubstanz im Eingangschor erlaubt es Bach nun, sich melodisch davon zu lösen. Dafür bekommt die abschliessende Devise «Gebt unserm Gott die Ehre» in einem ausgedehnten Arioso besonderes Gewicht.

3. Arie — Tenor
Versus 3

Was unser Gott geschaffen hat,
das will er auch erhalten;
darüber will er früh und spat
mit seiner Gnade walten.
In seinem ganzen Königreich
ist alles recht und alles gleich.
Gebt unserm Gott die Ehre!

3. Arie

Nach dem Thema Schöpfung besingt die Tenorarie Gottes Erhaltung all dessen, was er geschaffen hat, das Walten seiner Gottesgnade «von früh bis spat». Zwei traulich duettierende Oboen d’amore und die elegische Kantabilität der nach e-Moll versetzten Arie verleihen dieser Aussage jene demütige Haltung, die einem über sein wahres «Königreich» sinnierenden Fürsten geziemt.

4. Choral
Versus 4

Ich rief dem Herrn in meiner Not:
Ach Gott, vernimm mein Schreien!
Da half mein Helfer mir vom Tod
und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir;
ach danket, danket Gott mit mir!
Gebt unserm Gott die Ehre!

4. Choral

Der Choral individualisiert das Thema, hier wird der frühe und innige Pietismus des Liederdichters Schütz, des Spener-Freundes, hörbar. Er erzählt von einem Stossgebet in der Not, das erhört wurde, von der Hilfe, vom erfahrenen Trost, und endet mit überschwänglichem Dank und Lobpreis. Autographe Korrekturen des Satzbeginns zeigen Bachs Bemühen, den auch durch die Rückung nach G-Dur mit plötzlicher Wucht einsetzenden Liedsatz geschmeidig einzuführen.

5. Rezitativ — Alt
Versus 5

Der Herr ist noch und nimmer nicht
von seinem Volk geschieden,
er bleibet ihre Zuversicht,
ihr Segen, Heil und Frieden;
mit Mutterhänden leitet er
die Seinen stetig hin und her.
Gebt unserm Gott die Ehre!

5. Rezitativ

Das Altrezitativ betont die Wirkung der Gotteserfahrung: Segen, Heil und Frieden, spricht überraschend von Gottes «Mutterhänden», mit denen er «die Seinen» leitet. Erneut umgeht Bach durch freie Neuvertonung des Textes insbesondere den stentorhaften Beginn der ersten Liedzeile. Dafür tauchen die begleitenden Streicher die Altpartie in strahlendes D-Dur, eine tragende Stütze, von der sich Solostimme und Continuo im ariosen Devisenschluss duettierend lösen.

6. Arie — Bass
Versus 6

Wenn Trost und Hülf ermangeln muß,
die alle Welt erzeiget,
so kömmt, so hilft der Überfluß,
der Schöpfer selbst, und neiget
die Vateraugen denen zu,
die sonsten nirgend finden Ruh.
Gebt unserm Gott die Ehre!

6. Arie

Wer aber – so die Bassarie – dennoch Trost und Hilfe vermisst, dem wird versprochen, dass Gott, der Schöpfer, seine «Vateraugen» ihm zuwenden und Ruhe schenken wird. Bach überrascht durch kammermusikalische Töne, die im verhaltenen h-Moll Solovioline und Singbass über einem lapidaren Continuogerüst miteinander konzertieren lassen. Die komplexe Anlage rechnet hörbar mit virtuosen (Hof-) Musikern, um die zuweilen spröde Schönheit der Vertonung zum Leuchten zu bringen.

7. Arie — Alt
Versus 7

Ich will dich all mein Leben lang,
o Gott, von nun an ehren;
man soll, o Gott, den Lobgesang
an allen Orten hören.
Mein ganzes Herz ermuntre sich,
mein Geist und Leib erfreue sich.
Gebt unserm Gott die Ehre!

7. Arie

Darauf antwortet die Altarie mit einer Selbstaufforderung: Gott soll lebenslänglich geehrt und besungen werden, sodass Herz, Geist und Leib darüber von Freude erfüllt werden. Mit dem hymnischen Fluss dieses durch eine obligate Flöte bereicherten Tuttisatzes ist Bach ein berückender Wurf gelungen, der die zugrunde liegenden Tanzanlagen, Sequenzmodelle und galanten Wendungen in ein zart glühendes Herzenslob transformiert.

8. Rezitativ — Tenor
Versus 8

Ihr, die ihr Christi Namen nennt,
gebt unserm Gott die Ehre!
Ihr, die ihr Gottes Macht bekennt,
gebt unserm Gott die Ehre!
Die falschen Götzen macht zu Spott,
der Herr ist Gott, der Herr ist Gott:
Gebt unserm Gott die Ehre!

8. Rezitativ

Im Tenorrezitativ wird deutlich, dass der Liederdichter nicht schlechthin alle anspricht, sondern jene, die «Christi Namen» nennen und «Gottes Macht» bekennen – vielleicht findet sich bei Schütz schon hier sein späterer Hang zum Sektentum, der sich in seiner Abendmahlsverweigerung und seinem Bruch mit Spener zeigt: Er wollte nicht mit «Unwürdigen» zusammen feiern. Bachs Vertonung setzt im tenoralen Eifer diesen Mahncharakter eindrücklich um.

9. Chor
Versus 9

So kommet vor sein Angesicht
mit jauchzenvollem Springen;
bezahlet die gelobte Pflicht
und laßt uns fröhlich singen:
Gott hat es alles wohl bedacht
und alles, alles recht gemacht.
Gebt unserm Gott die Ehre!

9. Chor

Im Schlusschor erklingt die Aufforderung, freudig vor Gottes Angesicht zu treten, die Gebote zu halten und fröhlich zu singen, denn Gott habe «alles wohl bedacht und alles, alles recht gemacht»: Gebt unserm Gott die Ehre! Anfang und Ende fliessen hier sowohl musikalisch als auch textlich zusammen.

Reflexion

Reflexion Caroline Schröder Field

BWV 117 – 21. Oktober 2022

Meine Mutter ist eine einfache Frau. Sie hat vier Kinder geboren. Sie ist 85 Jahre alt. Seit ein paar Tagen im Pflegeheim in einem kleinen Dorf im bergischen Land kämpft sie gegen Mutlosigkeit, Verzweiflung und Scham. Dünn und klein wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Ihre Hände liegen auf der Bettdecke, beinahe durchsichtig, während sie schläft. Mutterhände.

Helene Werthemann kommt aus einer alten Basler Familie. Sie ist Theologin, promoviert und habilitiert. Sie ist 95 Jahre alt. Sie lebt in ihrem Elternhaus, das neben den sich ausbreitenden Neubauten des Unispitals still und widerstandslos aus der Zeit fällt. Als sie studierte, gehörte die Theologie den Männern. Sie schrieb eine Dissertation über Bachs Kantaten – nein, über die alttestamentlichen Historien in den Texten seiner Kantaten. Sie wurde zur Bachkennerin und Bachliebhaberin. Seine Musik erschliesst ihr den Glauben. Mit ihr habe ich unsere Kantate gehört.

Weder meine Mutter noch Helene Werthemann können heute hier sein.

Meine Mutter hat mit uns gebetet, als wir klein waren. Jeden Abend sass sie auf unserer Bettkante. «Müde bin ich, geh zur Ruh, schliesse meine Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bettchen sein.» In diesen Oktobertagen sitze ich an ihrem Bett und bete mit ihr das Gebet meiner Kindheit. Sie faltet ihre Hände, und wir vertrauen uns beide den Vateraugen an, die auf uns herabschauen. Mehr braucht es nicht.

Im Bischofshof der Basler Reformierten Kirche hängen die Porträts der Antistes und Kirchenratspräsidenten. Streng schauen sie von ihrer Höhe herab, so wie einer von ihnen vor vielen Jahren auf Helene Werthemann herabschaute, die sich als Frau an die Theologie heranwagte. Die Theologie ist eine Männerwelt. Das Beten aber wird meist über die Mütter erlernt.

Mutterhände. Vateraugen. Da hat doch tatsächlich jemand im 17. Jahrhundert ernst damit gemacht, dass Gott beides haben kann: Mutterhände und Vateraugen.

Dass Gott Menschen mütterlich und väterlich begegnen kann, schützend, fürsorglich, wachend, gebietend, Anteil nehmend. Johann Jakob Schütz. Ein Pietist in einer Zeit, als sich lutherische Rechtgläubigkeit noch gegen den Pietismus wehrte. Ein Chiliast, einer mit einer glühenden Endzeiterwartung. Ein Verdächtiger, der aber ganz unaufgeregt und ohne jedes Pathos Gott mütterlich-väterlich dachte, einfach bloss, weil er die Bibel kannte. Psalm 131, 2: «Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter.» Oder Jesaja 66, 13: «Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.» Wer in beiden Testamenten erwartungsvoll liest und sich mit der ganzen polyphonen Bibliothek der Kirche vertraut macht, stösst auch früher oder später auf die mütterliche Seite Gottes. Mutterhände. Vateraugen.

Helene Werthemann erzählte mir von Karl Barths Reaktion auf ihre Dissertation. Karl Barth liebte Mozart. Helene Werthemann vielleicht auch, ich werde sie fragen. Aber vor allem liebt sie Bach. Karl Barths Urteil über die Dissertation der jungen Frau Werthemann: «… bestätigt mir, dass Bach der Alttestamentler und Mozart der Neutestamentler war.» Wenn da eine Wertung mitgeschwungen haben soll, wird sie Frau Werthemann vielleicht wehgetan haben. Ich werde sie fragen.

«Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut» ‒ ist voller Anklänge an die ganze Bibel. Das Lied eines pietistischen Separatisten, in eine Kantate verwandelt von einem Lutheraner der alten Schule. Johann Sebastian Bach wusste um die Differenzen zwischen seiner Konfession und den Reformierten, um den grossen Abstand zum Katholizismus, um die Querelen zwischen Pietismus und Orthodoxie. Und er fand in der Musik eine Sprache, die von allen verstanden werden konnte. Die Musik, die er auf so vielfältige Weise praktisch beherrschte, an deren Vervollkommnung er unermüdlich arbeitete, die Musik war seine Sprache der Liebe. Seine Sprache der Liebe zu Gott. «Gebt unserem Gott die Ehre.»

In dieser wiederkehrenden Zeile des Chorals sah er sich selber zitiert, unterschrieb er doch viele seiner Partituren mit «Soli Deo Gloria»: «Allein Gott die Ehre». Aber er sah natürlich auch Mose zitiert. Und den Philipperhymnus aus dem Neuen Testament. Es ist die ganze Bibel, Altes und Neues, Erstes und Zweites Testament, die uns die Liebe zu Gott lehrt. Und die Musik in ihrem Dreiklang von delectare – docere – movere (erfreuen, lehren und bewegen) nimmt diese Lehre auf, lässt sich von ihr leiten, durchdringen, bewegen: Soli Deo Gloria. Ein Spiegel, der das Licht reflektiert und damit selbst zur Lichtquelle wird. Und wer hineinblickt, lernt Heiterkeit. Und nichts ist wichtiger als Heiterkeit. Heiterkeit ist nicht «schenkelklopfendes Gelächter». Heiterkeit ist die Gelassenheit, die aus dem Glauben kommt. Nicht der Ernst, sondern die Heiterkeit des Glaubens ist über jeden Zweifel erhaben. Die Heiterkeit des Glaubens, in der wir schon da sind, wo wir geschichtlich und menschlich gesehen noch lange nicht stehen und wohl auch nie stehen werden: in einer Welt, in der sich Gottes anfängliches Urteil über seine Schöpfung (1. Mose 1, 31: «Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut») so bewahrheitet, dass aller Schmerz, alles Elend, alle Sünde Schnee von gestern sind. In einer Welt, in der die Worte des Chorals allen Menschen über die Lippen kommen, ohne dass noch darüber gestritten werden müsste: «Gott hat es alles wohl bedacht. Und alles, alles recht gemacht.»

Die Erfahrung lehrt uns Zweifel. Die Geschichte lehrt uns Zweifel. Die Raketenattacke Putins auf Kiew und andere Städte in der Ukraine lehrt uns Zweifel. Jeder Krieg und jedes Elend tun das. Die kosmische Liturgie aller Kreaturen, der Glaube, dass Schöpfung nicht von gestern ist, sondern auch jetzt noch trägt: «Was unser Gott geschaffen hat, das will er auch erhalten», die unmittelbare Erfahrung einer einzigen Gebetserhörung – und wer sagt, dass das nicht vorkommt! – lassen in Christi Namen den Zweifel hinter sich. In Christi Namen, also nicht für alle ersichtlich, sondern nur denen gegeben, die noch wissen, wovon der Glaube spricht: vom dreieinigen Gott, von der Inkarnation und Selbsterniedrigung des Gottessohnes in die schlimmste Verlorenheit und Gottverlassenheit menschlicher Existenz. Davon spricht der Glaube in Christi Namen. Vom Kantatentext bloss gestreift, ist dies doch die eigentliche Mitte: dass alles Singen, alles Gott Loben nur von Christus her möglich ist.

Wenn wir krank waren als Kinder und warteten, bis das Thermometer die Körpertemperatur anzeigte, sang unsere Mutter ein Lied, das ich seither nicht mit Weihnachten in Verbindung bringe, sondern mit einem fieberheissen Kopf und der trostvollen Geborgenheit in der Nähe der Mutter.

Sie sang: «Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind. Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus, geht auf allen Wegen mit uns ein und aus. Steht auch dir zur Seite, still und unerkannt, dass er treu dich leite an der lieben Hand.»

Mit diesem stillen und unerkannten Christus an der Seite ist es möglich, Gott zu loben, auch wenn man sich krank und elend fühlt. Denn in ihm wird der Mensch vor Gott zurechtgerückt. Nicht nur sein Kopf, sondern sein Herz, Geist und Leib. Die Frucht dieses Zurechtgerücktwerdens ist nichts anderes als der Lobgesang, doxologische Worte, die wie von selbst die Schwelle zur Musik, zum Choral, zur Kantate überschreiten, hin und wieder zurück. Die Predigt umfangend, damit sie nicht «ausrutscht». So wird alles, Glaube und Leben, Wort und Musik, Predigt und Kantate, durchstrahlt von einer über jeden Zweifel erhabenen Heiterkeit.

Es ist diese Heiterkeit des Glaubens, die so anders ist als der Eifer des Glaubens. Aber für jeden, der Ohren hat zu hören, bzw. für jede, die mit den biblischen Texten vertraut ist, sind im Choral auch die Eiferer des Glaubens auf dem Plan. Vielleicht, weil sein Verfasser, Johann Jakob Schütz, selbst einer war. Aber vor allem, weil in den Worten des Chorals der Geist Elias heraufbeschworen wird. «Die falschen Götzen macht zu Spott! Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott!» Da ist er: Elia, der Gottesstreiter, der auf dem Karmel ein Gottesurteil heraufbeschwor, der in einem gross inszenierten Schaukampf die Ohnmacht der religiösen Konkurrenz demonstrierte und allem Volk das Bekenntnis zu JHWH abrang. Der in seinem Eifer für das Erste Gebot – und ist nicht Bachs «Soli Deo Gloria» eine Variante des Ersten Gebots? –  seine Gegner tötete und der unmittelbar danach in eine Erschöpfungsdepression fiel. Aus der ihn niemand herausholen konnte als Gott allein.

So ist es mit dem Menschen, der gerade da, wo er am meisten für Gott zu streiten meint, am meisten sündigt. Nur Gott kann ihn retten. Und Gott tut es: In Christus neigt «der Schöpfer selbst die Vateraugen denen zu, die sonsten nirgend finden Ruh». Auch Elia wurde wiedergefunden, als er in der Wüste war.

Gerade um des Glaubens willen muss der Eiferer in die Wüste geschickt werden. Nichts hat der Eiferer mehr zu lernen als Gottes leises Erscheinen. Als Gottes Versteckspiel zwischen den Zeilen. So wie sich in einer Bachkantate zahlreiche Anspielungen auf die Trinität verbergen – und zugleich entdecken lassen, wenn man sich mit Zahlenmystik auskennt. Vielleicht wollen ja die Eiferer des Glaubens einfach nur zu schnell zu viel, während die Heiteren alle Zeit der Welt haben, um zu sehen, wie sich Parallelen im Unendlichen schneiden und wie Widersprüche aufgelöst und Gegensätze versöhnt werden. «Soli Deo Gloria» ist Eschatologie, ist Zukunftsmusik. In diesem Leben sind wir alle damit überfordert. Auch die, die es sich auf die Fahnen schreiben. Zu bald kann aus dem «Soli Deo Gloria» ein Schlachtruf der einen gegen die anderen werden, wie Elia es auf dem Karmel inszenierte. Die Worte «Soli Deo Gloria» können vom Menschen missbraucht werden, um Kriege zu führen. Sie sind, wie alle Worte, dem Menschen schutzlos ausgeliefert. «Gebt unserm Gott die Ehre», diese wiederkehrende Choralzeile leuchtet mir dann am ehesten ein, wenn ich mir dabei vorstelle, dass wir uns einmal überrascht die Augen reiben werden wie beim Erwachen, wenn wir nämlich entdecken, dass wir und die anderen ja eins sind; die Andersgläubigen Menschen wie wir; Teil derselben kosmischen Liturgie, in der wir alle unsere Worte, unsere Sprache suchen, um unserer Liebe Ausdruck zu geben.

Ach ja. Als wir ganz klein waren, zu klein noch für Gebete, da sang meine Mutter uns bei Fieber zuerst ein noch viel einfacheres Lied, und ich sehe die Bewegung ihrer Hände deutlich vor mir:

«Wie das Fähnchen auf dem Turm sich kann drehn bei Wind und Sturm, so sollen sich meine Hände drehen, dass es eine Lust ist anzusehen.» Mutterhände. Was wären die Vateraugen ohne die Mutterhände.

Es gibt verschiedene Sprachen der Liebe. Wenn man in der Liebe nicht dieselbe Sprache spricht, stellt sich immer wieder der Verdacht ein, es könne sich beim anderen nicht um Liebe handeln. Auch Theologie und Musik sind unterschiedliche Sprachen. Helene Werthemann hat sich mit beiden vertraut gemacht und mir damit eine wertvolle Brücke gebaut. Die ich gebraucht habe. Denn auch ich bin eine einfache Frau.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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