Der Herr denket an uns

BWV 196 // zur Hochzeitsfeier

für Sopran, Tenor und Bass, Vokalensemble, Streicher und Basso continuo

«Genau hier und genau so» – wie der Besuch einer liebevoll geschmückten Dorfkirche selbst hartnäckig Unverheirateten zuweilen Lust auf eine lässig zelebrierte Trauung macht, verströmt Bachs Hochzeitskantate den ganzen Charme einer bodenständigen Feier mit höherer Weihe und einer Musik von nahbarer Kunsthaftigkeit. Entstanden wohl bereits 1707 in Mühlhausen und von der beweglichen Ensembledisponierung der frühen Bach’schen Kantaten geprägt, ist die mit einer beschwingten Sinfonia anhebende sowie von plastisch sprechenden Duetten und Segenschören getragene Musik von nimmermüder Frische und Leuchtkraft. Dass kein anderer als Bach selbst die himmlische Violinkantilene der Sopranarie «Er segnet die den Herrn fürchten» spielte, kann man sich gut vorstellen. Womöglich waren aber Bach und seine Braut Maria Barbara selbst das in Wort und Klang gepriesene Paar – reisen Sie also mit uns via Trogen ins idyllische Thüringer Dornheim…

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Noëmi Sohn Nad

Tenor
Sören Richter

Bass
Tobias Wicky

Chor

Sopran
Cornelia Fahrion, Noëmi Sohn Nad

Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey

Tenor
Zacharie Fogal, Sören Richter

Bass
Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Martin Zeller

Violone
Guisella Massa

Fagott
Carles Cristóbal

Laute
Niels Pfeffer

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Michael Maul

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
17.03.2023

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
1707–1708 (womöglich Arnstadt oder Dornheim)

Textgrundlage
Psalm 115, 12–15

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die Kantate «Der Herr denket an uns» (BWV 196) ist nur in Abschriften erhalten, deren früheste von Johann Ludwig Dietel, einem ehemaligen Thomaner, stammt und aus den Jahren 1731/1732 datiert. Es fehlen alle Angaben bezüglich des Zwecks und der Aufführungszeit. Dass es sich aufgrund des ausschliesslich auf Psalm 115, 12–15 beruhenden Textes um eine Hochzeitskantate handeln muss, ist sicher unstrittig. Sie könnte dabei möglicherweise der Wiederverheiratung des Pfarrers Johann Lorenz Stauber mit Regina Wedemann, einer Tante von Bachs erster Ehefrau Maria Barbara, gedient haben oder gar für Bachs eigene Trauung mit dieser seiner Cousine bestimmt gewesen sein. Eine entsprechende Entstehung während Bachs Mühlhäuser Zeit 1707 bis 1708 würde nicht nur zum noch rezitativlosen älteren Formgerüst des Werkes, sondern auch zu jener beweglichen Ensembledisponierung sowie ausgemachten Frische und Leuchtkraft passen, die BWV 196 mit anderen frühen Bach’schen Kantaten gemeinsam hat. Dass kein anderer als Bach selbst die geschmeidige Violinpartie der Sopranarie «Er segnet, die den Herrn fürchten» spielte, kann man sich ebenso vorstellen, wie die insgesamt kompakte Ausdehnung und schlanke Besetzung der Kantate vielleicht eher für einen privaten Kontext als für eine offizielle Bestellung spricht.

1. Sinfonia

1. Sinfonia

Die umfangmässig knapp gehaltene, dabei jedoch meisterlich durchgeformte Sinfonia setzt im Gegensatz zu anderen frühen Kantaten Bachs bereits den modernen vierstimmigen Orchestersatz ohne geteilte Bratschen voraus. Sie schenkt dem Werk einen beschwingt-freudigen Einstieg, dessen laufender Bass förmlich zum Altar hinzuleiten scheint.

2. Chor

«Der Herr denket an uns und segnet uns. Er segnet das Haus Israel, er segnet das Haus Aaron.»

2. Chor

Der Text der Chorstücke und Arien stammt integral aus dem Psalm 115 – hier zuerst der titelgebende Vers 12 dieses Psalms. Der Bachforscher Philipp Spitta vermutete bereits im 19. Jahrhundert aufgrund der Wahl dieser Psalmverse eine Hochzeitsmusik, weil sie ausschliesslich vom Segen Gottes handelt. Mit Blick auf die Worte «… er segnet das Haus Aaron» (des Priesters und Mosebruders) schloss er auf die Trauung eines Pfarrers, konkret: auf die Wiederverheiratung des Pfarrers Johann Lorenz Stauber (1660–1723) mit Regina Wedemann (1660–1730), welche am 5. Juni 1708 in Arnstadt gefeiert wurde. Möglich aber wäre auch als Anlass Bachs eigene Trauung mit Maria Barbara am 17. Oktober 1707. Die Musik greift im flexiblen Dialog von Singstimmen und Streicherensemble zunächst den gestischen Beginn der Sinfonia auf, aus dem sich dann eine Fuge mit wahrhaft blumigen Vokalkoloraturen herausentwickelt.

3. Arie — Sopran

«Er segnet, die den Herrn fürchten, beide, Kleine und Große.»

3. Arie

Die Sopranarie koloriert das Psalmenzitat weiter (Vers 13) – «Er segnet, die den Herrn fürchten, beide, Kleine und Große» – und vertieft das für eine Trauung so passende Motiv des Segens und Gesegnetseins. Nach a-Moll versetzt, fangen die zugleich eindringlich sprechenden wie träumerisch verspielten Kantilenen des Soprans und der Violine die Stimmung eines solchen Tages der bewegten Hoffnung und innigen Verbindung aufs Schönste ein.

4. Arie — Duett: Tenor und Bass

«Der Herr segne euch je mehr und mehr, euch und eure Kinder. Der Herr segne euch.»

4. Arie

Sollte die These von der im Text sich spiegelnden Hochzeitskantate zutreffend sein, so ist der Einbezug nicht nur des Paars, sondern auch der anwesenden Kinder des Paars für eine Wiederverheiratung besonders passend: «Der Herr segne … euch und eure Kinder.» Durch die tiefere Lage der Singstimmen sowie den zeremoniellen Duktus des vollen Streichersatzes betont dieses Duett nach dem intimen Liebeslied der Sopranarie nun die sakramentale Würde des Hochzeitsaktes.

5. Chor

«Ihr seid die Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat; ihr seid die Gesegneten des Herrn. Amen.»

5. Chor

Der Chor beschliesst diese Kantate mit dem Zuspruch für das Paar, dem darin enthaltenen Ausdruck der Dankbarkeit und der Hoffnung auf künftigen Segen: «Ihr seid die Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat; ihr seid die Gesegneten des Herrn.» Während der Satzbeginn die lockere Reihung und pointierte Deklamation eines geistlichen Konzertes mit festlich wirbelnden Streichergirlanden kombiniert, demonstriert Bach in der spielerisch aufgebrochenen Doppelfuge des ausgedehnten Amen-Schlusses seine ganze musikalische Kunst.

Reflexion

Michael Maul

Hochverehrter, kunstreicher, ja heißgeliebter Johann Sebastian Bach!

Gestatten Sie, dass ich Ihnen heute einen Brief schreibe, wohlwissend, dass Sie mir leider nicht antworten werden – naja, jedenfalls nicht in diesem Leben. Vielleicht hätten Sie auch gar kein Interesse daran, mit mir – einem auf seine Worte limitierten Schreiberling, der sich hin und wieder zum Exegeten Ihrer Werke und Erklärer Ihres Lebens aufschwingt – überhaupt nur in Austausch zu treten. Denn wie ermahnte schon Ihr Sohn Carl Philipp Emanuel Ihren ersten Biografen Johann Nikolaus Forkel: „man hat viele abentheuerliche Traditionen von meinem Vater. Wenige davon mögen wahr seyn und gehören unter seine jugendliche Fechterstreiche. Der Seelige hat nie davon etwas wissen wollen; also lassen Sie diese comischen Dinge [einfach] weg.“

Aber, verehrter Bach, wenn es schon so gewesen sein mag, dass Sie und Ihre Familie einzig und allein durch Ihre Kompositionen beurteilt werden wollten, muss ich Ihnen doch eines entgegenhalten: Sie haben mit Ihren über eintausend erhaltenen fantastischen Kompositionen auf der einen Seite und der Ihnen von Ihrem Kollegen Paul Hindemith so treffend nachgesagten „austernhaften Verschwiegenheit“ auf der anderen Seite so ziemlich alles dafür getan, dass wir, die staunende Nachwelt, beständig Fragen nach dem Wann?, Wo?, Wie?, Wer? und Warum? stellen. Und genau aus diesem Grund muss ich Ihnen heute einen Brief schreiben, denn ich weil meine Fragen einfach mal loswerden.

Allerdings, würde ich all meine Fragen, die ich an Sie habe, jetzt aufzählen, würde dieser Brief ein Roman werden. Das gerade erklungene Stück – eine ungemein frisch tönende Hochzeitskantate, verfasst ganz zu Beginn Ihrer Karriere als Vokalkomponist, entstanden vielleicht sogar für Ihre eigene Hochzeit am 17. Oktober 1708 – nun, dieses Stück veranlasst mich, meine Fragen auf die Genese Ihrer Meisterschaft zu konzentrieren. Denn eines treibt mich beim Staunen über Ihr Gesamtwerk ganz besonders um: Bereits Ihre frühesten erhaltenen Vokalwerke – sie scheinen allesamt aus dem einen Jahr zu stammen, dass Sie von Juli 1707 bis Juni 1708 als Organist in Mühlhausen verbrachten – all diese frühesten Kantaten sind unglaublich reif wirkende Kompositionen, ja die meisten sind schlichtweg vollendete Meisterwerke. Denken wir etwa an Ihren unglaublichen „Actus tragicus“ BWV 106, jene epochale kompositorische Auseinandersetzung mit dem Sterben und dem Weg ins Paradies, über die Alfred Dürr mit vollem Recht schreibt, sie sei ein Stück Weltliteratur, mit dem Sie, phänomenaler Bach, all ihre Zeitgenossen mit einem Schlag weit hinter sich gelassen hätten. Oder denken wir an Ihre Choralkantate „Christ lag in Todesbanden“ BWV 4 oder an Ihr Psalmkonzert „Aus der Tiefe“ BWV 131, beide ebenfalls irgendwann in Ihrem 22. Lebensjahr in Mühlhausen zu Papier gebracht.

Ja, und deshalb frage ich mich voller Neugier und zugleich einigermaßen verzweifelt, weil ich keine rechte Antwort habe: Was war ausschlaggebend dafür, dass es Ihnen gelingen konnte, sich binnen Jahresfrist buchstäblich „aus der Tiefe“ der thüringischen Provinz an die Spitze der protestantischen Kirchenmusik zu katapultieren. Freilich, und das beeindruckt mich am allermeisten: ohne in Ihren Kompositionen mit der Tradition zu brechen. Ganz im Gegenteil: Anders als Ihr Freund Georg Philipp Telemann, der sich damals anschickte, die Kirchenmusik mit der neuen Form der Kantate aus freigedichteten Arien, Chören und Rezitativen grundsätzlich zu reformieren, haben Sie in Ihren ersten uns dokumentierten Versuchen im gesungenen musikalischen Gotteslob ausschließlich altbekannte Gattungen bedient. Sie komponierten, wie schon Ihre Vorfahren und Vorbilder, geistliche Konzerte auf der Basis von Bibel- und Choraltexten – die Kantate, die wir heute hier in Trogen aufführen, ist formal ein durchaus altertümlich anmutendes Psalmkonzert. Aber, unglaublicher Bach, wie Sie mit diesen traditionellen Formen experimentierten, wie sie scheinbar gegensätzliche Elemente gleichsam spielerisch miteinander vermengten, nie zum Selbstzweck, sondern immer im Dienste der musikalischen Text-Exegese, ja, das war schlichtweg ohne Beispiel. Dabei vermitteln die meisten Ihrer frühen Vokalwerke offengestanden an keiner Stelle den Eindruck eines suchenden Anfängers, sondern vielmehr eines erfahrenen, abgeklärten und mit allen Wassern gewaschenen Komponisten, der seinen Lebtag nichts anderes getan hätte, als Vokalmusik „Soli Deo Gloria“ zu komponieren.

Also, verehrter Bach, verraten Sie mir bitte, wie war Ihnen dies möglich?

Nun, da Sie mir nicht antworten werden, muss ich selbst auf die Suche gehen, und ich hoffe, ich trete Ihnen damit nicht zu nahe.

Wenn ich auf den Text unserer heutigen Kantate schaue – er stammt aus dem 115. Psalm und ist im Kern eine Art Wechselgesang von Priester und Gemeinde des auserwählten israelitischen Volkes – nun, wenn ich auf diesen Text schaue, fällt mir ein Wort ganz zentral ins Auge, das Wort: segnen bzw. im letzten Vers „die Gesegneten des Herrn“. Tatsächlich erscheint das Wort „segnen“ in jedem der vier Verse mindestens einmal, und jedes Mal fanden Sie, verehrter Bach, eine neue Form, einen neuen musikalischen Gedanken, diesen Segen, also die Zuwendung Gottes (mit dem Effekt, dem Gesegneten Glück, Schutz und gutes Gedeihen auszusenden), in Noten trefflich zu illustrieren. Am rührendsten, wie ich finde, in der herrlichen Sopran-Arie – der, soweit ich sehe, ersten ausgewachsenen Arie in Ihrem ganzen Kantatenwerk. Die schönsten Melismen und Auszierungen haben Sie hier tatsächlich dem Wort segnen angedeihen lassen. Und im anschließenden, noch ganz in der Form der Musik Ihrer Vorfahren verhafteten Duett hat Sie der von der wundersamen Mehrung des Segens für das auserwählte Volk handelnde Text angestiftet, durch geschickte Rückungen und Echoeffekte das ständige Wachsen des Segens buchstäblich Klang werden zu lassen.

Deshalb Hand aufs Herz, wertester Klangredner Bach: Das Wort gesegnet inspirierte Sie offensichtlich sehr – und ich vermute: nicht zuletzt weil Sie wussten, auch Sie selbst hatten in Ihrem Leben vielerlei Segen empfangen.

Um mich klarer auszudrücken: Ich meine damit weniger, dass Sie der liebe Gott – wir sprechen immer noch von einer Hochzeitskantate, womöglich komponiert für Ihre eigene Vermählung – dass Sie der liebe Gott mit einem holden Weib gesegnet hat – obwohl Ihre Maria Barbara für Sie zweifellos ein wunderbarer Segen war. Ich meine hingegen vielmehr, dass Ihnen Gott etwas ins Leben mitgegeben hat, was Sie selbst sicherlich als ein ganz besonderes Geschenk erachtet haben: nämlich ein einzigartiges musikalisches Talent, oder wie Sie gesagt hätten: „gute musicalische Profectus“. Und dies nicht nur Ihnen: Ihr Sohn Carl Philipp Emanuel drückt es auf berührende Weise ganz zu Beginn des Nachrufes auf Sie aus, den er vier Jahre nach Ihrem Tod verfasste. Ich darf zitieren: „Johann Sebastian Bach gehöret zu einem Geschlechte, welchem Liebe und Geschicklichkeit zur Musick, gleichsam als ein allgemeines Geschenck, für alle seine Mitglieder, von der Natur mitgetheilt zu seyn scheinen.“

Ja, Sie, die Musikerfamilie Bach, angefangen bei den Söhnen des Wechmaer Bäckermeisters Veit Bach, waren – um im Bild unseres 115. Psalms zu bleiben – mit musikalischer Begabung gesegnet, und sie und ihre Kindeskinder machten daraus ihre Profession, und es scheint, als wurden sie je mehr gesegnet, je mehr sie lebten, je mehr sie musizierten, se mehr sie komponierten.

Gesegneter Bach, natürlich haben wir heute den Eindruck, dass Sie innerhalb Ihrer Familie aus Gottes Segenstopf die größte Portion an musikalischem Talent abbekommen haben. Vielleicht würden Sie zustimmen. Aber ich vermute, Sie würden mir auch entgegenhalten, dass Ihnen der liebe Gott zugleich eine übergroße Portion an harten Prüfungen auferlegt hat, und dies bereits in jungen Jahren. Denn sicher hatten Sie einen guten Start, so als jüngster Sproß, als der Benjamin in der Familie des Eisenacher Stadtpfeifers Ambrosius Bach. Aber dass Ihnen in Ihrem zehnten Lebensjahr der Herr innerhalb von nur neun Monaten Vater und Mutter raubte, war wirklich ein harter Schicksalsschlag und wird Ihnen die Füße unter dem Boden weggezogen haben. Aber es zeichnete sich offenbar schon zu diesem Zeitpunkt ab, dass Sie das Musizieren auf Tasten anzog. Ihr Sohn beschreibt im Nekrolog, doch wohl ganz sicher auf Ihrer eigenen Erzählung beruhend:

„Johann Sebastian war noch nicht zehn Jahr alt, als er sich seiner Eltern durch den Tod beraubt sah. Er begab sich nach Ohrdruff zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph, Organisten daselbst, und legte unter desselben Anführung den Grund zum Clavierspielen. Die Lust unseres kleinen Johann Sebastians zur Musik, war schon in diesem zarten Alter ungemein. In kurtzer Zeit hatte er alle Stücke, die ihm sein Bruder freywillig zum Lernen aufgegeben hatte, völlig in die Faust gebracht. Ein Buch voll Clavierstücke, von den damaligen berühmtesten Meistern […] aber, welches sein Bruder besaß, wurde ihm, alles Bittens ohngeachtet, wer weis aus was für Ursachen, versaget. Sein Eifer, immer weiter zu kommen, gab ihm also folgenden unschuldigen Betrug ein. Das Buch lag in einem bloß mit Gitterthüren verschlossenen Schrancke. Er holte es also – weil er mit seinen kleinen Händen durch das Gitter langen, und das nur in Pappier geheftete Buch im Schranke zusammen rollen konnte – auf diese Art, des Nachts, wenn iedermann zu Bette war, heraus, und schrieb es […] bey Mondenscheine ab. Nach sechs Monaten, war diese musicalische Beute glücklich in seinen Händen. Er suchte sie sich, insgeheim mit ausnehmender Begierde, zu Nutzen zu machen, als, zu seinem größten Herzeleide, sein Bruder dessen inne wurde, und ihm seine mit so vieler Mühe verfertigte Abschrift, ohne Barmherzigkeit, wegnahm. Ein Geiziger dem ein Schiff auf dem Wege von Peru mit hunderttausend Thalern untergegangen ist, mag uns einen lebhaften Begriff von unseres kleinen Johann Sebastians Betrübnis über diesen seinen Verlust geben. Er bekam das Buch nicht eher als nach seines Bruders Absterben, wieder.“

Nun, verehrter Bach, in der rührenden Mondscheinanekdote zeichnet Ihr Sohn von Ihnen das Bild eines überaus talentierten angehenden Musikers, der vom „Eifer, immer weiter zu kommen“ getragen war, und der dem unbedingten Willen, sein Talent auszuprägen, alles, wirklich A-L-L-E-S unterordnete. Ja, selbst die auferlegten Verbote Ihres großen Bruders – immerhin Ihres freiwilligen Ernährers und Ersatzvaters – konnten Ihren Eifer, Ihre Begierde, musikalisch immer weiter zu kommen, nicht stoppen.

Ganz ehrlich, ehrgeiziger Bach, ich glaube das sofort, denn wenn ich mir die Zielstrebigkeit, um nicht zu sagen, die Verbissenheit vergegenwärtige, mit der Sie dann ab Ihrem 18. Lebensjahr auf Ihrer ersten Organistenstelle in Arnstadt zu Werke gingen; wie sie dort die Gemeinde mit abgedrehten Choralbegleitungen „confundiret“ (d.h. kräftig durcheinandergebracht) haben und ewige Zeiten auf die Choräle präludierten; und wie sie dann, nachdem Sie der Herr Superintendent deshalb gerügt hatte, ins Gegenteil verfielen und demonstrativ viel zu kurze Vorspiele hinlegten, Sie beleidigte Leberwurst, weil Sie sich wahrscheinlich chronisch zu wenig gewürdigt fühlten; oder wie Sie sich wacker weigerten, mit der B-Besetzung des örtlichen Schulchors auch nur einen Ton Figuralmusik in der Kirche aufzuführen, weil das Ergebnis unter Ihrem Standard gewesen wäre; wie Sie damals, kaum 20 Jahre alt, mit dem Degen auf einen 22-jährigen Gymnasiasten losgingen, als der Sie mutig zur Rede stellte, weil sie ihn zuvor bei einer Probe vor versammelter Mannschaft als „Zippelfagottist“, sprich: als lausigen Amateur abgekanzelt hatten – nun ja, dies alles zeichnet aus meiner Sicht das Bild eines ziemlich Besessenen jungen Tastenvirtuosen, durch und durch getragen vom „Eifer, immer weiterzukommen“.

Und dieser Feuereifer hörte ja keineswegs in dem Moment auf, als Sie Ihre erste Stelle ergattert hatten. Wie heißt es so treffend weiter im Nachruf auf Sie:

„Hier in Arnstadt bewog ihn einsmals ein besonderer starker Trieb, den er hatte, so viel von guten Organisten, als ihm möglich war, zu hören, daß er, und zwar zu Fusse, eine Reise nach Lübeck antrat, um den dasigen berühmten Organisten an der Marienkirche Diedrich Buxtehuden, zu behorchen. Er hielt sich daselbst nicht ohne Nutzen, fast ein Vierteljahr auf.“

Ja, ganz genau verehrter Bach: ein Vierteljahr – und Sie nahmen dabei billigend in Kauf, dass Sie Ihren eingereichten Urlaub von vier Wochen mal eben um das dreifache überschritten. Die Standpauke, die Sie sich hinterher von Ihren Arnstädter Vorgesetzten anhören durften, ließ Sie sicherlich ziemlich kalt, denn ich vermute: Sie, der musikalisch so Gesegnete, sahen sich unterwegs auf einer wichtigeren Mission und durchaus zu Höherem berufen. Da durften die Philister gerne toben!

Wie dem aber auch sei. Als Sie dann – weil Ihr eigener Anspruch und die Erwartungen Ihrer Arnstädter Obrigkeit einfach nicht zueinander passen wollten – im Frühsommer 1707 als Organist nach Mühlhausen wechselten, haben Sie plötzlich das Interesse an der Kirchenmusik jenseits der Orgel entdeckt – und den Mühlhäusern (und uns staunender Nachwelt) eine Handvoll traumhafter erster Kantaten geschenkt. Bald nach Ihrer Ankunft feierte Ihr Patron, der einflussreiche Mühlhäuser Bürgermeister Conrad Meckbach seinen 70. Ehrentag – vielleicht seinen Geburtstag oder seinen Namenstag. Sie werden es noch genau wissen, verehrter Bach, denn auch Sie stimmten in die Feierlichkeiten ein: mit Ihrer Kantate „Nach Dir, Herr, verlanget mich“ BWV 150. Sie haben damals alles daran gesetzt, die Mischung aus Versen des 25. Psalms und freigedichteten Texten sinnfällig mit Ihren Noten zu veredeln, sprich: die Worte zum Singen zu bringen – frei nach dem Leitsatz, den schon Martin Luther predigte: „Gottes Wort will gepredigt und gesungen sein.“ Denn: „Wer singt, der betet doppelt!“

In der Mitte dieser Kantate steht der fünfte Vers des Psalms: „Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott, der mir hilft, täglich harre ich dein.“ Und hier, gesegneter Bach präsentierten Sie einen Clou, der mich immer wieder beeindruckt und besonders rührt. Denn Sie zeichneten in den ersten acht Takten ein musikalisches Bild für die Worte „Leite mich in deiner Wahrheit“, wie es anschaulicher hätte kaum ausfallen können. Während Sie die vier Sänger sechsmal hintereinander mit dem blockhaften Ausruf „Leite mich“ den Beistand Gottes beschwören lassen, läuft parallel, angefangen tief unten im Bass und taktweise abwechselnd, eine Tonleiter durch alle Vokalstimmen und Instrumentalstimmen zielgerichtet nach oben, bis sie schließlich in der ersten Violine ankommt, die zuletzt das dreigestrichene d und damit sinnbildlich das Himmelreich erreicht. Höchste Kunst für jedermann nachvollziehbar verpackt, kurz: ein Geniestreich!

Verehrter Bach, ich weiss nicht, ob ich als ein auf meine Worte beschränkter Schreiberling mich klar ausdrücke und Ihnen Ihre Komposition jetzt, wo Sie meine Zeilen lesen, noch gegenwärtig ist. Erlauben Sie deshalb, dass Ihre treufleißigen Sankt Gallener JüngerInnen uns beiden diesen Abschnitt einmal vormusizieren:

*****

Verehrter Bach, kann es sein, dass Sie einigermaßen stolz darauf gewesen sind, hier innerhalb von nur acht Takten Musik gewissermaßen die Miniatur einer ganzen Lebensreise nachgezeichnet zu haben? Und könnte es außerdem sein, dass während Sie über das richtige musikalische Bild für diesen Text sinnierten, auch Ihr eigenes bisheriges Leben an Ihnen vorbeigezog? Ich jedenfalls finde, dass diese acht Takte wirklich sinnbildlich für Sie, den faszinierenden, ehrgeizigen und ungeheuer zielstrebigen jungen Bach stehen. Denn tatsächlich waren Ihre ersten 22 Lebensjahre voll von schicksalhaften Ereignissen und einer Reihe harter Prüfungen Ihres Gottvertrauens gewesen. Zugleich haben Sie sich manche Eskapaden geleistet, weil Sie, getragen von dem „Eifer, immer weiterzukommen“, mit dem Kopf buchstäblich durch die Wand gehen wollten. Aber letztlich haben mehrere „göttliche Fügungen“ und natürlich Ihr eigener unbändiger Fleiß Sie auf der Karriereleiter – wie die Tonleiter in der Kantate BWV 150 – schnurstracks nach oben geführt.

Und dann, zielstrebiger Bach, als Sie kaum ein Jahr in Mühlhausen Organist waren und gerade die Ratsherren überzeugt hatten, für teuer Geld, Ihr Instrument, die Orgel der Blasius-Kirche, wesentlich zu erweitern, wanderten Sie kurzentschlossen nach Weimar ab. Enttäuschung allenthalben; und die Begründung für diesen Beschluss lässt mich ebenfalls aufhorchen. Sie schrieben den Mühlhäuser Ratsherrn, Sie hätten in der Stadt stets versucht, „eine regulirte Kirchen-Music zu Gottes Ehren“ – also Vokalmusik im Gottesdienst – aufzuführen und sich deshalb „nicht sonder Kosten einen guthen Apparat der auserlesensten Kirchen-Stücke […] angeschaffet“. Aber es habe sich einfach nicht fügen wollen, dass die gesungene Kirchenmusik tatsächlich Teil Ihrer Verantwortung wurde. Nun aber habe es Gott unvermutet „gefüget“, dass Sie als Organist in die Hofkapelle des Herzogs von Sachsen-Weimar berufen wurden. Und dieser göttlichen Fügung wollten Sie sich, wie Sie schreiben, „zur Erhaltung meines Endzweckes wegen der wohlzufassenden Kirchenmusic“ nun unbedingt stellen.

Ja, verehrter Bach, wieder fühlten Sie sich gesegnet und folgten Ihrer Mission, Ihrem Endzweck, also dem Sinn, den Sie in Ihrem Leben sahen. Und wenn ich Sie nun weiter daran erinnern würde, was sich während Ihrer Jahre in Weimar, Köthen und letztlich Leipzig zutrug, würde ich immer weiter ins Schwärmen geraten über die Beständigkeit, mit der Sie sich als Komponist immer wieder neue, immer schwerer werdende Aufgaben stellten und selbst unter größtem zeitlichen Stress spätestens in Leipzig Meisterwerke im Wochentakt in der Tat „Soli Deo Gloria“, also Gott allein zu Ehren, mit Feuereifer zu Papier brachten.

Ja, unser Staunen über Ihre nimmermüde Kreativität, die mit einem einzigartigen Kunst-Handwerk und einem unbestechlich hohen Anspruch an sich selbst gepaart war, ist schier grenzenlos. Und ja, ich muss resignierend bekennen. Sie und Ihre Meisterschaft bleiben uns unerklärlich.

‚Austernhaft verschwiegener‘ Bach, aber könnte es sein, dass Sie zumindest einmal durchblicken ließen, wie Sie selbst sich die Genese Ihres Genies erklärten? Damals, in den späten 1730 Jahren, als Sie der Musikpublizist Johann Adolph Scheibe wegen Ihrer angeblich unsingbaren, „schwülstigen“, „verworrenen“ und deshalb „wider die Natur“ komponierten Vokalwerke in einem Leserbrief heftig kritisierte. Sie beauftragen damals Ihren Vertrauten Johann Abraham Birnbaum gleich zweimal, Scheibe öffentlich zu widersprechen. Es gibt in Birnbaums langen Verteidigungsschriften zwei Passagen, da habe ich den Eindruck, da sprechen Sie selbst zu uns. Dort heißt es, bezogen auf Ihren einzigartig komplexen Kompositionsstil:

„Wozu ich es durch Fleiß und Übung habe bringen können, dazu muß es auch ein anderer, der nur halwegs Naturell und Geschick hat, auch bringen. … Es ist alles möglich, wenn man nur will und die natürlichen Fähigkeiten durch unermüdlichen Fleiß in geschickte Fertigkeiten zu verwandeln eyfrigst bemühet ist.“

Und an anderer Stelle heißt es bei Birnbaum, bezogen auf die laut Scheibe oft unermesslichen Schwierigkeiten, mit denen Sie Ihre Sänger regelmäßig zu konfrontierten pflegten:

„Er [gemeint sind Sie, verehrter Bach] setzt der Natur der Sänger allemal gemäß. Zuweilen aber gibt er den Instrumentalisten und Sängern Gelegenheit, sich etwas mehr, als gewöhnlich, anzugreifen, um etwas heraus zu bringen, welches sie anfänglich für unmöglich gehalten, weil sie es nicht versucht haben. … Die Erfahrung hat aber gelehret: daß das Unmöglichscheinende möglich wird, wenn Fleiß, Geschicklichkeit und Uebung alle Schwierigkeiten glücklich überwunden haben.“

Ja, lieber Bach, ich glaube, diese Worte bleiben schlichtweg die einzige Antwort, die Sie uns auf die Frage nach der Genese Ihres Genies gegeben haben: Beständiger Fleiß, Feuereifer – so sind Sie beständig über sich selbst hinaus gewachsen; und deshalb war es Ihnen auch möglich, gleich in Ihrem ersten Jahr als Kantatenkomponist so unvergleichliche Werke zu Papier zu bringen. Dennoch, hochfleißiger Bach, fällt Ihre Antwort für uns staunende Nachwelt, die sich alles rational erklären möchte, reichlich unbefriedigend aus. Und damit wäre ich wieder beim Ausgangspunkt meines Briefes angelangt, bei Ihrer Kantate „Der Herr denkt an uns“ mit dieser ganz besonderen Betonung des Wortes Gesegnet. Ja, verehrter Bach, ich glaube Ihnen, dass Sie tatsächlich mit unermesslichem Fleiß Zeit Ihres Lebens das stürmische Meer des Kontrapunktes erforscht und ausgelotet haben, vielleicht sogar wie kein Zweiter; und dass Sie namentlich in Ihren jungen Jahren ganze Nächte hindurch alles an guter Musik, was Sie greifen konnten, in sich aufsaugten und anstatt das Leben zu genießen, Tag und Nacht lustvoll verbissen über die Verarbeitungsmöglichkeiten musikalischer Themen nachdachten. Aber auch damit ist die Genese Ihres Genies nicht hinreichend erklärt, denn fleißig und besessen waren auch andere, und nicht immer gelingt einem alles, und schon gar nicht gut (ich selbst habe zeitweise auch acht Stunden am Tag Geige geübt, und ich betrachte es als einen großen Segen, dass Sie sich das nie anhören mussten).

Letztlich, verehrter Bach, waren Sie Oberfleißiger eben doch auch ein Gesegneter des Herrn – ein Gesegneter, der seine ihm geschenkte außergewöhnliche Begabung zeitlebens mit manischem Eifer ausprägte – und von seinem, wie Sie selbst sagen „Endzweck“ getragen, „eine wohlregulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehren“ zu komponieren, wirklich zum Spielmann Gottes avancierte.

Göttlicher Bach, wissen Sie was, es ist eigentlich vollkommen in Ordnung, dass Sie all meine Fragen eisern unbeantwortet lassen und schon zu Ihren Lebzeiten über die Genese Ihrer Kunst verschwiegen waren wie eine Auster. Denn, und das ist entscheidend, Sie haben in Ihren Noten vollumfänglich geliefert. Und wir sind diejenigen, die darüber etwas sagen müssen, nämlich ein gewaltiges Dank! Danke, verehrter Bach, für Ihren beständigen Eifer und all die Früchte Ihres Fleißes, mit denen wir bis heute wahrhaft „gesegnet“ sind.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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