Nun komm, der Heiden Heiland

BWV 062 // zum 1. Advent

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Horn, Oboe I+II, Streicher und Basso continuo

Auch wenn die Weimarer Schwesterkomposition BWV 61 mit ihrer genial-jugendfrischen Chorouvertüre bekannter sein mag, verkörpert Bachs «zweite» Leipziger Kantatenvertonung des Luther-Liedes «Nun komm, der Heiden Heiland» BWV 62 exemplarisch die erstaunliche Weiterentwicklung seines Werkstils. Ein von pulsierender Erwartung, rasanten Vorimitationen und allgegenwärtiger Liedpräsenz geprägter Eingangschor wird von Arien abgelöst, die im Wunder der bevorstehenden Christgeburt schwelgen und im kleinen Jesuskind bereits den streitenden «Siegeshelden» von Kreuz und Auferstehung erkennen. Und selbst für das in der barocken Figurenwelt schwer darstellbare «Licht» hat Bach eine berührende Darstellungsform gefunden…

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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Lia Andres

Alt/Altus
Antonia Frey

Tenor
Benedikt Kristjánsson

Bass
Peter Harvey

Chor

Sopran
Lia Andres, Cornelia Fahrion, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel, Mirjam Wernli

Alt
Antonia Frey, Francisca Näf, Jan Thomer, Sarah Widmer

Tenor
Zacharie Fogal, Joël Morand, Sören Richter, Nicolas Savoy

Bass
Jean-Christophe Groffe, Grégoire May, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen, Dorothee Mühleisen, Judith von der Goltz

Viola
Martina Bischof, Sonoko Asabuki, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Philipp Wagner, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Horn
Thomas Friedlaender

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Dominik Wunderlin

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
15.12.2023

Aufnahmeort
Teufen (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
3. Dezember 1724, Leipzig

Textgrundlage
Martin Luther (Sätze 1, 6); Unbekannt (Sätze 2–5)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Jede Bach’sche Kirchenkantate ist ein unverwechselbares Meisterwerk. Umso reizvoller sind jene wenigen Fälle, in denen Bach das Eingangswort einer Kantate gleich zweimal vertont hat, was neben der alternativen musikalischen Idee auch Einblicke in seine kompositorische Entwicklung gewährt…
Das zum 1. Adventsonntag 1724 entstandene «Nun komm der Heiden Heiland» BWV 62 ist ein schönes Beispiel für diesen Fassungsvergleich. Während die bereits 1714 am Beginn von Bachs Weimarer Kantatenschaffen komponierte Kantate BWV 61 Luthers kraftvolles Adventslied auf geniale Weise mit der Form einer französischen Ouvertüre verbindet, ist der Eingangschor der zum Choral-Jahrgang 1724/25 gehörigen Schwesterkantate BWV 62 von dessen Satzmodellen geprägt. Ist dieser Satz doch als Concerto von Streichern, Oboen und Basso continuo gestaltet, in das die Durchführung der vier Choralzeilen eingebettet ist. Besonderheiten wie das demonstrative Schweigen des Basses zu Satzbeginn sowie das in den Instrumenten vorgezogene Erklingen der jeweils folgenden Choralzeile vor ihrer vokalen Intonation verweisen dabei ebenso wie die Verstärkung der Sopranmelodie durch ein mitlaufendes Horn auf Bachs Respekt vor dem auf einen gregorianischen Hymnus zurückgehenden Lutherlied. Der von pulsierendem Drängen und eindringlichen Tonwiederholungen erfüllte Satz verkörpert das Warten auf den ersehnten Heiland, der eine am bodenlosen Abgrund stehende «Welt» auf wundersame und unverdiente Weise retten soll.
Entsprechend fordert die von einem strahlenden Orchestertutti begleitete Tenorarie in schwebendem Tanzduktus dazu auf, das in Jesu Geburt beschlossene «große Geheimnis» zu «bewundern». Wenn die Singstimme dabei in verzückten Koloraturen den «höchsten Beherrscher » dafür preist, auf Erden erschienen zu sein, dann nutzt Bach den fein abgestuften Registerwechsel zwischen zart aufspielenden Streichern und füllig zugeschalteten Oboen zu einer jedem Triumphgeschrei abholden Typologie des beglückten Lächelns. In ihr werden sich Eltern jeder Epoche beim Blick auf ihr geborenes Kind, diesen «Schatz des Himmels», nur zu gut wiedererkennen.
Doch ist dieser nahende Jesusknabe zugleich der eingeborene Sohn Gottes, was das ebenso kurze wie gewichtige Bassrezitativ verdeutlicht. Aus «Gottes Herrlichkeit und Thron» herabgestiegen, um das Hoffen der Völker und die Prophezeiungen des Alten Testamentes einzulösen, sorgt seine rettende Ankunft für einen direkt vom Himmel stammenden Glanz und Segensschein.
Dieser bis auf das 1. Buch Mose zurückgehende «Held aus Juda» wird in der folgenden Arie als «siegender Streiter» vorgestellt, womit die Kantate über das Weihnachtsgeschehen hinaus Jesu weiteren Weg vorzeichnet. Die Unisono-Begleitung von Streichern und Basso continuo zielt dabei auf das Unvergleichliche dieses hingebungsvollen Liebeswerkes, in dessen klingend dreifacher Oktavlage zugleich die menschliche und göttliche Doppelnatur Jesu wie die dahinterstehende Dreifaltigkeit aufscheinen. Die bodenständige Basslage und die kreisend aufsteigenden Bravourgesten der Singstimme vermitteln hingegen eine Kampfeskraft und Energie, an deren Erfolg nicht zu zweifeln ist und die auch das Vermögen der notorisch schwachen «Menschenkinder» kräftigen soll.
Dass diese «Herrlichkeit» ein unbegreifliches Geschehen bleibt, dem Sterbliche sich nur mit grösstmöglicher Demut widmen dürfen, hat Bach in einem Duorezitativ von unvergleichlicher Zartheit eingefangen. Sopran und Alt machen sich dabei in ausdrucksvollem Flüstern zur Krippe auf, während die begleitenden Piano-Streicher durch alle Dunkelheit der Welt hindurch das unendliche Licht der Ewigkeit erahnen lassen.
Mit der in schlichter Vierstimmigkeit vorgetragenen Liedstrophe des Schlusschorals kommt nach den modernisierenden Umdichtungen der Binnensätze nochmals der originale Luthertext von 1524 zu seinem Recht. In altertümlicher Sprache und archaischer Melodik wird hier das alle Zeiten übergreifende Lob des dreieinigen Schöpfergottes machtvoll zelebriert.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

«Nun komm, der Heiden...» – schon meint man Zwischenrufe zu hören: Heiden, welch abwertende Bezeichnung! Geht gar nicht! Zur Beruhigung deshalb der Hinweis: Mit den Heiden sind wir selber gemeint, denn es handelt sich um das in Luthers Adventslied übersetzte Wort für Völker im alten Christus-Hymnus «Veni redemptor gentium». Es bildet die Basis dieser Kantate, die am 3. Dezember 1724 erstmals in Leipzig aufgeführt wurde. Auch wenn die Weimarer Schwesterkomposition BWV 61 mit ihrer genial-jugendfrischen Chorouvertüre bekannter sein mag, verkörpert Bachs «zweite» Leipziger Kantatenvertonung des Lutherliedes «Nun komm, der Heiden Heiland» BWV 62 exemplarisch die erstaunliche Weiterentwicklung seines Werkstils. Ein von pulsierender Erwartung, rasanten Vorimitationen und allgegenwärtiger Liedpräsenz geprägter Eingangschor wird von Arien abgelöst, die im Wunder der bevorstehenden Christgeburt schwelgen und im kleinen Jesuskind bereits den streitenden «Siegeshelden» von Kreuz und Auferstehung erkennen. Und selbst für das in der barocken Figurenwelt schwer darstellbare «Licht» hat Bach berührende Darstellungsformen gefunden ...

1. Chor

Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.

1. Chor

Die erste Strophe dieses Adventschorals von Martin Luther (1524) entspricht seiner Übersetzung des Hymnus «Komm, Erlöser der Völker» aus dem 9. Jahrhundert, der seinerseits vermutlich auf den Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339–397) zurückgeht. Er handelt vom Heiland aller Menschen und dessen Geburt aus der Jungfrau Maria – darüber sollen alle staunen. Bach folgt in seiner Vertonung dem Eingangstypus seines Choraljahrgangs, indem er den zeilenweisen Liedvortrag des Soprans von beweglichen vokalen Begleitstimmen begleiten lässt und in einen vorwärtsdrängenden Orchestersatz einbettet. Dessen federndes Wechselspiel der Oboen und Streicher wird immer wieder durch gedehnte Liedzitate in tiefer und hoher Lage strukturiert – es bedarf gerade am Beginn hörbar dieses kommenden Heilands, um die orientierungslos irrende Welt auf ein neues festes Fundament zu stellen.

2. Arie — Tenor

Bewundert, o Menschen, dies große Geheimnis:
der höchste Beherrscher erscheinet der Welt.
Hier werden die Schätze des Himmels entdecket,
hier wird uns ein göttliches Manna bestellt,
o Wunder! die Keuschheit wird gar nicht beflecket.

2. Arie — Tenor

Die Tenorarie kommentiert, was dieses wunderbare Geheimnis bedeutet: Gott selbst «erscheinet» in der Welt, unbefleckt, damit werden Schätze offenbar und göttliches Manna zugänglich. Der grosszügig-elegante Duktus dieser im lichten G-Dur angesiedelten und hörbar tanzverwandten Arie kombiniert schwelgerisches Staunen mit orchestraler Raffinesse und strahlend-tenoraler Grandezza.

3. Rezitativ — Bass

So geht aus Gottes Herrlichkeit und Thron
sein eingeborner Sohn.
Der Held aus Juda bricht herein,
den Weg mit Freudigkeit zu laufen
und uns Gefallne zu erkaufen.
O heller Glanz, o wunderbarer Segensschein!

3. Rezitativ — Bass

Im Bassrezitativ wird die heilsgeschichtliche Linie entfaltet: Dieser filius unigenitus Jesus (der eingeborne Gottessohn) ist der königliche «Held aus Juda», der neue David, der mit seinem «Lebenslauf» «uns Gefallne» freikauft. In Bachs textsensibler Umsetzung sind trotz des gewichtigen theologischen Hintergrundes bekenntnishafte Freude und Licht zugleich präsent.

4. Arie — Bass

Streite, siege, starker Held!
Streite, siege, starker Held,
sei vor uns im Fleische kräftig!
Sei geschäftig,
das Vermögen in uns Schwachen
stark zu machen!

4. Arie — Bass

Nun wird in der D-Dur-Bassarie das Christuskind selber angesprochen: Es möge auf der Welt kraftvoll werden, wie ein Held streiten und siegen, um die schwache Menschheit zu stärken. Für dieses Bild des einzig rechten Streiters hat Bach dem kämpferischen Bass eine Unisonobegleitung sämtlicher Continuoinstrumente und Streicher zur Seite gestellt, die dem Gesangssolisten vom ersten Ton an auf seiner von waffenklirrenden Brechungen gezeichneten Bahn begleitet.

5. Rezitativ — Duett: Sopran; Alt

Wir ehren diese Herrlichkeit
und nahen nun zu deiner Krippen
und preisen mit erfreuten Lippen,
was du uns zubereit;
die Dunkelheit verstört uns nicht
und sahen dein unendlich Licht.

5. Rezitativ — Duett: Sopran; Alt

Im Sopran-Alt-Duett des Rezitativs nähert man sich nun der Krippe, um «diese Herrlichkeit» zu ehren und in den Jubel einzustimmen – trotz aller Dunkelheit (in der Welt!): Denn wir «sahen dein unendlich Licht». Nach der heroischen Brummigkeit der Bassarie bildet die von schimmernden Streichern begleitete wohlklingende Zweisamkeit der hohen Vokalstimmen fast schon romantische Züge aus, die uns in nur acht ausdrucksstarken Takten aus der «Dunkelheit» unseres Seins in das «unendliche Licht» führen wollen.

6. Choral

Lob sei Gott, dem Vater, ton,
Lob sei Gott, sein’m ein’gen Sohn,
Lob sei Gott, dem Heilgen Geist,
immer und in Ewigkeit!

6. Choral

Der Schlusschoral ist wiederum die wörtlich zitierte 8. Strophe des Lutherliedes, eine Doxologie (ein trinitarisches Lob), das dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist («ton» = getan) dargebracht wird. Die vom vollen Orchester einschliesslich des Cornos begleitete Choralstrophe rundet mit der Wiederkehr des archaischen Lutherliedes die Kantate kraftvoll-verbindlich ab.

Reflexion

Dominik Wunderlin

Geschätzte Damen und Herren!

Erlauben Sie mir gleich zu Beginn die bestimmt wenig kühne These, dass nie so viel gesungen wird wie im Weihnachtsfestkreis, beginnend mit dem 1. Adventssonntag – und der je nach Konfession an Epiphanie / Tag der Dreikönige oder erst am Tag der Darstellung des Herrn (Lichtmess) endet. Zu denken ist da nicht nur an die zahlreichen Chorkonzerte in Sälen und in Kirchen, sondern auch an die vielen, im Kalender einfallenden Anlässe, seien sie liturgisch bestimmt, der Volksfrömmigkeit geschuldet oder sogar rein profanen Charakters.

Gerne rufe ich an dieser Stelle einiges davon in Erinnerung: Adventsandachten mit Gesang beim Entzünden einer neuen Kerze (beliebt bei den Pietisten in der Wichern-Nachfolge), Rorate-Feiern, Sternsingen, Krippen-, Schul- und Vereinsweihnachtsfeiern, Waldweihnachtsfeiern von Jugendgruppen, Familienweihnacht, Kurrende-Singen in der Heiligen Nacht, Neujahrsansingen, Dreikönigssingen – und natürlich das festliche Singen von Chören und vom Volk an den Gottesdiensten in diesen Wochen und namentlich in der Mitternachtsmesse und an Weihnachten. Reich ist das Repertoire, passend zu den verschiedenen Festtagen. Naheliegend ist natürlich, dass jene Lieder, in denen das Geschehen in der Heiligen Nacht erzählt wird, hauptsächlich um Weihnachten angestimmt werden.

Da es mir als Kulturwissenschaftler in dieser Reflexion vor allem um das Brauchtum mit dem Jesulein in der Krippe geht, nahm es mich wunder, wie oft sich im älteren Liedgut unserer Kirchengesangbücher explizit das Wort KRIPPE findet. Ich eröffne Ihnen jetzt gerne den Befund: Das Wort für die erste Lagerstätte Christi kommt gar nicht so oft vor, wie man vielleicht erwarten könnte. Dafür sind die Autoren, die die Krippe beim Wort nennen, meist keine Unbekannten:

In dem Lied «Ein Kind geboren zu Betlehem» aus dem 15. Jh., aber nach der hundert Jahre älteren Vorlage «Puer natus in Betlehem», beginnt die 2. Strophe mit «Hier liegt es in dem Krippelein» und in Strophe 3 hören wir zudem von Ochs und Esel, die untrennbar mit der Heiligen Familie einen Stall bewohnen.

Ebenfalls vorreformatorisch ist das Lied «In dulcis jubilo», wo es schon gleich nach dem Beginn heisst: «Unser Herzens Wonne liegt in praesepio und leuchtet wie die Sonne matris in gremio» (in der Übersetzung: Unser Jesuskind liegt in der Krippe und leuchtet wie die Sonne auf dem Schoss der Mutter). Das makkaronische Gedicht, weil eine Mixtur zweier Sprachen, wird übrigens dem einst in unserem Raum wirkenden Mystiker Heinrich Seuse zugeschrieben; bei den musikalischen Bearbeitern begegnen wir nebst anderen Johann Sebastian Bach in zwei Choralvorspielen (für Kenner: BWV 608 und 729).

Auch bei Martin Luther werden wir fündig bei seinem berühmten Weihnachtslied «Vom Himmel hoch, da komm ich her», wo wir in der 5. Strophe singen: «So merket nun das Zeichen recht: die Krippe, Windelein so schlecht; da findet ihr das Kind gelegt …»

Der Kantor und Lehrer Nikolaus Herrmann ist ein jüngerer Zeitgenosse des grossen Reformators und eine direkte Verbindung ist über einen Brief nachgewiesen! Zu seinen zahlreichen evangelischen Liedern gehört «Lobt Gott, ihr Christen alle gleich», wo sich in der 2. Strophe die Liedzeile zum Weihnachtsgeschehen findet: «…  es liegt dort elend nackt und bloss in einem Krippelein.»

Schliessen wir die Aufzählung mit dem ebenso bekannten Weihnachtslied des produktiven Theologen Paul Gerhardt aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, das beginnt mit «Ich steh an deiner Krippe hier». Und wer hat die Melodie dazu komponiert: unser Johann Sebastian Bach, allerdings erst gut achtzig Jahre später.

Und Bachs Adventskantate «Nun komm, der Heiden Heiland» steht ja im Zentrum dieses Abends. Und hier stehen im 5. Satz die Worte:

«Wir ehren diese Herrlichkeit / und nahen nun zu deiner Krippen / und preisen mit erfreuten Lippen, / was du uns zubereit.»

Im Gegensatz zu zwei anderen Sätzen dieser Kantate, die von Martin Luther stammen, ist dieser Satz von unbekannter Hand geschrieben.

Wie schon erwähnt richte ich hier den Fokus auf die Krippe, in die Jesus nach der Geburt gebettet wurde. So steht im Lukasevangelium Kapitel 2, Vers 7:

«Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.»

Das Wort «Krippe» kommt in diesem Evangelium noch zweimal vor. Doch wo sie genau stand – in einer Grotte, in einem Stall? ‒ und wer wirklich bei der Geburt dabei war ausser Josef, ist nicht überliefert. Und ebenso wenig wissen wir, wie die Krippe ausgesehen hat: War es ein aus Brettern zusammengefügter Futtertrog oder ein geflochtener Korb oder bloss eine mit Stroh ausgekleidete Bodenvertiefung, wie sie uns in der Geburtskirche zu Betlehem gezeigt wird?

Wenn wir heute von Weihnachtskrippe sprechen, dann sei gesagt, dass sich der Begriff «Krippe» erst im 17. Jahrhundert ausgeweitet hat zur Bezeichnung der zumeist dreidimensionalen Darstellung eines biblischen Geschehens, sei es nun die Passionsgeschichte, das Pfingstwunder oder – und dies natürlich primär – das Geschehen in der Heiligen Nacht mit der Huldigung durch die Hirten und mit dem späteren Besuch der Heiligen Drei Könige – und darüber immer der Stern und vielleicht auch ein Engel mit dem Spruchband «Gloria in excelsis Deo». Solches begegnet uns in der engeren Weihnachtszeit in Kirchen, öfters mal auch im öffentlichen Raum und selbstverständlich im häuslichen Rahmen. Unterschiedlich ist der künstlerische Anspruch, die Grösse, die Wahl der Materialien, die Farbigkeit, die Gestaltung der Umgebung oder auch die Zahl der Figuren. Manche Weihnachtskrippe konzentriert sich auf die Kernfamilie, bei anderen hat es mehr Figuren und zeigen sich oft nebeneinander mehrere biblische Szenen, die einst ungleichzeitig stattgefunden hatten. Beliebt sind vor allem in italienischen Krippen Nebenschauplätze, wo selbst der Pizzabäcker, der Eisverkäufer und der Schmied am Amboss nicht fehlen – und die Gesten vieler Figuren lassen ahnen, dass es hier richtig laut zugeht. Also nichts von stiller Nacht! Jedoch meines Erachtens mit der Botschaft verknüpft, dass Jesus in eine Welt voller Leben hineingeboren wurde und nicht auf einen Friedhof.

Weihnachtskrippen sind für viele Menschen etwas für Herz und Gemüt, viele beschleicht beim Betrachten eine kindliche Freude. Dem Gedanken, dass eine Krippe gelegentlich auch die Grenze zu religiösem Kitsch überschreitet, ist oft wenig Raum geboten. Denn mancher Krippenbauer flüchtet sich mit seinem Tun in eine heile Welt. Doch bekanntlich ist unsere Welt kompliziert geworden, und so macht selbst «Political Correctness» nicht mehr Halt vor Krippenszenerien. Erst vor wenigen Jahren – wir erinnern uns vielleicht an die Diskussion um die Krippe im Ulmer Münster – setzte die Ansicht ein, dass die farbigen Weisen an einer Krippe von Rassismus zeugen, weil sie zumeist überzeichnet und diskriminierend dargestellt werden. Aus diesem Grund entschied sich in diesem Jahr auch ein grosses ethnografisches Museum in Basel zu einer Leerstelle; der dritte Mann, wir heissen ihn Melchior, fehlt deshalb konsequent, während er zeitgleich auf einer überdimensionierten Weihnachtspyramide am Basler Weihnachtsmarkt zusammen mit Kaspar und Balthasar unaufhörlich seine Runden dreht. Was wohl sein etwas verdutzter Blick über das Marktgeschehen besagen soll? Wundert er sich vielleicht auch, dass manche seiner von weissen Händen gestalteten Brüder nicht mehr in den Krippenstall gelassen werden?

Aber lassen wir das jetzt offen und wenden uns einer Besonderheit zu, der wir mitunter in der Innerschweiz und gerade auch hier im gesamten Bodenseeraum, ja im ganzen süddeutschen Raum oft begegnen, nämlich den Kastenkrippen und Christkindkästchen. Beim erstgenannten handelt es sich um Krippendarstellungen, eingeschlossen in eine Glasvitrine, die man vor Weihnachten jeweils aus dem Réduit holt und bestenfalls noch abstauben muss. Kein Wunder, nennt man diesen Krippentyp in Fachkreisen «faule Krippe». Dies mag zwar eine zutreffende Bezeichnung sein in der Beurteilung eines fleissigen Krippenbauers, der Stunden und Tage mit dem Bau und Aufbau seiner Krippe aufwendet. Aber der zeitliche Aufwand, um das heilige Geschehen in ein Kästchen einzubauen, das man auch noch selber konstruiert, muss durchaus nicht geringer sein. Selbst Krippenbetrachter, die genau hinschauen, können den Aufwand nur begrenzt beurteilen. Da wird eine Landschaft, da werden Häuschen gebaut, Figürchen modelliert und sorgfältig eingekleidet – und Moos, Flechten, Zweiglein, Steine und Muscheln in der Natur gesucht und in die Szenerie eingepasst. Und alles notabene miniaturisiert!

Viele dieser Krippenkästen sind in der Barockzeit und bis ins 19. Jahrhundert entstanden. Gestaltet wurden sie von Klosterfrauen, die in ihren Zellen oft kleine Wunderwelten geschaffen haben, zum Lobe Gottes und zur Freude der Menschen. Nicht wenige Werke entstanden nämlich auch als Geschenk für die eigene Familie. Augenfällig wird dies ganz besonders bei jenen Kästchen, die eine Nonne in ihrer Zelle zeigen, die andächtig vor einem Jesulein in seiner Krippe steht. Solche Arrangements erinnern uns an die vor allem in unseren Frauenklöstern stark und hingebungsvoll gepflegte Christkindverehrung während der hohen Festzeit.

Wohl auf die Jesuskindvisionen des Mittelalters zurückgehend entwickelte sich in der Barockzeit der sogenannt «geistliche Krippenbau»: Dazu gab es Andachts- und Erbauungsbüchlein wie das 1660 in Köln erstmals erschienene Druckwerk «Unser l(ieben) Frawen Kindbethschatz», die der (Zitat) «andächtigen Seele» als Wegführer dienten, um im Herzen die Geburt Christi vorzubereiten und danach das Kind liebevoll zu umsorgen. Dieser geistliche Krippenbau wird in heutigen Frauenklöstern kaum mehr gepflegt, ja ist meist vergessen. An uns Nachgeborene überkommen sind indes jene Kästchen, die oft nur ein Christkind bergen, das nicht selten auf einem Kreuz liegt und so bewusst auf das Ende des irdischen Lebens unseres Gottessohns hinweist.

Das Christkind in den Kästchen ist oft gefäscht, also ein Wickelkind, was an die einst übliche Sitte der Säuglingspflege erinnert, der wir auch in vielen, gerade auch in den frühen Darstellungen des Weihnachtsgeschehens fast ausschliesslich begegnen. Auch diese Christkindkästchen sind Nonnenarbeiten, liebevoll und aufwendig gestaltet, oft mit Seide und Brokat und mit einem Wachsköpfchen: Diese Puppen dienten ebenfalls der religiös-mystischen Kontemplation und sie waren zugleich «himmlischer Bräutigam» und «Seelentröster». In der Darstellung und Ausstaffierung gleichen sie oft dem Augustinerkindl in der Münchner Bürgersaalkirche und dem Bambinello dell’ara coeli (beim Kapitol in Rom). Sie sind wie auch das Loretokindl in Salzburg und das Sarner Jesulein Zeugnisse einer innigen Jesuskindverehrung, die auch wallfahrtsmässig gepflegt wird.

Vor allem im Süden kann man erleben, dass zu Beginn der Mitternachtsmesse die vor dem Altar stehende, mit Stroh gefüllte Futterkrippe noch leer ist. Auf ein Zeichen wird dann aber während der Christmette von einem Vikar oder vom Küster das Bambino Gesù aus der Sakristei gebracht und in die Krippe gebettet.

Diese feierliche Handlung ist nicht unähnlich dem einst auch in unseren katholischen Gegenden gepflegten Kindleinwiegen. Dieser Weihnachtsbrauch ist seit dem hohen Mittelalter bezeugt und wurde in Klöstern, Kirchen und oft auch im privaten Rahmen gepflegt. Dabei wurde eine oft lebensgrosse Christkindfigur von Klerikern oder Nonnen während einer besonderen Feier wiegend in den Armen gehalten und dazu wurden fromme Wiegenlieder gesungen. Oft wurde die Christkindpuppe auch durch die Bankreihen weitergereicht. Dem evangelischen Theologen und Reformator Thomas Kirchmayer (auch bekannt unter dem Namen Thomas Naogeorgus) verdanken wir den Bericht vom Tanz von Kindern vor der Krippe, die vor dem Altar aufgestellt war, und dazu hätten die Erwachsenen geklatscht. Vergleichbares ist u.a. auch noch aus dem sächsischen Erzgebirge des 19. Jahrhunderts bezeugt. Nach Auffassung des österreichischen Volkskundeprofessors Victor von Geramb erhielt das Krippenbrauchtum durch das Kindleinwiegen nicht nur seine besondere Wärme und Innigkeit, sondern überhaupt seine Existenz.

Wie eben gesagt liegen die Anfänge dieses weihnachtlichen Kirchenbrauchtums viele Jahrhunderte zurück und begannen weitaus früher als das Krippenwesen. Die Idee zur Kreation von szenischen Darstellungen des Weihnachtsgeschehens wurzelt indes erst in der Zeit der Gegenreformation. Erst im 20. Jahrhundert hat die Krippe zunehmend auch den Weg ins evangelisch-reformierte Milieu gefunden. Somit sind die einst nur bei den Katholiken übliche Krippe und der zuerst nur bei den Protestanten aufgeputzte Christbaum zu ökumenischen Brauchrequisiten geworden und entreissen uns für hoffentlich mehr als nur einen kurzen Moment aus dem heutigen oft so kalt und abweisend gewordenen Alltag.

Ich hoffe nun, dass ich mit diesem gebotenen und gerafften Ausschnitt aus dem schier unübersehbar breiten und facettenreichen weihnachtlichen Brauchtum auch dazu beigetragen und vor allem keine Verwirrung gestiftet habe. Wenn wir nämlich – dem Text folgend ‒ in dieser heutigen Bachkantate an die Krippe treten, dann tun wir dies wenigstens in Gedanken gleich, wie es vor zweitausend Jahren zuerst die Hirten wirklich tun durften. Möge es uns Heutigen aber auch gegönnt sein, uns mit Herz und Gemüt einer liebevoll gestalteten Weihnachtskrippe zu nähern, sich still über die in Szene gesetzte frohe Botschaft zu freuen und – wenn es passt – auch eine meditative Andacht zu halten.

Dominik Wunderlin, Kulturwissenschaftler, Basel 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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