Die Himmel erzählen die Ehre Gottes
BWV 076 // zum 2. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Trompete, Oboe I+II, Viola da gamba, Streicher und Basso continuo
Wenn die ganze Schöpfung die «Ehre Gottes» verherrlicht, dann darf auch die Musik selbstbewusst in diesen Lobpreis einstimmen! Ob Bach von dem ihm vorgelegten Psalmvers dergestalt ermutigt wurde, wissen wir nicht. Die ausgedehnte Kantate BWV 76 spricht mit ihrer herrlichen Musik jedoch für jenen veritablen Schaffensrausch, den der neu ins Amt gekommene Thomaskantor förmlich zelebrierte, indem er alle Register seiner Satztechnik, Formerfahrung, Affektzeichnung und Instrumentierungskunst zog. Ob in den zwischen Kampfesmut und Liebesgebot emotional ausgespannten Arien, einer später zum Orgeltrio gewordenen Sinfonia für Viola da gamba und im orchestral ausgeschmückten doppelten Schlusschoral – keinen einzigen Takt hat Bach ausgelassen, um seine Leipziger Gemeinde ebenso wie uns Heutige zu verzaubern.
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Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Stephanie Pfeffer
Alt/Altus
Margot Oitzinger
Tenor
Daniel Johannsen
Bass
Peter Kooij
Chor
Sopran
Cornelia Fahrion, Gabriela Glaus, Noëmi Sohn Nad, Susanne Seitter, Ulla Westvik
Alt
Antonia Frey, Laura Kull, Francisca Näf, Lea Scherer, Lisa Weiss
Tenor
Zacharie Fogal, Manuel Gerber, Joël Morand, Nicolas Savoy
Bass
Serafin Heusser, Israel Martins, Daniel Pérez, Jean-Christophe Groffe, Julian Redlin
Orchester
Leitung
Renate Steinmann, Lea Scherer (Rudolf Lutz war erkrankt)
Violine
Renate Steinmann, Lisa Herzog-Kuhnert, Salome Zimmermann, Monika Baer, Patricia Do, Claire Foltzer
Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Stella Mahrenholz
Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov
Viola da Gamba
Martin Zeller
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Andreas Helm, Katharina Arfken
Fagott
Susann Landert
Trompete
Jaroslav Rouček
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Carolin Emcke
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
24.05.2024
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
6. Juni 1723 – Leipzig
Textgrundlage
unbekannter Dichter; 1: Psalm 19, 2 und 4; 7 und 14: Martin Luther 1524
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Erster Teil
1. Chor
«Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk. Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.»
1. Chor
Im Eingangschor hören wir ein schöpfungstheologisches Jubellied: Himmel und Erde erzählen von Gottes Ehre und Werk (Psalm 19, 2, 4). Bach mobilisiert dafür eine grosse Orchesterbesetzung mit Oboen und Trompete und ein Satzpaar aus konzertantem Präludium und sukzessiv aufregistrierter Fuge. Der Kantatenchor gehört zu Bachs raren Vokalsätzen, die explizit Solound Tutti-Passagen vorschreiben und damit die Mehrfachbesetzung seiner Chorsätze belegen.
2. Rezitativ — Tenor
So läßt sich Gott nicht unbezeuget!
Natur und Gnade redt alle Menschen an:
Dies alles hat ja Gott getan,
daß sich die Himmel regen
und Geist und Körper sich bewegen.
Gott selbst hat sich zu euch geneiget
und ruft durch Boten ohne Zahl:
Auf! kommt zu meinem Liebesmahl!
2. Rezitativ — Tenor
Das von einem beweglichen Streichersatz begleitete Rezitativ paraphrasiert die Eingangsworte (Ps. 19) – Gott offenbart sich in Natur und Gnade und lädt alle zum «Liebesmahl» (Luk. 14).
3. Arie — Sopran
Hört, ihr Völker, Gottes Stimme,
eilt zu seinem Gnadenthron!
Aller Dinge Grund und Ende
ist sein eingeborner Sohn,
daß sich alles zu ihm wende.
3. Arie — Sopran
In der Sopranarie wird deutlich: «Gottes Stimme» als die seines Sohnes, alle sind zu dessen «Gnadenthron» geladen. Das durchsichtige G-Dur-Trio für Violine, Singstimme und Continuo setzt trotz markant sprechender Motivik mehr auf inwendige Eindringlichkeit denn auf heraldischen Glanz.
4. Rezitativ — Bass
Wer aber hört,
da sich der größte Haufen
zu andern Göttern kehrt?
Der ältste Götze eigner Lust
beherrscht der Menschen Brust.
Die Weisen brüten Torheit aus,
und Belial sitzt wohl in Gottes Haus,
weil auch die Christen selbst von Christo laufen.
4. Rezitativ — Bass
Das Bassrezitativ beklagt die Abwendung von Gott und die Hinwendung zu Götzen, die Verkehrung der Weisheit in Torheit, ob etwa Belial (der Satan) in Gottes Haus sitze?!
5. Arie — Bass
Fahr hin, abgöttische Zunft!
Sollt sich die Welt gleich verkehren,
will ich doch Christum verehren,
er ist das Licht der Vernunft.
5. Arie — Bass
In der Bassarie wird die «abgöttische Zunft» mit ihrer Weltverkehrung verwünscht – Christus allein sei das Licht der Vernunft! Mit Trombaschall und kämpferischem Tonfall wird diese Verabschiedung tönend verdeutlicht.
6. Rezitativ — Alt
Du hast uns, Herr, von allen Straßen
zu dir geruft,
als wir im Finsternis der Heiden saßen,
und, wie das Licht die Luft
belebet und erquickt,
uns auch erleuchtet und belebet,
ja mit dir selbst gespeiset und getränket
und deinen Geist geschenket,
der stets in unserm Geiste schwebet.
Drum sei dir dies Gebet demütigst zugeschickt:
6. Rezitativ — Alt
Das Altrezitativ bezieht sich auf das Tagesevangelium: eine Einladung zum festlichen Gastmahl an alle (Luk. 14, 16–21). Ein betont demütig ausgestaltetes Arioso moderiert den folgenden Choralsatz als wahrhaftiges «Gebet» wirkungsvoll an.
7. Choral
Es woll uns Gott genädig sein
und seinen Segen geben;
sein Antlitz uns mit hellem Schein
erleucht zum ewgen Leben,
daß wir erkennen seine Werk
und was ihm lieb auf Erden,
und Jesus Christus Heil und Stärk
bekannt den Heiden werden
und sie zu Gott bekehren.
7. Choral
Der 1. Teil der Kantate schliesst mit dem Choral «Es woll uns Gott genädig sein», Luthers Nachdichtung des Psalms 67. Mit kantigen Continuoformeln, orchestralen Gegengewichten und einem elegischen Klangschleier gewinnt Bach dem hörbar alten Lied erstaunlich moderne Facetten ab.
Zweiter Teil
8. Sinfonia
8. Sinfonia
Mit dem später in die Orgelsonate e-Moll BWV 528 eingegangenen zweiteiligen und mit Oboe d‘Amore und Viola da Gamba besetzten Triosatz präsentierte sich Bach auch als Meister der zarten Tonfarben.
9. Rezitativ — Bass
Gott segne noch die treue Schar,
damit sie seine Ehre
durch Glauben, Liebe, Heiligkeit
erweise und vermehre.
Sie ist der Himmel auf der Erden
und muß durch steten Streit
mit Haß und mit Gefahr
in dieser Welt gereinigt werden.
9. Rezitativ — Bass
Das Bassrezitativ bittet zu feierlichen Streicherklängen um Segen und ermahnt die Gemeinde, «durch Glauben, Liebe, Heiligkeit» Gott Ehre zu erweisen und alles Widerwärtige in dieser Welt auszuhalten.
10. Arie — Tenor
Hasse nur, hasse mich recht,
feindlichs Geschlecht!
Christum gläubig zu umfassen,
will ich alle Freude lassen.
10. Arie — Tenor
In der Tenorarie wird die Tagesepistel (1. Joh. 3, 13–18) aufgenommen, die Christen auf den Hass der Welt vorbereitet und zur tätigen Liebe anstiftet. Giftige Bassrepetitionen und effektvolle Tonmalereien der Solostimme machen den Rahmenteil zu einem von Bachs opernmässigsten Entwürfen, der das «gläubige Umfassen» der Arienmitte umso plausibler macht.
11. Rezitativ — Alt
Ich fühle schon im Geist,
wie Christus mir
der Liebe Süßigkeit erweist
und mich mit Manna speist,
damit sich unter uns allhier
die brüderliche Treue
stets stärke und erneue.
11. Rezitativ — Alt
Das Altrezitativ verbindet die Motive des Evangeliums Luk. 14 und der Epistel 1. Joh. 3 – des in sanfter Ariosobewegung nahezu körperlich erfahrbaren Mahls sowie der gegenseitigen Liebe, die Christen stärke und erneuere.
12. Arie – Alt
Liebt, ihr Christen, in der Tat!
Jesus stirbet für die Brüder,
und sie sterben für sich wieder,
weil er sich verbunden hat.
13. Rezitativ — Tenor
So soll die Christenheit
die Liebe Gottes preisen
und sie an sich erweisen:
bis in die Ewigkeit
die Himmel frommer Seelen
Gott und sein Lob erzählen.
13. Rezitativ — Tenor
Das Tenorrezitativ bringt eine Zusammenfassung: Die Christenheit solle Gottes Liebe preisen und «an sich erweisen», so wie die Himmel «Gott und sein Lob erzählen».
14. Choral
Es danke, Gott, und lobe dich
das Volk in guten Taten;
das Land bringt Frucht und bessert sich,
dein Wort ist wohlgeraten.
Uns segne Vater und der Sohn,
uns segne Gott, der Heilge Geist,
dem alle Welt die Ehre tu,
für ihm sich fürchte allermeist
und sprech von Herzen: Amen!
14. Choral
Die Kantate schliesst mit der 3. Strophe des genannten Lutherliedes, einer Doxologie und Bitte um Gottes Segen. Die Wiederaufnahme des figurierten Choralsatzes Nr. 7 fungiert als wirkungsvolles musikalisches «Amen».
Carolin Emcke
Als ich die Anfrage bekam, habe ich zugesagt, bevor ich die E-Mail zu Ende gelesen hatte.
Was kann es für eine schönere Aufgabe geben, als über Bach und eine der Kantaten zu sprechen.
Dachte ich.
Aber die Aufgabe ist ‒ vor allem in der zeitlichen Vorgabe ‒ voller Tücken und schwerer als erhofft.
Ehrlich gesagt: Hätte ich mir eine Kantate auswählen können, wäre es nicht diese gewesen.
Die mir nächste ist «Ich will den Kreuzstab gerne tragen», BWV 56. Das erwähne ich an dieser Stelle nur, falls Sie mich noch einmal einladen wollten.
Aber ich weiss schon auch, warum mir diese zugedacht wurde.
Es sind die Verse, die wir im nachfolgenden Teil hören werden, die den «Hass» als Thema adressieren. Die Sätze 9 und 10. Und so werde ich mich heute in meinen Reflexionen auf diese beiden Sätze konzentrieren.
9. Rezitativ
Gott segne noch die treue Schar,
Damit sie seine Ehre
Durch Glauben, Liebe, Heiligkeit
Erweise und vermehre.
Sie ist der Himmel auf der Erden
Und muss durch steten Streit
Mit Hass und mit Gefahr
In dieser Welt gereinigt werden.
10. Arie
Hasse nur, hasse mich recht,
Feindlichs Geschlecht!
Christum gläubig zu umfassen,
Will ich alle Freude lassen.
Ich möchte ganz kurz auf die Musik selbst eingehen (1) und dann auf das Motiv des Hasses. Also auf das, was Hass tut, was Hass anrichtet. Nicht, woher er kommt, nicht, wie er sich begründet. Oft wird da verzweifelt nach einer Rationalität gesucht, nach einer Erklärung, anstatt den Hass als unbegründet oder unbegründbar zu begreifen. Und es würde im Schatten lassen diejenigen, die er sich zum Objekt sucht. Dem versuche ich mich, immer schon und in diesen Zeiten aus Hass und Ressentiment besonders, zu entziehen. Mich beschäftigt, wie er wirkt, wie er versehrt. Alle. Die, die er sich zum Objekt sucht, aber auch die, die von ihm durchdrungen sind. (2)
Und zum Schluss kehre ich wieder zurück zu den Zeilen der Kantate und möchte leise widersprechen. (3)
*
(1)
Musikalisch (nicht textlich) ist vor allem die Arie relevant.
Hasse nur, hasse mich recht,
Feindlichs Geschlecht!
Christum gläubig zu umfassen,
Will ich alle Freude lassen.
Es ist eine Da-capo-Arie. Textlich in zwei Abschnitte geteilt, «Hasse nur, hasse mich recht, Feindlichs Geschlecht», der A-Teil, wird nach dem B-Part, «Christum gläubig zu umfassen, will ich alle Freude lassen», wiederholt. Der Hass rahmt also ein. Der Gläubige ist umgeben, eingespannt vom Feind.
Allein im A-Teil taucht das «hasse» 16-mal auf.
Die Wiederholung des «Hass»-Elements erzählt davon, wie machtvoll, wie dominant der Hass wirkt, wie bedrohlich. Von den Feinden gehasst zu werden, so erzählt es uns die Musik, ist keine vereinzelte, isolierte Erfahrung, die «treue Schar» ist umzingelt vom feindlichen Geschlecht. Es ist nichts Situatives, sondern eine Konstante im Leben derer, die sich dem HERRN verschrieben haben.
Das Gegenbild «Christum gläubig zu umfassen» enthält wiederum die beiden s-Konsonanten, die schon im Hass enthalten sind, aber hier sollen sie nun eine andere Botschaft verkünden: Die versöhnende, gläubige Hingabe an Christus wird in einer verlängerten Sequenz des Gesangs auf der Silbe «fa» ausgedrückt. Das Melisma, also die lange Tonfolge, die Melodieführung auf einer einzelnen Silbe, das Melisma des «um-faaaaaaaa-ssens» macht musikalisch eben das, was es besingt, es umfasst mit einer weiten Bewegung Christum.
Der Hass kommt kurzatmig daher, sich wiederholend, der Glaube dagegen langmütig und auch beruhigend. Die Musik vollzieht im «umfassen» die Geste selbst, als Kontrast zum abrupten, stockenden «Hass». Die Tonart wechselt hier auch noch von Dur zu Moll, wie eine Verwandlung ins Wärmere.
(2)
«Hasse nur, hasse mich recht», ist hier in der Kantate die Antwort derer, die sich nicht einschüchtern lassen, die wissen, dass sie als Gläubige «durch steten Streit, mit Hass und mit Gefahr» in dieser Welt als Gemeinschaft «gereinigt» werden.
Was ist das für eine Vorstellung der christlichen Gemeinschaft, dass sie durch Streit, mit Hass und mit Gefahr «gereinigt» würde? Welche Referenz gibt es dazu? Ich bin nicht theologisch gebildet und die «Reflexion» sollte, so war mir gesagt worden, eher wegführen und in gegenwärtigen Bezügen denken. Aber ich will doch erst die Worte dort noch verorten, woher sie kommen, im biblischen Kontext, und von dort dann weiterdenken über den Hass.
Hass taucht in der Bibel als Begriff weniger häufig auf, als vielleicht anzunehmen wäre. Aber zu häufig, um alle Bezüge und Verwendungen hier anzusprechen. Und natürlich tauchen Figuren auf, die hassen, es gibt Erzählungen, die Hass und Zorn, Abneigung und Verachtung in immer wieder anderen Wandlungen in Bildern und Geschichten illustrieren.
Das Wort selbst deckt dabei ein breites Bedeutungs-Spektrum ab, Hass als Verachtung und Feindschaft, Hass aber auch als Abneigung, als eher banales Nichtmögen, Hass als tobender Zorn, als nicht versiegende Kraft, die den Gegner vernichten will ‒ das gibt es vor allem in Amalek, den Amalekitern, dem ewigen Feind, von dem uns zentral in Exodus, im 2. Buch Mose, erzählt wird und der immer wieder auftaucht, weil es Generationen sind, die, so lautet das göttliche Gesetz (oder der Fluch), verfolgt, deren Namen getilgt, die vernichtet werden sollen. Amalek als Symbol-Figur, als Emblem des Erz-Feinds, reicht (leider) in die Gegenwart hinein.
Hass ist vielgesichtig, vieldeutig, nicht immer ist darin dieser heisse, alles verschlingende Affekt gemeint. Manchmal taucht er auch harmlos und heiter auf.
Meine liebste Stelle ist sicherlich die in den Sprüchen:
Es ist besser ein Gericht Kraut mit Liebe denn ein gemästeter Ochse mit Hass. (Sprüche 15, 17)
Aber die Vorstellung aus unserer Kantate, dass Hass und Anfeindung zum Kern der Erfahrung des Glaubens gehörten, dass sich die religiöse Treue zeige und beweise im Angesicht ihrer Anfechtung, dies bildet ein wiederkehrendes biblisches Motiv.
Mal kommt es als Warnung daher, in der der HERR denen, die an ihn glauben, von dem erzählt, was ihnen droht.
Verwundert euch nicht, meine Brüder, ob euch die Welt hasset! (1. Johannes, 3, 23)
Mal kommt es schlicht als Setzung daher, als sei der Hass der anderen immanent verkoppelt mit dem eigenen Glauben. Als sei der Hass von aussen der Zwilling der inneren Überzeugung, als könne niemand glauben, ohne nicht auch darum und dafür abgelehnt zu werden:
Und müsset gehasset werden von jedermann um meines Namens willen. Wer aber bis an das Ende beharret, der wird selig. (Matthäus 10, 22)
Und «müsset» gehasst werden von jedermann, «um meines Namens willen».
Was für ein Glaube ist das, der in sich birgt die Gewissheit, abgelehnt zu werden? Was für eine Gemeinschaft ist das, für die der Hass eine notwendige und reinigende Bedingung ist?
Das ist ja, was die Zeilen in der Kantate behaupten.
Was ist das für ein Hass?
Was also macht der Hass?
Wenn ich es von den biblischen Verweisen wegziehe, das Motiv, und es gegenwärtiger, politischer, psychologischer diskutiere, wie wirkt Hass? Ist es wirklich etwas, das sich eine Gemeinschaft, eine Gruppe, was sich Menschen, die sich verbunden fühlen durch die Art, wie sie glauben, wie sie aussehen, wie sie leben, wie sie trauern, wünschen sollten? Ist es wirklich etwas, das eingepreist, eingeplant werden sollte? Als reinigender Faktor? Als verbindendes Element?
Was Bach uns musikalisch erzählt über den Hass in dieser Kantate ‒ stimmt ja.
Das Repetitive, das nicht Innehaltende, das ist eine Eigenschaft von Hass.
Der Hass nimmt die, die ihn empfinden, gefangen. Hass zeichnet sich durch Tiefe aus und durch Zentralität. Anders als Unlust oder auch Zorn ist Hass nicht situativ, nicht bloß teilweise. Ich kann zornig auf eine Person oder eine Gruppe sein, mit der ich ansonsten aber nah verbunden bleibe. Ich kann eine Person oder eine Gruppe unangenehm finden oder schädlich, ich kann sie herabsetzen oder verspotten wollen, und es vergeht wieder.
Aber der Hass setzt, wie der Philosoph Aurel Kolnai schrieb, «das Vollnehmen des Gegenstands voraus». Im Objekt des Hasses sieht der Hassende eine «Art der Entscheidung, das Schicksal der Welt».
Es geht im Hass immer um alles, kategorial. Der Hass ist insofern obsessiv verbunden mit dem Objekt des Hasses, nicht nachlassend, sich wiederholend, wie in der Arie der Kantate.
Wieder und wieder: «hasse mich».
Der Hass ähnelt darin dem Ressentiment, beides Affekte oder Bezüge zur Welt, die sich aufhängen, die sich an sich selbst laben, die nicht genug bekommen.
Die französische Psychoanalytikerin Cynthia Fleury schreibt in ihrem phantastischen Essay über das Ressentiment «Hier liegt Bitterkeit begraben»:
«Das Ressentiment ist das, was keine Erfahrungen mehr zu machen versteht.»
Das trifft auch auf den Hass zu. Wer hasst, macht keine Erfahrungen mehr. Wer hasst, schaut nicht mehr hin, hört nicht mehr zu. Wer hasst, bleibt eingeschlossen in dieser Fixierung auf das Objekt, das mutmasslich gefährlich, mutmasslich bedrohlich, mutmasslich existenziell anders, mutmasslich pervers oder animalisch oder krank oder zersetzend oder unterdrückend oder unrein sei. Der Hass lässt keinen Widerspruch zu, der Hass nimmt allen Raum, alle Zeit, sodass keine Eindrücke, keine Empfindungen, keine Erfahrungen zugelassen werden, die den Hassenden abbringen könnten von seinem tiefen, zentralen, alles verschlingenden Gefühl. So speist der Hass sich aus sich selbst, ein Perpetuum mobile, das andere, gegenläufige Erfahrungen nicht machen will.
Der Hass verformt und entstellt auch die, die ihn empfinden. Der Hass ist niemals nur instrumentell gerichtet auf seine Opfer, der Hass richtet auch die Hassenden selbst zu Recht.
Er entzieht ihnen das Denken in anderen Möglichkeiten, das Denken in anderen Handlungsspielräumen, alles kanalisiert sich, alles fokussiert sich auf das Objekt des Hasses.
Mir macht er Angst, der Hass, auch aus der Ferne schon, aber auch wenn ich nur die Ahnung dieses Empfindens in mir selbst erkenne. Denn natürlich kenne ich das auch. Aber ich will nicht deformiert, ich will nicht in diesem Loop fixiert werden, in dem ich nicht mehr denken oder zweifeln kann. Ich scheue diese Art von Gewissheit, die einhergeht mit dem Hass.
Was richtet der Hass nun an bei denen, die ihm zum Opfer fallen? Was macht das mit Menschen, individuell oder als Angehörige einer Gemeinschaft, wenn sie von anderen gehasst werden? Wenn sie Objekt von Worten, Sätzen, Bildern, Gesetzen, Regeln, Gesten, Taten werden, wenn sie den Hass zu spüren bekommen, auf ihrer Haut, ihrem Körper? Was macht das mit jemandem, der/die sich negiert, abgelehnt, verachtet, unsichtbar gemacht, gehasst weiss?
Das sind schon Abstufungen in den Vokabeln hier. Nicht gesehen zu werden ist etwas anderes, als gehasst zu werden. Es sind Unterschiede, die zählen. Ob jemand missachtet oder misshandelt wird, ob es zu verbalen Anfeindungen oder zu körperlichen Übergriffen kommt, das ist etwas anderes. Das ist nicht alles gleichwertig Gewalt ‒ wie das gelegentlich gern suggeriert wird. Aber das eine bereitet das andere vor. Die Markierungen als andere, der Hass, der die anderen herabsetzt oder heraufsetzt (immer vertikal), der Hass, der einzelne Menschen nicht mehr als einzelne Individuen, sondern nur mehr als Gruppe, als Kollektiv, als Identität (was immer das heissen soll) deklariert ‒ der Hass erleichtert und befördert die Gewalt.
Für die, die betroffen sind, ist es erst einmal ein kognitiver Schock. Es ist verwirrend, ohne Grund, ohne Anlass, ohne eigenes Zutun Objekt von Hass und Ressentiment zu sein. Es ist, das darf ich aus eigener Erfahrung sagen als jemand, die vielfache Formen des Hasses oder des Ressentiments am eigenen Leib zu spüren bekommt, jeden Tag, es ist verwirrend. Es nimmt einem den sozialen Ort. Wir sind intersubjektive, sprachliche Wesen, wir verstehen uns nur im und durch den Dialog mit anderen. Und so prägt uns eben nicht nur die Erfahrung von Liebe und Anerkennung, sondern auch die von Hass und Missachtung.
Die Bibel weiss davon, wie dislozierend der Hass wirkt, wie der Hass einem zusetzt, den sicheren Boden entzieht und man glaubt, darin zu versinken.
In Psalm 69 heisst es:
Hilf mir, o Gott,
denn die Wasser
gehen mir bis an die Seele.
Ich bin versunken in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist;
ich bin in Wassertiefen geraten,
und die Flut schwillt über mich her.
Ich bin müde von meinem Rufen,
vertrocknet ist meine Kehle.
Meine Augen verzehren sich im Harren auf Gott.
Derer, die mich ohne Unterlass hassen,
sind mehr als der Haare
auf meinem Haupte.
Es ist eine eigentümliche Erfahrung, gehasst zu werden für etwas, das man gar nicht ist, für etwas, das man vielleicht ist, das einem aber selbst nicht so bedeutungsvoll vorkommt, für den eigenen Körper, das eigene Geschlecht, die Hautfarbe, für die Art zu lieben oder die Art zu glauben, das wäre dann schon etwas, der Glaube, den ich auch gewählt habe, es wäre etwas, das ich mir aussuche, für das ich auch einstehe, für das, was ich schreibe, das wäre dann noch mal etwas, für das ich auch einstehe, das geschriebene Wort.
Was hiesse das nun, wenn dieser Hass immer mit eingepreist wäre? Wenn ich für die eigene Zugehörigkeit, den eigenen Glauben, für das, was ich lebe oder bin, für eine Eigenschaft oder eine Überzeugung, die ich mit anderen teile, den Hass erwarten soll.
Und damit zurück zu den Zeilen der Kantate:
(3)
Gewiss, die Zeilen versprechen uns zuletzt doch Trost. Bach verspricht uns musikalisch Trost. Es ist das Versprechen, im Glauben aufgehoben zu sein, in der Gemeinschaft der Gläubigen auch, die sich gereinigt findet im Angesicht der Anfechtungen.
Vielleicht ist das sogar wahr. Vielleicht stimmt das.
Vielleicht schliessen wir, die wir uns angefochten oder angefeindet sehen, vielleicht schliessen die, die sich angegriffen und verletzt sehen, enger zusammen. Alle, die als Angehörige einer religiösen, kulturellen, sozialen Gemeinschaft dem Hass ausgesetzt sind, wissen sich zugehöriger denn je.
Aber soll das richtig sein? Soll das nötig sein?
Wenn die eigene Identität immer auch mit den Verletzungen verkoppelt ist, die sie erfährt, was ist das für eine Identität?
Die politische Theoretikerin Wendy Brown spricht von einem «wounded attachment», einer Bindung an die eigene Verwundung, die Angehörige von missachteten Gemeinschaften gleichsam gefangen nimmt. Irgendwann trägt der Schmerz, das Trauma, die Verletzung mehr zum inneren Selbstbild bei als das, was einen sonst einen könnte: die eigenen Hoffnungen, die Erfahrungen des tiefen Glücks, die der Glaube oder die Liebe oder die Gemeinschaft auch ausbilden könnte.
Ich möchte also warnen davor, den Hass zu einem selbstverständlichen, naturwüchsigen Begleiter zu machen. Dazu verformt der Hass zu sehr. Dazu beschädigt und zerstört er zu sehr. Hass und Feindschaft sollten nie eingepreist sein, wir sollten sie nicht als normal denken. Unsere Zeiten klingen gelegentlich so: Als wäre das bösartige, das schäbige, das feindliche Verhalten irgendwie fragloser als das gütige, hilfsbereite, solidarische Verhalten.
Wenn wir dem Hass entgegentreten wollen, dann nur, indem wir uns ihm nicht unterordnen, indem wir ihn nicht normalisieren, nicht für naheliegend, sondern immer und immer für e r s t a u n l i c h halten.
Dafür braucht es die Bereitschaft, Erfahrungen zu machen, andere Erfahrungen zu machen, neuartige, unerwartete, dazu braucht es die Bereitschaft, alte, frühere Erfahrungen nicht alles überstrahlen zu lassen, dazu braucht es die Bereitschaft, sich Zeit zu lassen, zuzuhören, hinzuschauen, nicht nur Stückwerk, nicht nur Fetzen zu nehmen, die nur das bestätigen, was uns Angst oder Schmerz diktieren, dazu braucht es die Bereitschaft, sich zu irren, sich verletzen zu lassen und eben Raum zu lassen, Möglichkeiten zu lassen für etwas,
das besser ist, gerechter, heiterer als das Bisherige.
Das ist es, übrigens, was uns der Glaube verspricht, das ist es, was die Kantate uns verspricht, das ist es, was wir umfassen sollen.
Vielen Dank.