Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten

BWV 207 // Glückwunschkantate zum Antritt der Professur des Dr. Gottlieb Kortte (Dramma per musica)

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Trompete I-III, Pauken, Traversflöte I+II, Oboe I+II, Taille, Streicher und Basso continuo

Die am 11. Dezember 1726 anlässlich der Berufung von Gottlieb Kortte (1698–1731) zum Professor für Römisches Recht an der Universität Leipzig erstaufgeführte Kantate führt mitten in Bachs kompositorische Werkstatt. Schon ihr prachtvoll besetzter Eingangschor ist den Brandenburgischen Konzerten entnommen, und zum Material der von Bach bis in die 1730er Jahre mehrfach umgearbeiteten Kantate gehört noch eine schwungvolle «Marcia». Das im Libretto der Komposition angelegte Gespräch der keineswegs nur akademischen Tugenden «Fleiß», «Ehre», «Dankbarkeit» und «Glück» hat Bach zu einer tönenden Charakterzeichnung inspiriert, in der man zugleich Züge seiner eigenen Schaffenspoetik wie sein persönliches Credo als erfolgreicher musikalischer Lehrer vermuten kann. Steht doch im Zentrum der Argumentation das zu allen Zeiten relevante Thema der generationenübergreifenden Weitergabe eines praktischen, also an lebendigen «Früchten» erkennbaren Wissens.

Video

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Miriam Feuersinger

Alt/Altus
Alex Potter

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Matthias Helm

Chor

Sopran
Lia Andres, Lena Kiepenheuer, Stephanie Pfeffer, Jennifer Ribeiro Rudin, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel

Alt
Judith Flury, Antonia Frey, Tobias Knaus, Laura Kull, Lea Scherer

Tenor
Clemens Flämig, Zacharie Fogal, Manuel Gerber, Nicolas Savoy

Bass
Serafin Heusser, Johannes Hill, Grégoire May, Philippe Rayot, Julian Redlin, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Péter Barczi, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Judith von der Goltz

Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Rafael Roth

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Tomoko Mukoyama, Rebekka Brunner

Oboe
Amy Power, Philipp Wagner

Taille
Katharina Arfken

Fagott
Susann Landert

Trompete
Patrick Henrichs, Pavel Janeček, Benedikt Neumann

Pauken
Martin Homann

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Markus Will

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.08.2024

Aufnahmeort
Teufen AR // evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
11. Dezember 1726 – Leipzig

Textgrundlage
unbekannter Dichter

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten,
Der rollenden Pauken durchdringender Knall!
Locket den lüsteren Hörer herbei,
Saget mit euren frohlockenden Tönen
Und doppelt vermehretem Schall
Denen mir emsig ergebenen Söhnen,
Was hier der Lohn der Tugend sei.

1. Chor

Für den Eingangschor griff Bach auf den 3. Satz seines 1. Brandenburgischen Konzertes zurück, den er von F-Dur nach D-Dur versetzte, neu instrumentierte und auch im Detail umfänglich bearbeitete. An die Stelle des solistischen Violino piccolo trat dabei ein vierstimmiger Choreinbau, der die kraftvolle Musik der Vorlage wirkungsvoll textierte und deren latente Dreiteiligkeit für eine modifizierte A-B-A-Formanlage nutzte. Die sprachlichen Bilder dieses Satzes stellen den Zusammenklang eines Orchesters und dessen Wirkung auf die Zuhörer als Beispiel für den Lohn von tugendhafter Anstrengung insgesamt vor und verknüpfen damit den Anlass der Kantate mit deren eigener Schaffensratio.

2. Rezitativ — Tenor

Wen treibt ein edler Trieb zu dem, was Ehre heißt
Und wessen lobbegierger Geist
Sehnt sich, mit dem zu prangen,
Was man durch Kunst, Verstand und Tugend kann erlangen,
Der trete meine Bahn
Beherzt mit stets verneuten Kräften an!
Was jetzt die junge Hand, der muntre Fuß erwirbt,
Macht, dass das alte Haupt in keiner Schmach und banger Not
verdirbt.
Der Jugend angewandte Säfte
Erhalten denn des Alters matte Kräfte,
Und die in ihrer besten Zeit,
Wie es den Faulen scheint,
In nichts als lauter Müh und steter Arbeit schweben,
Die können nach erlangtem Ziel, an Ehren satt,
In stolzer Ruhe leben;
Denn sie erfahren in der Tat,
Dass der die Ruhe recht genießet,
Dem sie ein saurer Schweiß versüßet.

2. Rezitativ — Tenor und 3. Arie — Tenor

Im Auftritt der vom Tenor verkörperten Figur des «Fleißes» wird zunächst rezitativisch dazu eingeladen, die zwar mühselige, aber mit fortschreitender Lebenserfahrung als beständig ehrenhafter empfundene Bahn jenes «Fleißes» einzuschlagen, der sich mit guten Gründen auf das komplementäre Gut des «Schweißes» reimt. Die nur von Streichern begleitete Arie kommt dann im eindringlichen Tonfall und geschärften h-Moll daher – es ist ein aufreibender und von der dauernden Gefahr des Hingleitens erschwerter Weg, der hier im Zeichen des Wissens und der Tugend «erwählt» werden soll. Doch tönt im Mittelteil bereits der strahlende Lohn solcher Anstrengung an.

3. Arie — Tenor

Zieht euren Fuß nur nicht zurücke,
Ihr, die ihr meinen Weg erwählt!
Das Glücke merket eure Schritte,
Die Ehre zählt die sauren Tritte,
Damit, dass nach vollbrachter Straße
Euch werd in gleichem Übermaße
Der Lohn von ihnen zugezählt.

4. Rezitativ — Bass, Sopran

Bass
Dem nur allein
Soll meine Wohnung offen sein,
Der sich zu deinen Söhnen zählet
Und statt der Rosenbahn, die ihm die Wollust zeigt,
Sich deinen Dornenweg erwählet.
Mein Lorbeer soll hinfort nur solche Scheitel zieren,
In denen sich ein immerregend Blut,
Ein unerschrocknes Herz und unverdrossner Mut
Zu aller Arbeit lässt verspüren.

Sopran
Auch ich will mich mit meinen Schätzen
Bei dem, den du erwählst, stets lassen finden.
Den will ich mir zu einem angenehmen Ziel
Von meiner Liebe setzen,
Der stets vor sich genung, vor andre nie zu viel
Von denen sich durch Müh und Fleiß erworbnen Gaben
Vermeint zu haben.
Ziert denn die unermüdte Hand
Nach meiner Freundin ihr Versprechen
Ein ihrer Taten würdger Stand,
So soll sie auch die Frucht des Überflusses brechen.
So kann man die, die sich befleißen,
Des Lorbeers Würdige zu heißen,
Zugleich glückselig preisen.

4. Rezitativ — Bass, Sopran und 5. Arie (Duett) — Sopran, Bass

Der Ankündigung, nur tätige Verächter jedweder «wollüstigen Rosenbahn» in die Gefilde der vom Bass verkörperten «Ehre» einzulassen, stimmt das vom Sopran vertretene «Glück» zu. Was einem Ensemble ausschliesslich positiver Figuren an dramaturgischer Spannung fehlen mag, wird durch eine genussvolle Moralität aufgewogen, die im errungenen Lorbeer einen höheren Lebenssinn zu finden vermag. Das mit einem Continuo-Vorspiel beginnende Duett reiht dann in zugänglicher Dreistimmigkeit naturbezogene Bilder belohnter Anstrengung aneinander. Der an Bachs Köthener Huldigungskantaten erinnernde Satz geht in ein ebenso höfisches «Ritornello» mit Trompeten über, das dem folgenden Auftritt der Dankbarkeit wirkungsvoll den Vorhang öffnet.

5. Arie (Duett) — Sopran, Bass

Bass
Den soll mein Lorbeer schützend decken,

Sopran
Der soll die Frucht des Segens schmecken,

Beide
Der durch den Fleiß zum Sternen steigt.

Bass
Benetzt des Schweißes Tau die Glieder,
So fällt er in die Muscheln nieder,
Wo er der Ehre Perlen zeugt.
Sopran
Wo die erhitzten Tropfen fließen,
Da wird ein Strom daraus entsprießen,
Der denen Segensbächen gleicht.

6. Rezitativ — Alt

Es ist kein leeres Wort, kein ohne Grund erregtes Hoffen,
Was euch der Fleiß als euren Lohn gezeigt;
Obgleich der harte Sinn der Unvergnügten schweigt,
Wenn sie nach ihrem Tun ein gleiches Glück betroffen.
Ja,
Zeiget nur in der Asträa
Durch den Fleiß geöffneten und aufgeschlossnen Tempel,
An einem so beliebt als teuren Lehrer,
Ihr, ihm so sehr getreu als wie verpflicht‘ten Hörer,
Der Welt zufolge ein Exempel,
An dem der Neid
Der Ehre, Glück und Fleiß vereinten Schluss
Verwundern muss.
Es müsse diese Zeit
Nicht so vorübergehn!
Lasst durch die Glut der angezündten Kerzen
Die Flammen eurer ihm ergebnen Herzen
Den Gönnern so als wie den Neidern sehn!

6. Rezitativ — Alt und 7. Arie — Alt

Das Rezitativ ruft Metaphern aus der antiken Bildungswelt auf, um den Dank der zufriedenen Hörer – also der auftraggebenden Studenten – allen «Neidern» zum Trotz auf den «beliebten Lehrer» zu lenken. In einem luftigen Ariensatz mit obligaten Flöten wird dieses Angedenken klangvoll perpetuiert, wobei ein ostinates Klopfmotiv der Unisono-Streicher das emsige Inschriftmeisseln in den harten Marmorblock illustriert.

7. Arie — Alt

Ätzet dieses Angedenken
In den härtsten Marmor ein!
Doch die Zeit verdirbt den Stein.
Lasst vielmehr aus euren Taten
Eures Lehrers Tun erraten!
Kann man aus den Früchten lesen,
Wie die Wurzel sei gewesen,
Muss sie unvergänglich sein.

8. Rezitativ — Sopran, Alt, Tenor, Bass

Tenor
Ihr Schläfrigen, herbei!
Erblickt an meinem mir beliebten Kortten,
Wie dass in meinen Worten
Kein eitler Wahn verborgen sei.
Sein annoch zarter Fuß fing kaum zu gehen an,
Sogleich betrat er meine Bahn,
Und, da er nun so zeitig angefangen,
Was Wunder, dass er kann sein Ziel so früh erlangen!
Wie sehr er mich geliebt,
Wie eifrig er in meinem Dienst gewesen,
Läßt die gelehrte Schrift auch andern Ländern lesen.
Allein, was such ich ihn zu loben?
Ist der nicht schon genung erhoben,
Den der großmächtige Monarch, der als August Gelehrte
kennet,
Zu seinen Lehrer nennet.

Bass
Ja, ja, ihr edlen Freunde, seht! wie ich mit Kortten bin
verbunden.
Es hat ihm die gewogne Hand
Schon manchen Kranz gewunden.
Jetzt soll sein höhrer Stand
Ihm zu dem Lorbeer dienen,
Der unter einem mächtgen Schutz wird immerwährend
grünen.

Sopran
So kann er sich an meinen Schätzen,
Da er durch eure Gunst sich mir in Schoß gebracht,
Wenn er in stolzer Ruhe lacht,
Nach eigner Lust ergötzen.

Alt
So ist, was ich gehofft, erfüllt,
Da ein so unverhofftes Glück,
Mein nie genung gepriesner Kortte,
Der Freunde Wünschen stillt.
Drum denkt ein jeder auch an seine Pflicht zurück
Und sucht dir jetzt durch sein Bezeigen
Die Früchte seiner Gunst zu reichen.
Es stimmt, wer nur ein wahrer Freund will sein,
Jetzt mit uns ein.

8. Rezitativ — Sopran, Alt, Tenor, Bass

Nun kommen nochmals alle Hauptpersonen zu Wort, wobei sie ihre jeweilige Beziehung zu Professor Kortte offenbaren und zum allgemeinen «Einstimmen» auffordern.

9. Chor

Kortte lebe, Kortte blühe!
Den mein Lorbeer unterstützt,
Der mir selbst im Schoße sitzt,
Der durch mich stets höher steigt,
Der die Herzen zu sich neigt,
Muss in ungezählten Jahren
Stets geehrt in Segen stehn
Und zwar wohl der Neider Scharen,
Aber nicht der Feinde sehn.

9. Chor

Die im Rezitativ aufgesparte Vierstimmigkeit wird nun im vollen Tuttisatz zur klangvollen Akklamation: «Kortte lebe, Kortte blühe». Bach findet hier zu einer wuchtigen Klarheit, die nur im Mittelteil nochmals gelehrsamen Anklängen Raum gibt. Kaum vorstellbar, dass Bach diesen grossartigen Satz über die ebenso anlassgebundene Umwidmung für König August III. (BWV 207a) hinaus nicht auch noch für eine geistliche Bestimmung wiederverwendet haben sollte …

Reflexion

Markus Will

Liebe Kantatengemeinde,

heute sind wir in einem Gotteshaus eigentlich am falschen Ort, da «meine» zu reflektierende Kantate «Vereinigte Zwietracht der wechselnden Saiten» eine der wenigeren weltlichen Kantaten Bachs ist, die er 1726 als Auftragsarbeit zur Berufung von Gottlieb Kortte zum Professor für römisches Recht an der Universität Leipzig komponiert hat. Sehr weltlich hatte Bach sehr viele Kinder und war auf solche zusätzlich vergüteten Aufträge angewiesen.

Dabei hatte Bach an der einen oder anderen Stelle nicht wirklich komponiert, sondern kopiert und sich für die Kantate 207 bei seinem ersten Brandenburgischen Konzert bedient. Eine frühe Form des Copy & Paste, die heute wohl etwas für Plagiatsjäger wäre. Dass die Musikwissenschaft diese besondere Gabe von Komponisten jedoch «Parodieverfahren» nennt, hat etwas, finde ich: Klingt auch – im Sinne einer Parodie – komischer, als vom Umschreiben einer Partitur zu sprechen.

Zunächst zur Sprache: In einer Rezension zu Bachs weltlichen Kantaten aus der FAZ aus dem Jahre 1997 hiess es: «Fast möchte man es angesichts dieser weltzugewandten Formulierungskunst (der Autoren des Handbuchs) bedauern, dass … aus der Weltlichkeit der weltlichen Kantaten nicht noch mehr sprachspielerisches Kapital geschlagen wurde.»

Da ich kein Musikwissenschafter, sondern Wirtschaftswissenschafter bin, will ich meiner Reflexion zumindest den Versuch einer «Formulierungsfähigkeit» zugrunde legen, denn die Sprache dieser Kantate hat es wirklich in sich. Der Librettist ist leider nicht eindeutig bekannt, was angesichts dieses kraftvollen Textes bedauerlich ist. Darauf werde ich zurückkommen.

Als ich für die heutige Reflexion angefragt wurde, wurde mir bedeutet, dass es sich bei diesem Text um eine Lobhudelei par excellence handle, was doch gerade in der Welt der Wirtschaft, in der ich mich bewege, häufiger vorkomme, weshalb ich geeignet sei, die heutige Reflexion zu übernehmen. Das stimmt vielleicht, aber ganz so einfach ist das nicht; denn selten werden Wirtschaftsführer sprachlich und musikalisch belobigt.

Es sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ich absichtlich und genderkonform nur die männliche Form verwende, da Frauen in der Wirtschaftselite immer noch seltener vorkommen und zudem – zumindest diejenigen, die ich kenne –, vor Lobhudeleien gefeiter sind als Männer. Frauen in der Teppichetage der Wirtschaft sind deutlich uneitler als Männer. Und Eitelkeit ist der Nährboden, auf dem erst die Lobhudelei gedeihen kann.

Selten habe ich mich auf zwanzig Minuten länger, aber auch selten genüsslicher vorbereitet, vor allem, wenn man doch versucht, die Sprache und die Musik gemeinsam zu reflektieren. Wie gesagt, ich bin kein Musikwissenschafter, aber beim Hören der Musik kam mir der beschriebene Fleiss mit der Leichtigkeit des Tenors daher und die erreichte Ehre eher mit der Bedrückung des Basses. War die Arbeit vielleicht doch leichter getan, als die Ehre des Getanen auf dem Gelobten lastet?

War Kortte etwa einer dieser Überflieger, dem alles so leicht zufliegt? Eine Art Sergio Ermotti etwa, dem ja auch alles zufliegt? Sogar zum Spottpreis eine ganze Bank, die einst von Alfred Escher gegründet worden war und ganze Tunnel durch die Alpen finanziert hat. Wäre es mithin gerechtfertigt – ein Gedankenspiel –, einem wie Ermotti eine Kantate zu widmen, wenn er dereinst ehrenvoll von einem der wichtigsten Ämter der Eidgenossenschaft und Finanzindustrie abtritt?

Oder würde es eher eine moderne Tiktok-Video-Kantate werden – vorgetragen von der globalen Taylor Swift im helvetischen Duett mit Nemo. Was für ein Code an Lob hudelte dabei heraus? Was für eine Insta- oder Youtube-fähige Produktion? Kantaten in ihrer Kürze und Würze eignen sich super für die schnellen Sozialen Medien. Als Texter stünde sicher der Librettist der Schweizer Business Class, Martin Suter, zur Verfügung. Was für eine Parodie auf den Paradeplatz wäre das!

Nach diesem wirtschaftsweltlichen Exkurs zurück zur echten Bach’schen weltlichen Kantate:

Gerade haben wir den Schluss gehört mit zigfachen «Kortte lebe, Kortte blühe». Ich weiss nicht, wie es Ihnen gegangen ist, aber der Eingangschor macht eigentlich Lust auf Lob, während dieser Schlusschor so voll des Lobes ist, dass es fast schon weh tut: übertrieben, unangemessen, auch einschmeichelnd, geschmettert von Trompeten.

Gehudelt eben! Leise ist das alles nicht wirklich! Trompeten eignen sich grossartig für jede Art von Lob. Die Chöre umranden dabei eine Lobhudelei par excellence in zwei Teilen:

  • Erst eine Art generelle Abhandlung über Ehre, Glück, Dank und vor allem über den Fleiss harter Arbeit und intensiver Studien, die hoch und übertrieben gelobt werden.
  • Und dann im zweiten Teil die spezielle Übertragung auf Kortte, den neuen Professor mit dem gerade gehörten Schluss: «Kortte lebe, Kortte blühe!»

Im ersten Bass-Rezitativ (4) heisst es erst noch allgemein: «Mein Lorbeer soll hinfort nur solche Scheitel zieren/In denen sich ein immerregend Blut/Ein unerschrocknes Herz und unverdrossner Mut/Zu aller Arbeit lässt verspüren». Die dankende Alt-Aria (7) beginnt mit: «Ätztet dieses Angedenken/In den härtsten Marmor ein!», ehe es sodann um Kortte selbst geht.

Der Schlusschor endet mit: «Den mein Lorbeer unterstützt/Der mir selbst im Schoße sitzt/Der durch mich stets höher steigt/Der die Herzen zu sich neigt/Muss in ungezählten Jahren/Stets geehrt in Segen stehn/Und zwar wohl der Neider Scharen/Aber nicht der Feinde sehn», nachdem alle Solo-Stimmen im zweiten Rezitativ (8) den «nie genug gepriesnen Kortte» loben.

Das ist Lobhudelei vom Feinsten. Grosser Gott, loben wir etwa doch nicht nur dich, mag man sich da in einem sakralen Umfeld fragen! Aber wie gesagt: Es ist ja eine weltliche Kantate.

Wir müssen uns für einen Moment mit der Morphologie des Lobes und seiner Hudelei beschäftigen, um die Tragweite der Lobhudelei zu begreifen: Wie bei Liebe & Hass, wie bei Leben & Tod und anderen sprachlichen Begriffspaaren hat auch das Lob seinen Antagonisten: den Tadel. Lob & Tadel eben! Wobei wir lieber lieben, leben, loben und vor allem gelobt werden als zu hassen, zu sterben, zu tadeln oder getadelt zu werden.

Aber anders als bei vielen sprachlichen Antagonisten – wie Liebesbeweis & Hasstirade, Lebensgefühl & Todesangst – gibt es zwar für das Lob, aber nicht für den Tadel zusammengesetzte Nomen. Der Tadel ist im Grunde ein Solitär. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass das Lob die Arbeit des Tadels mitmachen muss: nämlich genau dann, wenn das Lob überzogen wird.

Dann hat es etwas von einem tadelnden Fingerzeig. Dann sind wir im Kern der Lobhudelei angekommen – dem übertriebenen, peinlichen, ins Unerträgliche gehenden und dauernd wiederholten Lob – wie in unserer Kantate. Die Lobhudelei ist nicht selten eigentlich eine versteckte «Tadelhudelei».

Nur, meine Damen und Herren:

Kommunikationswissenschaftlich analysiert kommt es bei der Lobhudelei darauf an, ob man der Sender, der Empfänger oder das Publikum ist. Das sind unterschiedliche Anspruchsgruppen.

Wenn man es nämlich richtig macht, wenn man es subtil genug anstellt, dann wird der das Lob Empfangende dieses nicht als übertrieben, sondern als angemessen und verdient einstufen. Die kräftig Lobhudelei vertonenden Trompeten kommen dann im Ohr des Empfängers wie lieblich-schmeichelnde Flötentöne an, auf die er aus seiner Sicht eben einen Anspruch hat.

Der Sender, der Texter hingegen hat dabei zwei Möglichkeiten:

  • Entweder kann er seine Kritik, seinen Tadel, hübsch in sprachliche Girlanden verpackt platzieren und so dem Publikum seine Meinung zwischen den Zeilen und Tönen vermitteln.
  • Oder er glaubt das alles wirklich und biedert sich an: «Ja, ja, ihr edlen Freunde, seht! wie ich mit Kortten bin verbunden.» Wer solche Freunde hat, braucht dann keine Feinde mehr.

Diese Mischung aus verdientem oder vergiftetem Lob, übertriebenem Eigenlob, geglaubter oder kritischer Lobhudelei und damit eigentlicher Tadelhudelei kann man verschiedentlich beobachten, wenn man sich auf den Jahrmärkten der Eitelkeiten befindet.

Die Mischung, das Rezept des Lobes kennt nur der Sender. Wie es schmeckt, entscheidet das Publikum. Dort gelangt das Lobesmenu vom Ohr ins Hirn. Das Publikum ist der wahre Empfänger der Lobhudelei. Fast möchte man sagen: Den Gelobten braucht es eigentlich nicht!

Der Empfänger ist nur Mittel zum Zweck – Marshall McLuhan, der grosse kanadische Kommunikationswissenschafter, hat das «the medium is the message» genannt. Der Gelobte wird hier zum Medium, heute nicht selten zum Sozialen Medium.

Schon diesseits der Sozialen Medien rate ich jedem Empfänger, Lobhudeleien in Form von Auftragsbiographien, Festschriften, Dankesreden, Abschiedsfeiern oder sonstigen Plattformen der persönlichen Eitelkeit entweder zu widerstehen oder echte soziale Korrekturmechanismen einzubauen. Das wiederum erfordert menschliche Grösse und vor allem eines: Uneitelkeit!

Bei der Frage nach dem Mass an Eitelkeit sind wir endgültig in der Welt der Wirtschaft angekommen. Leider verbietet es mir mein Ehrenkodex, Beispiele aus meiner beruflichen Tätigkeit beim Namen zu nennen, aber gerade die Herren der Schöpfung sind oftmals nicht davor gefeit, die Hudelei im Lob überhaupt zu erkennen. Sie hören das Lob, aber nicht die Hudelei!

Das hat einen Grund: Im Kern sind die Herren an der Spitze oft einsam, haben niemanden zur Reflexion und neigen gerade wegen ihrer Führungsstärke, die sie zu Chefs gemacht hat, nicht sui generis zur Selbstreflexion. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, sondern lediglich eine Beobachtung meinerseits aus jahrelanger Erfahrung.

Nun wird mir fast jeder «Wirtschafts-Kortte» widersprechen und mir erklären, dass er alte, echte, wahre Freunde habe, die ihm schon «dütsch und dütlich» die Meinung sagen würden. Beim jährlichen Wandern, wöchentlichen Saunieren, im Offiziersclub, der Zigarren-Lounge oder beim Ski-Weekend ohne Frauen.

Das mag sogar stimmen, aber die meisten alten, echten, wahren Freunde wissen gar nicht, wie der grosse Freund als Chief Executive Officer in seinem Arbeitsumfeld agiert, weil sie aus seinem privaten Umfeld kommen. Sie kennen nur den privaten Freund und nicht den beruflichen Chief, dessen grossartige Arbeit sie aus den Medien kennen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich habe viele «Big Boys» kennengelernt, die geerdet sind – über Familie, Freunde, auch Kollegen –, aber über diese gibt es im übertragenen Sinne auch keine lobhudelnden Kantaten oder von Corporate Influencers und deren Content Creators befeuerte LinkedIn-, Instagram- oder Tiktok-Accounts.

Auf die Sozialen Medien möchte ich explizit eingehen, weil sie für die Gesellschaft immer wichtiger werden und durchaus sozialinteraktives Gefahrenpotential haben.

Die LinkedIn&Co-Accounts sind die wahren Lobhudeler der modernen digitalen Arbeitswelt. In dieser Welt gibt es kaum Niederlagen, nur Siege. Und wenn es eine Niederlage gab, so wird aus der Verarbeitung wieder ein Sieg. Das sind komische Umschreibungen, Parodien eben.

Hier ist eine neue Form von digitalen Librettisten entstanden, die gegen Geld – und damit sind sie käuflich und abhängig – Personal- oder People-Branding-Strategien für die sogenannte CEO-Positionierung entwickeln. Dabei ist der Content nur selten kreativ, sondern oft sehr primitiv!

Hier sehen wir alte weisse Männer in noch weisseren Sneakern und weissen engen T-Shirts in den Hosen ihrer Söhne auf Bühnen Reden halten – beklatscht von jungen Mitarbeitenden, also Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis, was man netter Arbeitsvertrag nennt.

Die maximale Übertreibung ist das Handwerkszeug der Influencer, die sich zu allem Überfluss auch noch alle den Lorbeer selbst auf ihre digitalen Scheitel setzen und sich von Likes & Co. zieren lassen. Das ist noch das Schlimmste: Der Souffleur will raus aus der Kulisse auf die Bühne.

In den Sozialen Medien entsteht die Gefahr des gegenseitigen und übertriebenen Lobens, ohne sich einem gesellschaftskritischen Diskurs auszusetzen. Soziale Medien sind eben keine echten Medien und Influencer eben keine echten Journalisten.

Medien kritisieren konstruktiv, Soziale Medien stilisieren obsessiv und zwitschern einem, wie man aktuell sehr gut in den USA beobachten kann, gerne ein «X» für ein «U» vor. Da lauern Gefahren für unsere Demokratien und Werte.

Zum Abschluss zurück zu Bach und zur «weltzugewandten Formulierungskunst» unseres Librettisten und damit zu Text und Musik und Bewegtbild. Der Librettist ist, wie ich eingangs sagte, nicht bekannt, aber man vermutet Heinrich Gottlieb Schellhafer – ein Student Korttes.

Das ermuntert mich zu einem abschliessenden eigenen Parodieverfahren – alles im Konjunktiv:

Ich stelle mir das, rein fiktiv, im Heute der ChatGPT-Copy&Paste-Studentengeneration vor. Studenten hätten von der neuen St. Galler Bildungschefin Bettina Surber – auf Anraten des Kantonalen Influencers für eine neue coole Idee für die Standortkommunikation – den Auftrag erhalten, einen Text zur Ernennung eines neuen HSG-Professors zu schreiben. Selbstverständlich würde Rudolf Lutz gebeten, die Kantate umzuschreiben und sie über sein «Lutzogramm» zu erklären.

Die Kantate unter dem Hashtag «Hatate» würde im epochalen Square der HSG uraufgeführt, diesem wissenschaftssakralen Tempel und neuen Ostschweizer Marktplatz der Eitelkeiten. Und ja, auf den Dächern oben auf dem Rosenberg wäre Platz genug für Pauken und Trompeten, die man bis in die Niederungen der Kathedrale unten in der Stadt hören könnte – alles hinausgetragen in die Welt über die Sozialen Medien. Was für eine Parodie wäre das!

Die Sozialen Medien mit ihren Kantaten-ähnlichen Kurzvideos sind aber leider die Zukunft der digitalen Lobhudelei, der Instrumentenkasten für das digitale Parodieverfahren. Wir müssen aufpassen. Künstliche Intelligenz hülfe uns dabei nicht weiter; denn die könnte nur plagiieren, parodieren und kopieren, aber niemals Neues konzipieren oder komponieren.

Das ist der grosse Unterschied zu Bach, der sich – wie in dieser Kantate 207 – hin und wieder mit hoher menschlicher Intelligenz in früheren Werken bedient und etwas umgeschrieben hat. Das wollen wir dem grossen Komponisten nachsehen und seiner ausgeprägten natürlichen Gabe zur Komposition grossartiger Musik zuschreiben.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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