Bach & Brahms – BWV 27 «Wer weiß, wie nahe mir mein Ende» und op. 45 «Ein deutsches Requiem»

Gespielt auf historischen Instrumenten, Live-Aufnahme

Johann Sebastian Bach, BWV 27 «Wer weiß, wie nahe mir mein Ende» und Johannes Brahms, op. 45 «Ein deutsches Requiem»

Ana Maria Labin (Sopran), Jan Börner (Altus), Sören Richter (Tenor), Peter Harvey (Bass), Chor & Orchester der J. S. Bach-Stiftung unter der Leitung von Rudolf Lutz

Aufnahmeort: Kirche St. Johann, Schaffhausen, Schweiz, 5. November 2024, Konzert im Rahmen der Tournee «Mit Bach und Brahms»

Die Live-Aufnahme ist auf allen gängigen Audio-Streamingplattformen erhältlich.

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Todesbewältigung und Trost in der berührenden Klangwelt des 19. Jahrhunderts

I.

Tod und Sterben sind seit jeher Schlüsselfragen des menschlichen Zusammenlebens. In der Kulturgeschichte sind sie deshalb wie kaum ein zweites Thema präsent. Auch die Musikgeschichte kennt zahlreiche Werke, die sich entweder konkreten Traueranlässen verdanken, das Andenken an bestimmte Verstorbene wachhalten oder in einem weiteren Sinn zur Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und dem erhofften Danach auffordern. Für Johann Sebastian Bach als Mensch des 18. Jahrhunderts war der Tod in seinem Leben und Schaffen stets gegenwärtig. Nach dem frühen Tod der Eltern verwaist und mit 35 Jahren bereits verwitwet, musste Bach immer wieder den Abschied von verstorbenen Kindern und Angehörigen bewältigen. Das Musizieren bei Beerdigungen sowie Gedenkkompositionen für hochgestellte Persönlichkeiten machten einen erheblichen Teil seiner Einkünfte und künstlerischen Herausforderungen aus.

Auch ein Grossteil von Bachs Musik für die gewöhnlichen Sonntagsgottesdienste ist mit der Erfahrung der Todesnähe und der Hoffnung auf ein seliges Sterben und Auferstehen verknüpft. Die 1726 komponierte Kantate «Wer weiß, wie nahe mir mein Ende» (BWV 27) entstand zum 16. Sonntag nach Trinitatis, dessen Lesetext von der Auferweckung des Lazarus durch Jesus handelt. Die Kantate stützt sich auf ein 1686 von der thüringischen Reichsgräfin und Choraldichterin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1637–1706) verfasstes Kirchenlied. Dessen verallgemeinernde Aussagen werden jedoch bereits im Eingangschor durch Ergänzungen eines unbekannten Librettisten auf beklemmende Weise auf das Schicksal jedes einzelnen Menschen bezogen. Die folgenden Rezitative und Arien entwickeln dann aus der Hoffnung auf ein besseres Weiterleben in Gottes Hand die Kraft, dem als vergänglich und eitel empfundenen «Weltgetümmel» Lebewohl zu sagen.

Johannes Brahms hat sein «Deutsches Requiem» zwischen 1861 und 1868 in mehreren Entstehungsphasen und Fassungen komponiert; vollständig wurde es erstmals 1869 im Leipziger Gewandhaus aufgeführt und noch im gleichen Jahr unter der Opuszahl 45 im Verlag Rieter-Biedermann in Winterthur veröffentlicht. Der freigeistige Bibelkenner Brahms greift mit seiner Auswahl von Texten des Alten und Neuen Testaments das Abschiednehmen in einer alle Glaubensbekenntnisse übergreifenden Weise auf. Dass dem Werk – anders als dem altkirchlichen lateinischen Requiem – ein deutscher Wortlaut zugrunde liegt, trägt zur Verständlichkeit der Komposition wesentlich bei. Der Tod von Brahms’ Mutter Anfang 1865 verlieh dem Werk zugleich eine persönliche Färbung. Mit seiner aussergewöhnlichen Tonsprache und Trostkraft ist das «Deutsche Requiem» zu Brahms’ bekanntestem Werk geworden. Zudem ermöglicht es auch Menschen, die keine klassische Religionsbindung mehr haben, eine berührende Auseinandersetzung mit diesen existentiellen Herausforderungen.

II. 

Die kompositorische Kunst und reiche stilistische Palette von Bach und Brahms war nicht allein ihrem angeborenen Genie geschuldet, sondern das Ergebnis ihres lebenslangen Studierens und Ausprobierens. Beide Meister eigneten sich eine umfassende Kenntnis der musikalischen Tradition an, die bei der Kantate BWV 27 so weit geht, dass Bach ihr als Schlusschoral die bereits 1652 von Johann Rosenmüller komponierte Begräbnisarie «Welt ade, ich bin dein müde» anfügte. Der professionelle Musikaliensammler Johannes Brahms wiederum gehörte zu den besten Bachkennern seiner Epoche, da er sich sowohl als Komponist wie als Chorleiter, Pianist, Arrangeur und Berater der ersten Bach-Gesamtausgabe mit dem Œuvre Johann Sebastian Bachs und seiner Söhne Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bach beschäftigte. Zudem hatte Brahms eine Vorliebe für die besondere Klangqualität traditionell gebauter Instrumente wie etwa der Naturhörner.

Dass auch Brahms selbst nachweislich mehrere Bachkantaten zur Aufführung brachte und sie für das Instrumentarium und die Hörerwartungen seiner Zeit bearbeitete, gab uns Anlass für die innovative Zusammenstellung dieses Programms, das auf eine Reihe von Live-Konzerten in fünf Schweizer Städten im November 2024 zurückgeht. Es bringt Bachs Kantate BWV 27 und das «Deutsche Requiem» gemeinsam in der Klangwelt der Brahms-Zeit zur Darstellung und lotet damit das «romantische» Potential der Bach’schen geistlichen Musiksprache aus. In selten zu hörender Weise wird klingend erlebbar, wie Brahms und andere Wiederentdecker Bachs dessen Tonsprache wahrnahmen und was sie daran faszinierte. Dabei stand der Orchesterklang des 19. Jahrhunderts mit einem sehr vibratoarmen Spiel auf Darmsaiten sowie vielen erst ansatzweise modernisierten Blech- und Holzbläsern der Bachzeit noch sehr viel näher, als man lange dachte. Wurden doch viele der heute modernen sinfonischen Aufführungsgwohnheiten erst um 1920 etabliert. Und auch die Choristen und Solosänger der Brahmszeit orientierten sich mehr an der beweglichen Leichtigkeit und natürlichen Vortragsweise der barocken Singpraxis als am vibratobetonten neuzeitlichen Opernideal.

Ein deutsches Requiem» ist nur selten auf historischem Instrumentarium des 19. Jahrhunderts zu erleben und gewinnt damit vor allem im Bläserbereich seinen ursprünglichen Farbreichtum zurück. Und erst in einem solchen Kontext wird auch deutlich, wie sehr Brahms’ Oratorienkunst im formbezogenen und kontrapunktischen Erbe sowie der bibeldeutenden Tradition von Bach, Händel und ihren Nachfolgern wurzelte. Ohne die Kenntnis der Bach’schen Kantaten und Passionen sowie der h-Moll-Messe und ohne das Vorbild der Oratorien und Orchesterpsalmen Mendelssohns sowie natürlich der Beethoven-Sinfonien und der alle Form sprengenden Energieschübe seines Lehrers Schumann wären die weiten Spannungsbögen und ausgedehnten Chorensembles des «Deutschen Requiems» wohl kaum denkbar. Im Gegenzug unterschätzt man leicht die zukunftsweisenden und klangsinnlichen Potentiale Bachs, wenn man seine Musik nur im barocken Klanggewand verortet. Vergleicht man aber wie in dieser Aufnahme den Beginn des «Deutschen Requiems» mit dem Eingangschor der Kantate 27, dann zeigen sich frappierende Gemeinsamkeiten in der Fähigkeit beider Komponisten, ebenso stabile wie geheimnisvolle harmonische Felder mit einprägsamen melodischen Bewegungen sowie einem lebensnah vielschichtigen Emotionsgehalt zu verbinden. Die Gemeinsamkeiten reichen bis zur Behandlung des Chores, der nicht nur als Träger des verständlich deklamierten Textes behandelt wird, sondern auf dramatische Weise musikalische Spannungen und Gegensätze aufbaut und wieder miteinander versöhnt. Ebenso spiegeln sie sich im künstlerischen Ansatz des von Rudolf Lutz geleiteten Ensembles der J. S. Bach-Stiftung, dem es im Umgang mit der Musik beider Meister letztlich um die gleichen elementaren Grundsätze geht. Im Zentrum stehen die Prägnanz in der Darstellung emotionaler Zustände sowie eine gute Durchhörbarkeit, ausgewogene Balance und rhetorisch-deklamatorische Tiefenschärfe. Die Transparenz der unterschiedlichen Klangfarben spielt dabei ebenso eine Rolle wie ein auch die langsameren Abschnitte belebender musikantischer «Groove».

In diesem Geist und gewissermassen auf Augenhöhe musiziert, erscheinen Bach und Brahms nicht nur als kongeniale Fortsetzer und Erneuerer der Tradition, die zudem die Instrumentierungskunst ihrer Epochen auf den Punkt brachten. Auch in ihrem ethischen Anspruch und ihrer unerreichten Fähigkeit, uns alle im Angesicht von Leid und Tod aufzurichten, werden sie zu musikalischen Wahlverwandten par excellence. Nehmen wir das von ihnen und den Ensembles der J. S. Bach-Stiftung in Tönen angebotene Gespräch über die letzten Dinge des Menschseins und die bewegende Wundermacht der Musik an!

Anselm Hartinger (2025)

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