Johann Sebastian Bachs Werk und Wirkungszeit stellen zwar im Nachhinein einen unerreichten Höhepunkt in der Geschichte des Thomanerchores und der Leipziger Stadtkirchenmusik dar.
Aus der Sicht seiner Leipziger Zeitgenossen reihte sich Bach jedoch in eine hochstehende Musiktradition ein, die seit dem späten 16. Jahrhundert immer wieder Spitzenmusiker angezogen hatte und aus der Generationen zukünftiger Organisten, Stadtkantoren und Hofkapellmeistern hervorgegangen waren. Vor allem die Kantorenreihe des 17. Jahrhunderts prägte mit Namen wie Sethus Calvisius, Johann Hermann Schein, Tobias Michael, Sebastian Knüpfer und Johann Schelle das Bild der Kirchenmusik im evangelischen Deutschland nachhaltig. Selbst für den berühmten Heinrich Schütz genoß der Leipziger Thomanerchor trotz aller Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges noch 1648 einen solchen Ruf, dass er ihm sowie dem Leipziger Rat die epochemachenden Motetten seiner „Geistlichen Chor-Musik“ widmete. Daß es dem Leipziger Rat immer wieder gelang, herausragende Kandidaten für das städtische Musikdirektorat zu gewinnen, wird auch durch den Umstand belegt, dass die Werke dieser Vorzeigekantoren in Musikinventaren und musikalischen Bibliotheken der Zeit weite Verbreitung fanden.
Diese besondere Institutstradition war jedoch kein bloßer musikgeschichtlicher Glücksfall, sondern Resultat einer Reihe struktureller Besonderheiten und weitsichtiger Entscheidungen, die dem Chor über alle Reformationen, Notzeiten und Stilwandlungen hinweg lange eine Spitzenstellung erhielten und die jüngst der Bachforscher Michael Maul in einer neuen Chorgeschichte umfassend rekonstruieren konnte.[1] Eine in der Schulordnung von 1634 ausdrücklich festgeschriebene musikalische Eignungsprüfung der im Alumnat wohnenden Chorknaben sorgte dabei für ein hohes Niveau der künstlerischen Arbeit, wobei vor allem die Fähigkeiten der Thomaner im „Treffen“ (=Blattsingen) bis ins 19. Jahrhundert hinein einen legendären Ruf genossen. Dabei ermöglichte es die interne Teilung des Chores in einzelne „Kantoreien“, die Vielzahl der kirchenmusikalischen Dienstaufgaben vom Kurrendesingen bis hin zu den Beerdigungen entsprechend ihrer Begabung auf alle 55 Sängerknaben zu verteilen, wobei die abwechselnde Ausgestaltung der gottesdienstlichen Figuralmusik in den Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai stets den etwa acht besten Vokalisten vorbehalten blieb. Ebenso wichtig war die auf die Leipziger Universität hin ausgerichtete Bildungsperspektive, die fähigen Alumnen über ein Jura- oder Theologiestudium einen Aufstieg bis in städtische und höfische Führungspositionen eröffnete. Vor allem aber motivierte ein ausgeklügeltes finanzielles Anreizsystem, an dem auch die höheren Lehrer der Schule einschließlich des Kantors beteiligt wurden, die talentiertesten Sängerknaben durchgängig zu Höchstleistungen, was dann wiederum die Leipziger Bürgerschaft zu jenen reichlichen Spenden und testamentarischen Vermächtnissen bewog, auf denen der „Haushalt“ von Chor und Schule wesentlich beruhten. Dieses weithin unerreichte Niveau des Komponierens und Musizierens an der Thomasschule geriet erst nach 1700 im Zuge der aufklärerischen Ideale einer primär humanistischen Schulbildung sowie aufgrund neuer Sparvorgaben in eine gewisse Krise, die offenbar für Bachs bekannte Konflikte mit seiner Leipziger Obrigkeit wesentlich verantwortlich war. Paradoxerweise war es also gerade der besonders ambitionierte Komponist Johann Sebastian Bach, der sich wie schon sein Vorgänger Johann Kuhnau mit musikalischen Verhältnissen arrangieren musste, die im schleichenden Verfall begriffen waren. Andererseits verdankte es der Chor später wesentlich der Berufung auf den Namen und vor allem die bekannten Motetten des großen „Sebastian Bach“, dass er noch nach 1800 seine Eigenständigkeit und Leistungsfähigkeit erhalten konnte.
Der wie so viele Thomasalumnen aus einem kleinen Erzgebirgsort (Geising) stammende und nach Lehr und Arbeitsjahren u.a. in Dresden, Wolfenbüttel und Eilenburg seit 1677 als Thomaskantor amtierende Johann Schelle (1648–1701) gehört zu den bedeutendsten evangelischen Kirchenkomponisten des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Mit guten Gründen hat Peter Wollny[1] ihn in einem Atemzug mit Bachs Lehrer und stilistischem Vorbild Dietrich Buxtehude genannt. Schelles Orientierung an deutschsprachigen Evangelienmusiken, Chorälen und Arientexten sowie sein auf Sanglichkeit, Eleganz und formale Kompaktheit ausgerichteter Stil bereicherten die Kirchenmusik seiner Zeit um ein liebliches klangliches Element und sorgten für eine weite Verbreitung seiner Werke. Noch die größtbesetzten Festtagskompositionen behalten dabei stets eine gewisse Durchhörbarkeit und regelrechte Volkstümlichkeit, die viel mit Schelles klangorientierter Instrumentationskunst und seiner Orientierung an eingängigen Melodien und vor allem Choralstrophen zu tun hat. Schelles 1688/89 in Zusammenarbeit mit dem Thomaspfarrer Johann Benedikt Carpzov realisierter Jahrgang an Choralkantaten kann dabei als anspruchsvolles Vorläuferprojekt des Bachschen Choraljahrgangs von 1724/25 gelten. Selbst ein kleines „Weihnachtsoratorium“ hat Schelle in Form seines „Actus musicus auf Weyh-Nachten“ bereits vorgelegt, der wie Bach in seiner Hirtensinfonie ebenfalls das typische pastorale Kolorit einer mehrfachen Rohrblattbesetzung (hier Schalmeien) einbezieht.
Die im Kantatenprogramm „Zwischen den Jahren“ aufgenommenen beiden Choralkonzerte „Christus, der ist mein Leben“ und „Vom Himmel kam der Engel Schar“ beeindrucken durch ihre gleichermaßen sensible wie klangprächtige und nuancenreiche Vertonungsweise. Sie gehören mit ihrem reichen Streicher- und Bläserklang zum Eindrücklichsten, was die wahrlich ehrwürdige Tradition der „Thomaskantoren vor Bach“ hinterlassen hat.
Anselm Hartinger (2013)
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[1] Michael Maul, „Dero berühmbter Chor“. Die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren 1212–1804, Leipzig 2012.
[2] Die Musik und Geschichte und Gegenwart, Bd. 14, S. 1270.