Nimm von uns, Herr, du treuer Gott
BWV 101 // zum 10. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Zink, Posaune I–III, Oboe I + II, Oboe da caccia, Streicher und Basso continuo
Die am 13. August 1724 in Leipzig uraufgeführte Choralkantate «Nimm von uns, Herr, du treuer Gott» gehört zu den ersten im Zuge der romantischen Wiederentdeckung Bachs im Druck veröffentlichten Kirchenkompositionen Bachs. Sie hat mit ihrem Grundaffekt, der abgedunkelten Klangwelt und dem intensiven Choralbezug die Wahrnehmung Bachs als eines tiefgläubigen Mahners nicht unwesentlich geprägt. Aufgrund des in allen Sätzen präsenten, 1584 von Martin Moller aus dem Lateinischen übersetzten Bittliedes «Aufer immensam, Deus, aufer iram» (später auch wiederholt als «Litanei» bezeichnet) ist die mit den Lesungen des 10. Trinitatissonntags verbundene Bussthematik in dieser Kantate sehr präsent (Psalm 5 – «Du bist nicht ein Gott, dem gottlos Wesen gefällt»; Lukas 19 – Jesus weint über Jerusalem und Tempelreinigung). Durch die markanten Orgelpunkte des Basses, den zeremoniellen Duktus einer fugierten Motette sowie die archaische Klangfarbe der mitwirkenden Posaunen und Zinken hat Bach dem ausgedehnten Eingangschor entsprechend lastende Gravität verliehen. Diese wird in den bewegteren Binnensätzen mit ihrem phantasievollen Choraleinbau beständig abgewandelt, jedoch bis zum kompakten Schlusschoral nicht grundsätzlich aufgehoben.
Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...
Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Linda Loosli, Jennifer Ribeiro Rudin, Simone Schwark, Susanne Seitter, Noëmi Tran-Rediger, Mirjam Wernli
Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Katharina Jud, Jan Thomer, Lisa Weiss
Tenor
Marcel Fässler, Tobias Mäthger, Joël Morand, Christian Rathgeber
Bass
Jean-Christophe Groffe, Israel Martins, Simón Millán, Felix Rathgeber, Philippe Rayot
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Cecilie Valter, Christine Baumann, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Judith von der Goltz
Viola
Martina Bischof, Sonoko Asabuki, Sarah Mühlethaler
Violoncello
Maya Amrein, Bettina Messerschmidt
Violone
Markus Bernhard
Oboe/Oboe da caccia
Andreas Helm, Thomas Meraner
Taille
Ingo Müller
Zink
Martin Bolterauer
Posaune
Christine Brand Häusler, Max Eisenhut, Tobias Hildebrandt
Traversflöte
Tomoko Mukoyama
Fagott
Susann Landert
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Rolf Stürner
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
18.11.2022
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
13. August 1724, Leipzig
Textdichter
Martin Moller (Sätze 1, 3, 5, 7); unbekannt (Sätze 2, 4, 6)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Nimm von uns, Herr, du treuer Gott,
die schwere Straf und große Not,
die wir mit Sünden ohne Zahl
verdienet haben allzumal.
Behüt für Krieg und teurer Zeit,
für Seuchen, Feur und großem Leid!
1. Chor
Der Text des Eingangschors entspricht der ersten Strophe des von Martin Moller übersetzten Bussliedes «Aufer immensam, Deus, aufer iram» («Nimm von uns, Gott, den unermesslichen, nimm von uns deinen Zorn»), das Georg Klee, genannt Thimäus, oder Johann Spangenberg zugeschrieben wird. Es war während der Pest der frühen 1540er-Jahre in Wittenberg gedichtet worden. Motettischer Duktus und Allabreve-Notation der von Bläsern verdoppelten Singstimmen verstärken im Einklang mit der gewichtigen Länge des Satzes den altbiblischen Bussgehalt des Liedes; Oboen und Streicher bringen mit ihren Seufzerfiguren ein modernes affektbezogenes Element ein, das sich auch in der den kernigen Zinkenklang abmildernden Farbe der Querflöte widerspiegelt.
2. Arie — Tenor
Handle nicht nach deinen Rechten
mit uns bösen Sündenknechten,
laß das Schwert der Feinde ruhn!
Höchster, höre unser Flehen,
daß wir nicht durch sündlich Tun
wie Jerusalem vergehen!
2. Arie
Die Tenorarie paraphrasiert die 2. Strophe des Moller-Textes und nimmt Bezug auf das Sonntagsevangelium in Lukas 19, wo Jesus über die bevorstehende Zerstörung Jerusalems weint und denzur«Räuberhöhle»gewordenenTempelreinigt. Die latente Haltlosigkeit des auf sich allein zurückgeworfenen Menschen wird durch die durchsichtige Anlage des nur von Pizzikato-Tönen begleiteten Oberstimmen-Duettes angedeutet; ob Bach mit der Neuzuweisung der instrumentalen Begleitstimme von der ursprünglich vorgesehenen Querflöte an die Violine den Affektcharakter des Satzes schärfen wollte oder auf ein Besetzungsproblem reagierte, können wir nur vermuten.
3. Choral und Rezitativ — Sopran
Ach! Herr Gott, durch die Treue dein
wird unser Land in Fried und Ruhe sein.
Wenn uns ein Unglückswetter droht,
so rufen wir,
barmherzger Gott, zu dir
in solcher Not:
Mit Trost und Rettung uns erschein!
Du kannst dem feindlichen Zerstören
durch deine Macht und Hülfe wehren.
Beweis an uns deine große Gnad,
und straf uns nicht auf frischer Tat,
wenn unsre Füsse wanken wollten,
und wir aus Schwachheit straucheln sollten.
Wohn uns mit deiner Güte bei
und gib, daß wir
nur nach dem Guten streben,
damit allhier
und auch in jenem Leben
dein Zorn und Grimm fern von uns sei!
3. Choral und Rezitativ
Die Sopranstimme interpretiert die (fettgesetzten) Zeilen der 3. Strophe des Bussliedes jeweils mit verdeutlichenden Rezitativeinschüben (Tropierung). Zum litaneiartigen Gestus des Satzes passt der von elegischen Continuoschwüngen begleitete verzierte Choralvortrag, der die subjektiven Interpolationen wirkungsvoll rahmt.
4. Arie — Bass
Warum willst du so zornig sein?
Es schlagen deines Eifers Flammen
schon über unserm Haupt zusammen.
Ach, stelle doch die Strafen ein
und trag aus väterlicher Huld
mit unserm schwachen Fleisch Geduld!
4. Arie
Die von drei beweglichen Oboenstimmen begleitete Bassarie beginnt mit einem wörtlichen Zitat der 1. Zeile aus der 4. Strophe Mollers und akzentuiert das Thema des Gotteszorns in freier Nachdichtung des Liedinhalts, Gott wird an seine väterliche Huld erinnert und um Nachsicht gebeten. Die markanten Tempounterschiede stehen für einen inwendigen Konfliktaustrag, der zwischen demütiger Bitte und vergeblichem Aufbegehren alle Facetten des Umgangs mit (hier als selbstverschuldet erlebtem) Leid beleuchtet.
5. Choral und Rezitativ — Tenor
Die Sünd hat uns verderbet sehr.
So müssen auch die Frömmsten sagen
und mit betränten Augen klagen:
Der Teufel plagt uns noch viel mehr.
Ja, dieser böse Geist,
der schon von Anbeginn ein Mörder heißt,
sucht uns um unser Heil zu bringen
und als ein Löwe zu verschlingen.
Die Welt, auch unser Fleisch und Blut
uns allezeit verführen tut.
Wir treffen hier auf dieser schmalen Bahn
sehr viele Hindernis im Guten an.
Solch Elend kennst du, Herr, allein:
Hilf, Helfer, hilf uns Schwachen,
du kannst uns stärker machen!
Ach, laß uns dir befohlen sein!
5. Choral und Rezitativ
Auch das Tenorrezitativ tropiert und interpretiert die 5. Strophe des Chorals mit selbstgedichteten Einschüben, mit Anspielungen auf Bibelzitate (1. Petr., 5, 8) und einer gebetshaften Anrufung Gottes. Erneut von «atempo» auszuführenden Arioso-Choralzeilen umrahmt, illustrieren die absteigenden Ostinato-Motive des Basses das Versinken im Abgrund von Sünde und Schuld.
6. Arie — Duett: Sopran und Alt
Gedenk an Jesu bittern Tod!
Nimm, Vater, deines Sohnes Schmerzen
und seiner Wunden Pein zu Herzen!
Die sind ja für die ganze Welt
die Zahlung und das Lösegeld;
erzeig auch mir zu aller Zeit,
barmherzger Gott, Barmherzigkeit!
Ich seufze stets in meiner Not,
ich seufze stets:
Gedenk an Jesu bittern Tod!
6. Arie
Das hinreissende Sopran/Alt-Duett schliesst sich eng an die 6. Liedstrophe Mollers an, in der Gott an Jesu Tod als befreiendes Leidensgeschehen erinnert wird, verbunden mit der Bitte, diese «Zahlung» des «Lösegeldes» auch für die Bittenden gültig zu machen. Mit Traversflöte und Oboe da caccia apart instrumentiert, exponiert die Arie über schwingenden Siciliano-Bässen zwei hohe Oberstimmenpaare, die gespanntes Bitten und noble Seelengrösse verkörpern.
7. Choral
Leit uns mit deiner rechten Hand
und segne unser Stadt und Land;
gib uns allzeit dein heilges Wort,
behüt fürs Teufels List und Mord;
verleih ein selges Stündelein,
auf daß wir ewig bei dir sein!
7. Choral
Der Schlusschoral ist wiederum eine wörtliche Wiedergabe der letzten Strophe des alten Bussliedes, das mit der Bitte um Segen, um Bewahrung und schliesslich auch um einen guten Tod endet, «auf daß wir ewig bei dir sein».
Professor Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner
Es ist nicht ganz einfach, zum Text der Musik J. S. Bachs etwas Ausgewogenes zu sagen, wenn man gerade unter dem Eindruck der musikalischen Darbietung von Bachs genialem Werk steht, das in der Serie gut überlieferter Kantaten zu den besonders geschätzten Kompositionen gerechnet werden darf. Denn der Text bewegt sich in Bildern einer Busstheologie, die für uns heute einer Erläuterung bedarf, die bereits gegeben ist, und er harmoniert auf den ersten Blick mit unserem Weltbild nur noch sehr eingeschränkt, wie auch sein barockes Pathos uns manchmal in lächelnde Distanz zwingt. Das heisst nicht, dass man z.B. mit Albert Schweitzer in seinem berühmten Werk über J. S. Bach von einer Niederträchtigkeit vor allem der rezitativischen Textteile sprechen sollte, die aber Bach – so Schweitzer bewundernd – nicht davon abhält, den Text mit Hingebung und in genialer Weise musikalisch in sein Kunstwerk zu integrieren. Man sollte auch nicht mit Thomas Mann die lange Tradition der Busstexte mit ihrer bildhaften sprachlichen Emotionalität verspotten, wie dies in den «Buddenbrooks» geschieht, wo Thomas Mann ‒ übrigens teilweise durchaus plagiatorisch ‒ die pietistische Andachtsgemeinde im Hause Buddenbrook singen lässt: «Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr, wirf mir den Gnadenknochen vor, und nimm mich Sündenlümmel in deinen Gnadenhimmel». Man könnte die rezitativischen Textteile letztlich auch mit der Bemerkung beiseiteschieben, dass sie in Qualität und Wirkungsgeschichte eine eindrucksvolle Gemeinsamkeit mit anderen Texten grosser Kompositionen in kirchlicher und weltlicher Musik aufwiesen, die nicht selten literarischen Spott auf sich gezogen haben, ohne dass dies dem Ansehen des musikalischen Kunstwerkes letztendlich geschadet hätte. Die nachfolgenden Überlegungen wollen aufzeigen, dass ein selbstsicheres Beseitelegen von Teilen der textlichen Basis Bach‘scher Musikkunst nicht gerecht wird und dass uns gerade das Gesamtkunstwerk eine bemerkenswerte Ohnmacht auch der Gegenwart gegenüber zerstörenden Kräften menschlicher Natur intensiv bewusst werden lässt. Dabei gibt es sicher Textelemente des Busstextes, die eine für jeden Musiker und Zuhörer verständliche und zustimmungswürdige Botschaft enthalten, während andere eine bejahende Vertrautheit mit Lehren oder Dogmen christlicher Tradition voraussetzen und deshalb oft schwer oder gar nicht mit dem individuellen Weltbild der Musiker und Zuhörer harmonieren, so dass eine darstellerische Identifikation insbesondere der Sänger und Musiker eher ein Zugeständnis zur Ausfüllung einer bestimmten Rolle sein mag, deren Erkenntniswert für Darsteller und Zuhörer man allerdings auch nicht unterschätzen sollte.
Zunächst sollen einige Überlegungen dem gegenwärtigen mitunter schwierigen Umgang mit dem allgemeinen Weltbild des Busstextes gewidmet sein. Das Weltbild der Reformationszeit mit seinem vom permanenten Sündenfall geprägten Bild eines Menschen, der nach Erlösung von kreatürlichen Teilen seines Selbst strebt und ruft, wendet sich mit seinem Sehnen an einen weltenlenkenden Gott, der im Text als klassische Vaterfigur begegnet, streng, ansprechbar und zugewandt zugleich. Unserer naturwissenschaftlich geprägten Gegenwart liegt allerdings die Vorstellung etwas ferne, eine den Kosmos beherrschende Person könne planerisch gestaltend in das Zufallsgeschehen einer in Bewegung gesetzten Materie eingreifen oder sie habe bestimmte Eingriffe bis ins Detail vorausprogrammiert. Das dominierende gegenwärtige überwiegend von Naturwissenschaften geprägte Weltbild analysiert Leben und menschliches Leben als Zufallsprodukt chemischer Reaktion unbelebter Materie, das mit dem Tode wieder zu unbelebter Materie wird und sich dann irgendwann als eine Summe unerheblicher Kleinteile in schwarzer Materie zu bisher nicht fassbarem Neuem energetisch umsetzen mag. Bestimmte neuzeitliche Bestattungsformen scheinen diese Vorstellung etwas aufzunehmen. Das Bild Gottes als eine den Kosmos regierende Person läuft bei solchem einer immer breiteren Allgemeinheit vermittelten Weltbild stärker als in früheren Zeiten Gefahr, unverstanden ins Abseits zu geraten und vielen als Gegenüber verzichtbar zu erscheinen.
Allerdings ist der Widerspruch zwischen überall und allzeit lenkender göttlicher Präsenz und einer personalen und in gewisser Weise vermenschlichten Gottesvorstellung den biblischen Texten von ihren Anfängen an bewusst und geläufig und so besehen ist dieser fundamentale Widerspruch keine besonders neue Erkenntnis unserer modernen Welt. Aus der unbelebten Materie hat sich allerdings ein Mensch entwickelt, der nach der Empathie anderer verlangt und dabei im Verlaufe seiner Geschichte mit vergänglicher zwischenmenschlicher Zuwendung nicht zufrieden scheint, sondern ein ihn verstehendes und leitendes bleibendes Gegenüber sucht, das seinem Leben über den Tod hinaus Sinn zu geben vermag. Die Berufung des Busstextes auf den Opfertod des auferstandenen Jesus als Besiegelung der Hinwendung Gottes zum Menschen trotz seiner Sündigkeit verbunden mit einer intensiven Enderwartung einer postmortalen Existenz mit und bei Gott ist Kernstück traditioneller christlicher Glaubensüberzeugung und kirchlicher Dogmatik, das der Mensch der Gegenwart jedoch in seiner grossen Mehrheit als realistische Erwartung im Sinne einer Vereinbarkeit mit ihm bekannten kosmischen Gesetzmässigkeiten immer weniger nachzuvollziehen und mitzutragen vermag. Als Bestandteil einer religionsgeschichtlichen Hinwendung weg von überkommener alttestamentlicher Gesetz- und Regelhaftigkeit zu einer Ethik der Nächstenliebe wird sie der moderne Mensch zwar als Wirklichkeit oft nicht mehr akzeptieren, aber bei ausreichender religiöser Bildung auch nicht anfeinden. Man mag zu Einzelheiten kirchlicher und theologisch dogmatisierter Religiosität sehr verschieden stehen, die Suche nach Sinn und Zuwendung ist menschlicher Natur vorgegeben und bestimmt in vielfacher Weise ihr Fühlen und Handeln. In der biblischen Bilderwelt begegnet sie uns als Gottessuche und ist über unseren Kulturkreis hinaus in der Geschichte der Menschheit ein grundlegender Topos, dem sich Philosophie, Dichtung und Literatur weltweit gewidmet haben und noch widmen, in deutscher Sprache etwa ganz umfassend Goethe in seinem Weltentheater «Faust» oder alttestamentlich orientiert Thomas Mann in seiner «Joseph»-Tetralogie – beides allerdings Werke, die auch bei höheren Bildungsstufen Streichungen zum Opfer zu fallen drohen.
Es gibt in dem Busstext der Kantate indessen auch Teile, die uns eine rationale und emotionale Identifikation leichterfallen lassen. Gerade die unmittelbare Gegenwart konfrontiert die Menschheit weltweit mit Spannungen, die sich wieder in längst aus dem Zusammenleben der verschiedenen gesellschaftlichen Kulturen verbannt geglaubten kriegerischen Aktionen zu entladen drohen. Auch nicht oder nur schwer beherrschbare Pandemien und von der Menschheit zumindest wesentlich mitbeeinflusste klimatische Veränderungen mit daraus resultierenden Szenarien eines schleichenden, aber sicheren Untergangs unserer Erdenwelt beginnen das Lebensgefühl grosser Teile der Menschheit empfindlich zu prägen und zu stören ‒ alles in allem eine der nachreformatorischen Zeit in Deutschland und Mitteleuropa etwas ähnelnde Situation. Die westliche Zivilisation Europas und vor allem Nordamerikas reagiert auf kriegerische Einbrüche einer aufklärerisch überwunden geglaubten Welt mit den harten Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor und mit Waffenhilfe gegen den kriegerischen Angreifer. Diese antwortende Reaktion, die viele junge Soldaten und viele ukrainische Zivilisten nicht vor Tod oder Ermordung bewahren konnte und deren Auswirkungen in endgültiger Konsequenz bisher offen sind, ordnet unser Kantatentext als menschliche Verstrickung in sündiges Tun ein, dem der Mensch unentrinnbar verfallen scheint, weil er sich an anderen Menschen versündigt, gleich ob er hilft oder gewähren lässt. In der Sprache des Kriegsrechts redet man von Collateral Damages als Folge der Wahl des kleineren Übels. Das wären dann die vielen jungen Menschen, die man gegen ihre Überzeugung rekrutierte und denen man das Opfer ihres Lebens zwangsweise abverlangte. Vor allem vor dem Hintergrund der russisch-deutschen Geschichte mit Tod und Ermordung von geschätzten 25‒30 Millionen der Sowjetunion zuzurechnenden Menschen im 2. Weltkrieg mag die Entscheidung Deutschlands zur Verflechtung mit kriegerischem Elend auf vormals sowjetischem Boden immerhin des Überdenkens wert gewesen sein, und Menschen der älteren Generation mögen es zum Teil bedauert haben, dass dieser Zusammenhang allenfalls nur kurz öffentlich dargelegt und nicht gründlicher mitbedacht wurde. Vielleicht hätten dann die nachfolgenden Generationen im Parlament zumindest die Standing Ovations zum Beschluss über das aktive mittelbare Eingreifen im Parlament vermieden und einer nüchternen Erkenntnis stärker Raum gegeben, dass man sich zu einer Beteiligung am Vergiessen von Blut auch vieler unschuldiger oder verführter Menschen gezwungen sah. Das Telegramm über meine Geburt erreichte meinen Vater, der noch in gesetzterem Alter als Soldat kurz ausgebildet und eingezogen wurde, im Jahre 1943 in Stalino, dem heutigen umkämpften Donezk. Nie hätte ich beim wiederholten Anschauen dieses mich ein Leben lang begleitenden Dokuments gedacht, dass Deutschland sich jemals wieder an militärischen Aktionen auf dem Boden der früheren Sowjetunion durch gezielte Waffenlieferungen und Drohungen auch nur mittelbar beteiligen würde.
Bemerkenswert für unsere Gegenwart ist der Verzicht des Busstextes der Kantate auf eine Bitte um göttliche Hilfe bei der Besiegung des Feindes zugunsten einer ausgewogeneren Bitte um Stärkung bei verteidigendem Standhalten und um Frieden, also um keinen sogenannten «Siegfrieden», wie er als Begriff von der deutschen Generalität des 1. Weltkriegs geprägt worden ist. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, haben doch über Jahrhunderte und noch im 1. und 2. Weltkrieg Christen auf beiden Seiten weltweit um Sieg über den Feind gebetet. Eine bleibende Stärke des Christentums ist die überlieferte Distanz Jesu als des Religionsstifters zu kriegerischer Gewalt, die zum Beispiel Mohammed als Stifter der islamischen Religion so nicht uneingeschränkt praktizierte. Leichter macht uns der Text mit seinen Bitten zur Umkehr aus sündiger Verflechtung die Einordnung der Teilhabe unserer Zivilisation an der Verursachung von klimatischen Veränderungen, wie sie hauptsächlich die Industrienationen trotz einer gewissen nutzniessenden Rolle des anderen Teils der Erdbevölkerung betrifft und in die hauptsächliche Mitverantwortung zwingt. Eine in unsere Zeit transformierte Bitte um Verschonung vor den Folgen der Versündigung an der Schöpfung verbunden mit dem Ausdruck des Bedauerns und der Reue wird auch die Bitte um Verschonung und Behütung der Nachwelt umfassen und um Gelingen von einverständlich und mit Nachdrücklichkeit geplanten Gegenmassnahmen der Menschheit.
Wer die Kantate Bachs mitmusiziert oder sie hört, kann dies als voll gläubiger Christ, als Zweifelnder oder Atheist mit ungebrochenem Einfühlungsvermögen in Zeiten überdauernde Inhalte des Textes und seine kompositorische Überhöhung tun, wenn er die geäusserten Wünsche in die Gegenwart transponiert und die personale Gegenwart Gottes als biblisches Bild mitträgt oder doch toleriert. So kann man sich dem Werk Bachs musikalisch und textlich hingeben und ohne Gefühle des Zweifels musizieren und sich hörend mittragen lassen, mag man auch gleichzeitig das barocke Pathos mit tolerantem innerem Lächeln zur Kenntnis nehmen. Lassen Sie uns deshalb – so mein Schluss – die Kantate mit rationaler Bedachtsamkeit und wohlüberlegter emotionaler Identifikation nochmals gemeinsam musizieren und hören.