Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht

BWV 105 // zum 9. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Corno da tirarsi, Streicher und Basso continuo

«Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht» – die Kantate zum 9. Sonntag nach Trinitatis ist auf allen Ebenen von der Angst vor der göttlichen Strafe und der Mühsal einer zerknirschten Gewissensbefragung durchzogen. Ihr von schmerzlichen Reibungen und seufzerbeladenen Fortschreitungen geprägter Eingangschor geht in eine von der Verworfenheit allen menschlichen Strebens vorangepeitschte Chorfuge über, bevor eine Sopranarie ohne haltgebende Continuostütze die heillose Selbstzerstörung des Sünders nachzeichnet. Da auch der von Bach in einer flirrenden Violinpartie eingefangene flüchtige Mammon von der Schuld nicht loskaufen kann, bleibt der geängsteten Seele nur das Vertrauen auf Jesu Opfertod, wie es der Schlusschoral in seiner von Doppelzeile zu Doppelzeile wunderbar beruhigten Streicherbegleitung ausdrückt.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 105

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Sibylla Rubens

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Bernhard Berchtold

Bass
Tobias Wicky

Chor

Sopran
Olivia Fündeling, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Jennifer Ribeiro Rudin, Simone Schwark, Susanne Seitter

Alt
Jan Börner, Antonia Frey, Lea Pfister-Scherer, Damaris Rickhaus, Sarah Widmer

Tenor
Zacharie Fogal, Tobias Mäthger, Christian Rathgeber, Nicolas Savoy

Bass
Grégoire May, Retus Pfister, Philippe Rayot, Tobias Wicky, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violinen
Eva Borhi, Peter Barczi, Christine Baumann, Markéta Knittlová, Dorothee Mühleisen, Ildiko Sajgo

Viola
Martina Bischof, Sonoko Asabuki, Katya Polin

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Corno da tirarsi
Olivier Picon

Oboen
Katharina Arfken, Philipp Wagner

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Christian M. Rutishauser

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
22.03.2019

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erstmalige Aufführung
25. Juli 1723, Leipzig

Textdichter
Psalm 143, 2 (Mvt. 1); Johann Rist (Mvt. 6); Anonymus (Mvts. 2–5) [W. Murray Young vermutet Christian Weiss, Sr.]

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die zum 9. Sonntag nach Trinitatis 1723 kom­ponierte Kantate «Herr, gehe nicht ins Gericht» bestimmte dank ihres frühen Erstdrucks 1830/31 die Wahrnehmung Bachs im roman­tischen Zeitalter wesentlich mit – und zwar trotz ihrer technischen Schwierigkeit und ih­res in manchen Facetten ungewöhnlichen Erscheinungsbildes.

Der Eingangschor ist als zweiteilige Form angelegt, die auf ein in drei Anläufen ausgear­beitetes Adagiopräludium eine geschwinde Fuge von strengster Regelhaftigkeit folgen lässt. Eröffnet wird der Satz in einer dichten g-­Moll­ Klangwelt, die lastende Achtelwiederholun­gen im Continuo und synkopisch ineinander­ greifende Vorhaltsklänge der Streicher und Oboen versammelt, aus denen sich gramvolle Seufzerketten herausschälen. In dieses Bild der Trauer und Ausweglosigkeit treten im un­begleiteten ersten Chorabschnitt die Singstim­men mit ihrer Bitte um Verschonung hinzu, die durch das angstvolle Winseln und die hilf­lose Vereinzelung der Einsätze bedrängende Dringlichkeit erhält. Dieser Ablauf wiederholt sich in den stimmvertauschten folgenden Text­ durchläufen, wobei Kunstgriffe wie das hin­zugefügte obligate Instrumentalmaterial so­ wie die Verkürzung des letzten Zwischenspiels die Intensität verstärken. Über einem schauri­gen Orgelpunkt scheint dann im leeren Krei­sen statischer Motivwiederholungen völliger Stillstand erreicht, ehe eine nach und nach aufregistrierte Fuge ihren Lauf nimmt, in de­ren mechanisch vorangetriebenem und lose an die Orgelfuge g-­Moll BWV 542 erinnern­ dem Vollzug sich die verheerende Botschaft «Vor dir wird kein Lebendiger gerecht» mit peinigender Unerbittlichkeit abbildet. Kaum je wurde Luthers These von der absoluten Gnadenunfähigkeit des Menschen aus eigener Kraft heraus musikalisch erschütternder um­gesetzt.

Das Altrezitativ verwandelt diesen nieder­ schmetternden Befund in ein subjektives Buss­anliegen. Angesichts der drohenden Präsenz Gottes als Zeuge und Richter eines vorbestimm­ten Verfahrens hilft nur das ungeschminkte Eingeständnis der eigenen Verfehlung – was gut zu einer befleckten Klanglichkeit vollerverminderter Sprünge passt. Anschliessend wählt Bach ein extremes Mittel, um die Folgen eines dergestalt bodenlosen Sündenstandes zu demonstrieren: Unter Verzicht auf die für barocke Musik konstitutive Generalbassstütze errichtet er in der Sopranarie ein fragiles Gebilde aus hochliegenden Bratschentönen und lang­samen Sechzehntelbebungen der Violinen, über denen weit ausgespannte Motivketten der Oboe und Singstimme in einen fahrig abreissenden Dialog treten. In diesem tönenden Abbild in­nerer Zerrissenheit verbinden sich Zartheit und Klage auf wahrhaft erbarmungswürdige Weise.

Nun folgt der Umschlag, und er könnte im weichen B-­Dur anrührender nicht sein. Be­gleitet von Pizzikatobässen sowie einer zu­traulich kreisenden Streicherfigur öffnet das sonore Bassaccompagnato eine unerwartete Tür in das Reich des Trostes. Es ist kein anderer als Jesus, der uns dort begegnet und der durch seinen Opfertod als Bürge ins Gericht tritt und damit das eigene Schuldenbuch am Kreuz an­ heftet und ablöst. Das unvermeidliche Sterben wird dabei keineswegs ausgespart, sondern von Bach als durchaus schmerzlicher Abstieg in Sand und Staub dargestellt, der jedoch ei­nem Eingang in die ewigen Hütten des Para­dieses entspricht.

Eine doppelte Absicht scheint die Tenorarie zu verfolgen. So wird in kraftvollem Tanzges­tus und unterstützt von einer kernigen Horn­partie die Entschlossenheit bekräftigt, an der Hand Jesu sicher durchs Leben zu schreiten; die in Zweiunddreissigstelnoten flirrende Vi­olinpartie beschreibt jedoch zugleich das Zir­kulieren jenes Mammons, von dem sich der Sänger über alles trugschlüssige Zögern hin­ aus so entschlossen abwenden will. Zu diesem hintersinnigen Wettstreit zwischen korrum­pierter Welt und hart errungener Distanzie­rung trägt die ausgeprägte Schwierigkeit der Violin­ und Hornstimmen ihren Teil bei. 

Und nochmals verlässt Bach alle Konven­tion – stattet er doch den Schlusschoral so mit Begleitstimmen und Zwischenspielen aus, dass die zunehmende Beruhigung des Textaffektes von der Gewissensplage bis zum vertrauen­ den Ausblick auf das ewige Leben als vierfa­cher Wechsel von Sechzehnteltremoli über Dreiachtelketten und Zweierbindungen bis hin zu wiegenden Triolen ausgestaltet und so­ mit einschliesslich des fragenden Nachhalls hörend erfahrbar wird. Dass ihr neuer Tho­maskantor gewillt war, auch in seiner Choral­behandlung jedes Detail mit grösstmöglicher Kunst auszudeuten, dürfte den Leipziger Got­tesdienstbesuchern an diesem 25. Juli 1723 deutlich geworden sein. 

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Die lutherische Kultur der Gewissenserforschung und angstvollen Introspektion findet in der Kantate BWV 105 einen für heutige Ohren extremen Ausdruck. Für den 25. Juli des Jahres 1723 (9. Sonntag nach Trinitatis) komponiert, prägt das titelgebende Psalmwort 143,2 «Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht. Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht» nicht nur den Auftakt, sondern die Stimmung des ganzen ersten Teils: nämlich das Bewusstsein der eigenen Verworfenheit und ein Bekenntnis zu den Fehlern der eigenen «Seelen». Damit interpretiert der unbekannte Librettist den Evangelientext Lukas 16, 1–9 (Gleichnis vom Schuldknecht) und die Epistel 1. Korinter 10, 6–13 (Warnungen vor Götzendienst) auf eine drastische, aber auch ergreifende Weise – eine Seele, die Auswege sucht und dann auch findet angesichts ihrer Angst. Das Libretto der Kantate speist sich mit Stichworten wie «Richter», «Zeuge», «Verbrechen», «Bürge», «Folter» und «Gewissen» aus der in der frühen Neuzeit auch körperlich bedrängenden Gerichtsrealität und stellt so eine einprägsame Vorlage zusammen, die dem Komponisten Gelegenheit gab, die entsprechenden Affekte zugleich subtil wie drastisch auszuführen. Bereits 1831 durch Mendelssohns Jugendfreund Adolph Bernhard Marx ediert, gehörte BWV 105 zu den frühesten im Druck vorliegenden Bachkantaten überhaupt. Auch dank ihrer – auf Eingangschor und Schlusschoral verkürzten – Wiederaufführungen unter Thomaskantor Hauptmann (ab 1843) bestimmte sie das klingende Bachbild der Romantik nicht unwesentlich mit.

1. Chor

«Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht.
Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht.»

1. Chor

Die Kantate setzt ein mit einem Psalmenwort, das eine Bitte und eine Angst zur Sprache bringt: «Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht. Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht.» (Psalm 143, 2). Bach wählt für das zweiteilige Dictum die der Tastenmusik entlehnte Doppelform «Präludium und Fuge»: Der von schmerzlichen Reibungen, seufzerbeladenen Fortschreitungen und verzweifelten Rufen geprägte dreiteilige Eingang geht in eine von der Verworfenheit allen menschlichen Strebens vorangepeitschte Chorfuge über.

2. Rezitativ — Alt

Mein Gott, verwirf mich nicht,
indem ich mich in Demut vor dir beuge,
von deinem Angesicht.
Ich weiß, wie groß dein Zorn
und mein Verbrechen ist,
daß du zugleich ein schneller Zeuge
und ein gerechter Richter bist.
Ich lege dir ein frei Bekenntnis dar,
und stürze mich nicht in Gefahr,
die Fehler meiner Seelen
zu leugnen, zu verhehlen!

2. Rezitativ – Alt

Das Rezitativ betont mit einem andern Psalmenwort (Psalm 51, 13) dasselbe Bewusstsein der eigenen Verworfenheit. Doch soll ein freies Bekenntnis davor bewahren, Fehler der eigenen Seele zu verleugnen und sich damit in Gefahr zu bringen. Denn gross, sagt der unbekannte Librettist, sei der Zorn Gottes, des «schnellen Zeugen» (Maleachi 3, 5) und gerechten Richters.

3. Arie — Sopran

Wie zittern und wanken
der Sünder Gedanken,
indem sie sich untereinander verklagen,
und wiederum sich zu entschuldigen wagen.
So wird ein geängstigt Gewissen
durch eigene Folter zerrißen.

3. Arie – Sopran

Die Sopranarie gibt dieser verängstigten Seele des Sünders, welche durch ihr Gewissen in sich widerstreitende und anklagende Stimmen hört (Römerbrief 2, 15), grossartigen Ausdruck. Über einem bebenden Klangteppich der Violinen ergehen sich Sopran und Oboe in beständig abreissenden und ebenso sehnsüchtigen wie orientierungslosen Motiven. Die unter Verzicht auf den Basso continuo allein der Viola übertragene Stütze lässt den Verlust der haltgebenden Perspektive deutlich werden; gerade das Fehlen äusserlich drohender Gerichtsklänge macht Angst und Bedrängnis als primär inneres Geschehen («eigene Folter») kenntlich.

4. Rezitativ — Bass

Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß,
der alle Schuld ersetzet,
so wird die Handschrift ausgetan,
wenn Jesus sie mit Blute netzet.
Er heftet sie ans Kreuze selber an,
er wird von deinen Gütern, Leib und Leben,
wenn deine Sterbestunde schlägt,
dem Vater selbst die Rechnung übergeben.
So mag man deinen Leib, den man zu Grabe trägt,
mit Sand und Staub beschütten,
dein Heiland öffnet dir die ewgen Hütten.

4. Rezitativ – Bass

Die Wendung kommt mit dem Bassrezitativ, die jene seligpreist, welche Christus als ihren Retter in dieser Gerichtsszene erkennen: Weil er einsteht und als Bürge die Schuld übernimmt. Durch ihn wird – wie der Kolosserbrief 2, 13–14 die Metaphorik entfaltet – die «Handschrift ausgetan» (der durch Gesetzesforderung entstandene Schuldbrief getilgt), weil diese durch Christi Blut «genetzet» und ans Kreuz geheftet ist, gleichsam «ausgekreuzt» wurde. Damit ist die Rechnung für den Sünder in der Todesstunde beglichen, und dies zu seinem ewigen Heil: Mag man seinen Leib nach dem Tod mit Erde «beschütten», so harren seiner ewige «Hütten». Nach dem fragilen Oszillieren der Sopranarie wirkt der verbindliche Duktus der gemessen aussingenden Bassstimme besonders heilsam. Über Pizzicato-Basstönen transformieren die Streicher ein seufzerartiges Kurzmotiv in eine erquickende Atemgeste, bevor die aufgebrochene Schlusswendung den Weg durch Grab und Tod zum Himmelreich nachzeichnet.

5. Arie — Tenor

Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen,
so gilt der Mammon nichts bei mir.
Ich finde kein Vergnügen hier
bei dieser eitlen Welt und irdischen Sachen.

5. Arie – Tenor

Es ist diese neue Perspektive, diese Freundschaft mit Jesus (Johannes 15, 15!), die das Verhältnis des Menschen zur Welt verändert, er wird nun weder Geld (Mammon) noch Vergnügen suchen in der eitlen Welt. Nicht ohne Mühe behauptet sich der Tenor gegen eine hochvirtuose Violine, in deren flirrenden Girlanden man die Zirkulation des flüchtigen Mammons sehen kann. Der markante Tanzgestus steht dabei ebenso für die elegante Sündenwelt wie für die Entschlossenheit, diese hinter sich zu lassen.

6. Choral

Nun, ich weiß, du wirst mir stillen
mein Gewissen, das mich plagt.
Es wird deine Treu erfüllen,
was du selber hast gesagt:
daß auf dieser weiten Erden
keiner soll verloren werden,
sondern ewig leben soll,
wenn er nur ist Glaubens voll.

6. Choral

Die elfte Strophe des Liedes von Johann Rist «Jesu, der du meine Seele» beschliesst diese Kantate: Das sich hart anklagende eigene Gewissen ist beruhigt. So endet diese Kantate mit der Gewissheit, dass Gottes Treue gilt, dass er niemanden verlorengeben wird, der ihm vertraut und glaubt. Wie Bach die furchtsam zitternde Streicherbegleitung von Doppelzeile zu Doppelzeile immer mehr in ein elysisches Schweben verwandelt, erweist seine textdeutende Meisterschaft. Was wir hier hörend erleben, ist weder strafende Gerechtigkeit noch der unter Mose‘ Gesetz unerreichbare Freispruch – sondern gut lutherisch der im vertrauenden Glauben unmittelbar wirksame Akt der Gnade.

Reflexion

Christian M. Rutishauser

Sehr geehrte Damen und Herren

Es ist eine Freude, diese Kantate gemeinsam anzuhören. Welch Reichtum an Tonfarben, Stimmen und Rhythmen! Rezitative und Arien drängen vorwärts. Diesem musikalischen Duktus entspricht eine stringente Abfolge von Gedanken. In mir hat sich eine Bühne aufgetan. Da steht der Beter vor Gott dem Richter. Der Beter befindet sich wie in seiner Todesstunde. Er weiss: Vor Gottes Gerechtigkeit kann er nicht bestehen. Gott durchschaut ihn. Es ist unangenehm, auf Schuld hingewiesen zu werden. Der Beter weiss aber auch von Anfang an: Gott ist gerecht. Da ist keine Willkür. Die erste Arie lässt dann ins Gewissen des Beters blicken. Zwei Möglichkeiten eröffnen sich ihm: Auf der einen Seite die Möglichkeit der Welt, Allianzen zu schliessen, zu lobbyieren, sich mit Geld vor dem Richter freizukaufen. Auf der anderen Seite das Angebot, sich Jesus zum Freund zu machen, eine Freundschaft einzugehen, die den Schuldbrief bezahlt. Die Möglichkeit der Welt wird als Versuchung gekennzeichnet. Der Schlusschoral verrät: Der Beter nimmt Jesu Freundschaft an.

Die meisten von uns werden diese Kantate schätzen. Ihre Ästhetik spendet Trost. Wir können Erbauung in ihr finden. Doch können wir sie heute noch existentiell erleben, wie die Menschen zu Bachs Zeiten? Setzen wir uns der Gegenwart Gottes überhaupt noch aus? Nehmen wir uns noch Zeit für ein memento mori? Und wenn wir es tun, erscheint wohl für die wenigsten von uns ein Richtergott. Gewissensbisse und Erschaudern vor einem Gott, der uns durchschaut, sind heute keine Erfahrungsrealität mehr. Auch wenn Gott nicht gerade tot ist, seine Richterautorität hat er für viele verloren, selbst für Kirchgänger und Bibelgläubige. Die Predigten verkünden heute ja den sogenannt «lieben Gott». Einerseits bin ich froh, dass Gottes Strafgericht nicht mehr Mittel bürgerlicher Erziehung ist. Andrerseits macht es nachdenklich, dass der Gerichtsgedanke immer mehr verschwindet. Er will doch besagen, dass das Leben unter der Perspektive von Ethik und Gerechtigkeit zu sehen ist. Gericht Gottes bedeutet Gerechtigkeit Gottes. Sie soll sich durchsetzen, ist eine kritische Instanz gegenüber weltlicher Rechtsprechung. Sie relativiert menschliches Recht und bewahrt vor Selbstgerechtigkeit. Alle Zukurzgekommenen und alle Opfer sehnen sich nach Richtern, nach einem gerechten Urteil. Wie viel mehr müssten wir uns nach Gottes Gericht sehnen! Wenn wir uns darauf nicht mehr freuen, verraten wir uns, dass wir auf der Seite der Täter stehen. Nur Täter scheuen Richter und Gericht.

Wie grundsätzlich der Primat von Ethik und Gerechtigkeit heute verdrängt wird, zeigt sich auch daran, wie sich Menschen der Wiedergeburtslehre zuwenden. Für Hindus und Buddhisten bedeutet Wiedergeburt bekanntlich Gericht. Im nächsten Leben muss nicht abgegoltene Schuld beglichen werden. Für viele Westler ist Wiedergeburt jedoch eine Gelegenheit, noch einmal zu leben. Sie ist zu einer Unsterblichkeitsphantasie verkommen. Viele sehen in der Wiedergeburt kaum noch ein ethisches Urteil.

In unserer Ausbildung als Jesuiten ziehen wir uns regelmässig in Stille und Einsamkeit zurück. Wir machen dann spirituelle Übungen: Gebete und Bibelmeditationen, Tagesrückblick und Reflexion, Gewissenserforschung und Sammlung, aber auch Atemübungen, Body-Scanning etc. Dazu gehört auch das memento mori. Man bedenkt dabei nicht nur die eigene Sterblichkeit. Man vergegenwärtigt die eigene Todesstunde, stellt sich unverhüllt in Gottes Gegenwart. Mir persönlich war dabei Gottes Gericht nicht existentiell präsent. Ich bin ein Mensch des 21. Jahrhunderts. Doch ich habe Gott gebeten, dass er mich durchschaut, wo ich mich nicht durchschaue, dass er mich erleuchtet, wo ich mich selbst nicht erkenne, dass sein Feuer in mir alles ausbrenne, was mit seiner Wahrheit unvereinbar ist, dass er Schuld von mir nehme, wo ich seiner Gerechtigkeit nicht entspreche. Diese Übung habe ich über Jahre hinweg in meiner Ausbildung gemacht. Dabei bat ich immer auch, die Unannehmlichkeiten oder Schmerzen, die damit verbunden sind, annehmen zu können – um der Reinigung willen, um der Gerechtigkeit und der Wahrheit willen, die in mir wachsen sollen. Natürlich kann ich nicht sagen, was genau diese Übung in mir bewirkt hat. Doch ich habe mich danach immer freier und weitherziger wahrgenommen. Solche Übungen sollten wir anderen nicht aufdrängen. Und auf keinen Fall darf dabei die Gerechtigkeit der Welt Massstab sein. Also keine Bürgererziehung mit geistlichen Übungen! Wir sollten uns aber solcher Übungen nicht berauben lassen. Wie verarmt ist eine Kirche, wenn sie solch geistige Räume nicht mehr eröffnen kann. Wie arm ist die säkulare Sicht des Todes, wenn sie sich allein am Funktionieren des Körpers orientiert, ohne dabei spirituelle Welten zu erschliessen. Ein geistig-geistlicher Raum, wie die Dramatik der Bachkantate ihn entwickelt, sollte uns nicht verloren gehen.

Existentiell berührt hat mich die erste Arie, die Streicher, die das Zittern und Wanken vergegenwärtigen. Dazu der Text: «Indem sie sich untereinander verklagen und wiederum sich zu entschuldigen wagen.» In mir wurden Situationen wach, in denen man beginnt, einander Dinge vorzuwerfen. Lange wird Schuld und Versagen übersehen, kleingeredet und wegrationalisiert. Auf einmal aber werden sie hervorgeholt und einem unter die Nase gerieben. Solche Schuldzuschreibungen ekeln mich an. Sie sind äusserlich gesehen willkürlich. Tiefer geblickt, sind sie durch innere Stimmungen bestimmt, durch das Verdrängen eigener Fehler und Mängel, eigener Sünde und Schuld. Man schaut lange gegenseitig über Fehler hinweg, doch wenn man für einen eigenen Fehler Verantwortung übernehmen sollte, wird er abgewehrt, indem man dem anderen seine Schwäche vorhält. Ja es ist eine Tatsache: Wer zur eigenen Schuld nicht stehen kann, projiziert sie unmerklich auf andere. Wer den Müll in seinem Haus nicht kehrt, wischt ihn unbewusst dem andern vor die Tür. Bereits in der Genesis schiebt Eva ihre Schuld auf Adam ab. Adam gibt sie ebenso instinkthaft der Schlange weiter. In unserem Leben müssen nicht Schlangen, sondern Sündenböcke verdrängte Mängel und Schuld tragen.

Auch jede Gemeinschaft, ob gross oder klein, schafft sich ihre Sündenböcke. Durch Stigmatisierung von Opfern, die ausgestossen werden, entsteht schliesslich sozialer Kitt. Das ist praktisch. So betreibt eine Gesellschaft gleichsam Psychohygiene. Dr. Sigmund Freud hat die kaiserliche Hauptstadt Wien ausgeleuchtet, als er vom Unbehagen in der Kultur schrieb. Er wusste: Jede Kultur hat eine Leiche im Keller. Jede schafft sich Sündenböcke. Kann uns die Psychoanalyse davon befreien, uns heilen? Ja, bis zu einem gewissen Grad. Die eigene, innere Entfremdungsgeschichte gilt es aufzuarbeiten. Carl Gustav Jung hat dazu das Konzept vom Schatten entwickelt. Dieser muss integriert werden, wie auch Animus und Anima. Im Geschlechterkampf wird der Verdrängungsmechanismus von Mangel und Schuld nämlich besonders sichtbar. Christliche Spiritualität sollte solche psychologische Erkenntnisse und Methoden integrieren. Sie weiss aber auch, dass die Verstrickung tiefer reicht. So wird in der geistlichen Begleitung, zusätzlich zum Psychologischen, auch die Beziehung zu Gott und zu Christus thematisiert. Dies kann zu einem Beichtgespräch im engeren Sinne führen. Wie auch immer: Spiritual Coaching ist heute bedeutender denn je.

Bachs Kantate weiss von den Mechanismen verdrängter Schuld. Wer von der Gesellschaft zum Sündenbock gemacht wird, wird die Aggression früher oder später weitergeben bzw. zurückschlagen. Jesus aber liess sich zu einem Sündenbock machen und hatte die Kraft, auf Gegengewalt zu verzichten. Er durchbrach die Endloskette von Verdrängung und Aggression. Er willigte aus freien Stücken in seine Hinrichtung ein. Daher kann der Glaube dem Kreuz Jesu Sinn abgewinnen. Er kann das Kreuz als heilbringend und erlösend verehren, denn es stoppt den Sündenbockmechanismus. Zudem schaut der Glaube im himmlischen Jerusalem eine Gesellschaft, in der der Ausgestossene zurückgeholt wurde. Das Opfer ist nun als verklärtes Lamm in der Mitte der Stadt. Der Weg vom ausgestossenen Sündenbock zum Lamm in der Mitte heisst Versöhnung. Eine Gesellschaft, in der dieser Transformationsprozess stattgefunden hat, braucht kein irdisches Licht mehr, weder Sonne noch Mond. Wann kommt die Zeit, wo bei uns das Licht der Versöhnung so hell wie Sonne und Mond leuchtet? Ich kann Ihnen gestehen: An den Osterevangelien berührt mich am stärksten die Tatsache, dass der Auferstandene niemandem nur den kleinsten Vorwurf für sein Versagen macht. Keine Verurteilung von dem, der eben umgebracht wurde. Der Auferstandene begrüsst die Jünger nur mit: «Friede sei mit euch!» Das Opfer, das verzeiht, ist für die Versöhnung ebenso wichtig wie das Schuldgeständnis des Täters.

«Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen», so setzt die zweite Arie ein. Sie ist das Gegenstück zur ersten, wo vom «Verklagen» und «Entschuldigen wagen» die Rede war. Wahre Freundschaft, versöhnte Beziehungen sind das Remedium. Jesus nennt seine Jünger nicht mehr Knechte, sondern Freunde. Auch der Beter unserer Kantate tritt zu Beginn als Knecht Gottes auf. Am Ende weiss er sich als Freund Jesu. Schon der biblische Kohelet stimmt ein Loblied auf die Freundschaft an. Aristoteles widmet ihr eine ganze Abhandlung. Wir im Jesuitenorden nennen uns nicht Bruderschaft. Wir nennen uns «Freunde im Herrn». Freundschaft bezeichnet eine affektive Bindung und steht für eine nahe Beziehung. Sie entsteht durch gemeinsame Interessen, wächst durch geteiltes Leben. Schuld und Schwächen, Fehler und Versagen werden dabei einander nicht zugeschoben. Freunde stehen in Schuldverstrickung vielmehr füreinander ein. Und wenn sie versagt haben, verzeihen sie und fangen wieder neu an. Treue ist nicht nur das Gegenteil von Untreue. Treue zeigt sich gerade durch Schwächen hindurch.

In einer digitalisierten Zeit sind solche Freundschaften nicht leicht zu leben. Social Media nähren die Illusion, mit einem Klick würden Freundschaften entstehen. Immer locken neue Beziehungsmöglichkeiten, die noch besser sein könnten. Es zerren Zentrifugalkräfte an uns. Eine Flut von Bildern und Reizen zerstreut. Diese bedecken eigene Schuld und Mängel. Wie leicht ist die Flucht in Unterhaltung und Zerstreuung. Die digitale Vernetzung erlaubt es aber auch, Beziehungen über Grenzen und Kontinente hinweg zu pflegen. Wird in Fernbeziehungen investiert, können auch da echte Freundschaften entstehen. Ob der Mensch von heute auch fähig ist, eine Fernbeziehung mit Jesus zu halten? Kann Jesus einem noch ein Freund sein, der durchs Leben trägt? Kann eine Freundschaft mit ihm noch befähigen, die eigene Schuld nicht auf andere abzuschieben?

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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