Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit

BWV 106 // Trauerfestakt

«Actus tragicus» (Trauermusik), für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Blockflöte I+II, Viola da gamba I+II und Basso continuo

Albert Schweitzer hätte gern für mehr Stücke dieser Art auf den Rest des Bach’schen Kantatenoeuvres verzichtet – im Diskurs der Mendelssohn-Zeit galt «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» gar als Beweis dafür, dass Bachs Musik jeden Raum in eine Kirche zu verwandeln vermag. Dabei ist das nur für Singstimmen, Blockflöten, Gamben und «Fondamento» gesetzte und womöglich einem Mühlhäuser Ratsherrn gewidmete Stück noch gar keine moderne «Kantate», sondern ein allein auf Bibeltext und Choral gegründetes und abschnittsweise durchlaufendes «Geistliches Concert». Was Bach jedoch aus den sorgsam kompilierten Schriftworten und Vertonungstopoi einer «stillen» Begräbnisandacht macht, ist musikalische Weltliteratur und Vollendung der Tradition in einem und in ihrer poetischen Präzision die vielleicht grossartigste musikalische «Novelle» von seiner Hand.

Bonusmaterial

«Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» hätte am Freitag, 20. März 2020 in Speicher aufgeführt werden sollen. Corona schlug sämtliche Türen zu; jener schwarze Freitag war der Auftakt für ein einjähriges Sabbatical für unsere Aktivitäten, dessen Ausgang damals noch völlig offen erschien. Anstelle des Konzerts gelangte unser musikalischer Leiter Rudolf Lutz als Einmann-Ensemble zum Einsatz.

Einführung zur Kantate BWV 106 am Keyboard, Orgelkonzert in Form einer Improvisation auf der Basis des «Actus Tragicus»

Die Reflexion zur Kantate hätte unser lieber Kollege im Stiftungsrat der Internationalen J. S. Bach-Stiftung Zürich halten wollen, Prof. Dr. Ekkehart Reinelt aus München. Es war sein langjähriger Herzenswunsch gewesen, das tun zu können, zu genau dieser Kantate. In der Zwischenzeit ist er so gebrechlich geworden, dass das nicht mehr möglich ist.

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Hören und sehen Sie die Werkeinführung, das Konzert und die Reflexion in voller Länge.

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Werkeinführung
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Marie Luise Werneburg

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Raphael Höhn

Bass
Matthias Helm

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violoncello
Bettina Messerschmidt

Viola da gamba
Rebeka Rusó, Martin Zeller

Violone
Markus Bernhard

Blockflöte
Annina Stahlberger, Teresa Hackel

Orgel
Nicola Cumer

Theorbe
Fred Jacobs

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referentin
Luise Reddemann

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
24.11.2023

Aufnahmeort
Speicher (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
unbekannt (eventuell 10. August 1707
in Mühlhausen)


Textdichter

Apg. 17, 28 (Satz 2.a); Psalm 90, 12 (Satz 2.b); Jesaja 38, 1 (Satz 2.c); Johann Leon (Satz 2.d); Lukas 23, 46 & Psalm 31, 6 (Satz 3.a); Lukas 23, 43 & Martin Luther (Satz 3.b); Adam Reusner (Satz 4)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Ob man mit Albert Schweitzer für mehr Werke von der Art dieser Kantate alle anderen Bach’schen Kirchenstücke dahingeben würde, mag offenbleiben – tatsächlich aber gehört die erst nachträglich als «Actus tragicus» bezeichnete Begräbnismusik zu Bachs berührendsten Geniestreichen. Ihre wie einem Stillleben entlehnt wirkende Trauerbesetzung aus zwei Blockflöten, Gamben und Fondamento schafft einen traumhaften Rahmen für die sensiblen Solo- und Ensembleauftritte der vier Singstimmen, die entlang der altvertrauten biblischen Sterbetexte jeden Hörer auf eine Reise bis zum Grund der eigenen Existenz mitnehmen. Diese gehen, wie eine Bachforscherin hat zeigen können, auf eine Zusammenstellung von Bibelworten in Johann Olearius’ «Christlicher Bet-Schule» (Leipzig 1668) zurück, und dort auf den Abschnitt «Tägliche Seufzer und Gebet um ein seliges Ende». Das ist die ergreifende Thematik der ganzen Kantate: die Anerkennung unserer Sterblichkeit in der tröstlichen Zuversicht, dass Gottes Zeit «die allerbeste Zeit» sei, welche mit dem Jesuswort im Arioso und dem Schlusschor eine hoffnungsvolle, neutestamentliche Perspektive öffnet. Obwohl erst in Abschriften des späteren 18. Jahrhunderts überliefert, weist die altertümliche Reihungsform eines geistlichen Konzerts ohne die nach 1700 aufkommenden modernen Rezitative und Arien auf Bachs frühe Zeit, wobei insbesondere die klangliche Ausgestaltung nur mit Blockflöten und Gamben durchaus auch ein vom Begräbniskontext nahegelegter archaischer Besetzungstopos sein könnte. Womöglich mit einem Mühlhauser Traueranlass 1707 verknüpft, prägte die bereits 1831 erstmals gedruckte und insbesondere im Umfeld der Familie Mendelssohn hochgeschätzte Komposition trotz ihrer für Bachs Reifestil höchst ungewöhnlichen Faktur die Rezeption des Meisters im romantischen Zeitalter stark.

1. Sonatina

1. Sonatina

Bedächtig läutende Akkordwiederholungen der Gamben und des Continuo knüpfen im Adagio molto einen Klangteppich von sanfter Ausdruckskraft, über dem die teils unisono geführten und teils echomässig nachhallenden beiden Blockflöten elegisch aussingen.

2.a Chor

Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.
«In ihm leben, weben und sind wir,»
solange er will.
In ihm sterben wir zur rechter Zeit,
wenn er will.

2.a Chor

«Meine Zeit steht in deinen Händen» (Psalm 31, 16), so kann man vermuten, hat der ganzen Kantate und diesem Chorsatz das Leitwort gegeben: «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.» Ihm angefügt ist ein Zitat aus der Areopagrede des Paulus: «In ihm leben, weben und sind wir» (Apg. 17, 28), allerdings mit dem entscheidenden und sinnverändernden Zusatz: «…solange er will», was für den Librettisten heisst: «zur rechten», d.h. «Gottes Zeit». Nach der introvertierten Sonatina beginnt der Vokalteil mit einer energischen Wechselrede von Vorsänger (Sopran), vierstimmigem Gesangstutti und Instrumenten, die bald einem geschwinden fugierten Abschnitt weicht, dessen kleinteilige Kreisfiguren das rasante Verfliegen der Zeit und damit einen Vanitas-Topos ausdrücken, bevor ein schmerzvolles Adagio assai an das allen bevorstehende Sterben erinnert.

2.b Arioso — Tenor

Ach, Herr, «lehre uns bedenken,
daß wir sterben müssen,
auf daß wir klug werden.»

2.b Arioso — Tenor

Als persönliche Aneignung schlägt die «Christliche Bet-Schule» von Olearius den bekannten und schönen Vers aus Psalm 90, 12 vor: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen…» Passend dazu entwickelt Bach eine von Seufzern durchwirkte Melodieführung, die sich erst zaghaft kräftigt: «…auf dass wir klug werden.»

2.c Arie — Bass

«Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben
und nicht lebendig bleiben!
Bestelle dein Haus!»

2.c Arie — Bass

Die Bassarie unterstreicht mit einem Satz aus Jesaja 38, 1, welche Konsequenzen fürs menschliche Leben daraus folgen sollten: «Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben! Bestelle dein Haus!» Die energische Predigt des Basses wird permanent vom unbarmherzig durchlaufenden Sekundenzeiger der Blockflöten untermalt.

2.d Chor — Sopran

Alt, Tenor, Bass
«Es ist der alte Bund:» Mensch, «du mußt sterben!»

Sopran
«Ja, komm, Herr Jesu!»

2.d Chor – Sopran

Der Chor singt einen Vers aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach 14,18: «Es ist der alte Bund» (nach der revidierten Lutherübersetzung 2017: «Es gilt der ewige Beschluss»), «Mensch, du musst sterben!» – worauf die Sopranstimme neutestamentlich mit den hoffnungsvollen Worten der Offenbarung 22, 20 antwortet: «Ja, komm, Herr Jesu!» Die mit einem schmerzhaften Halbtonintervall beginnende Chorfuge wird kontrastiert durch Seufzerfiguren der Gamben, den zeilenweisen Choraldurchlauf der Blockflöten sowie die tapferen Sopranrufe, in deren ekstatisch-einsamem Ende gleichsam das heilbringende Bekenntnis des Sterbenden eingefangen ist.

3.a Arie — Alt

«In deine Hände befehl ich meinen Geist;
du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott.»

3.a Arie — Alt

«In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott» – in der Altusarie hören wir das Psalmenwort (Psalm 31, 6). Der erste Halbsatz sind die Worte, die Jesus am Kreuz gebetet hat (nach Lukas 23, 46). Die nach und nach aus abreissenden Vokalansätzen entwickelte Melodieführung des Altsolisten wird getragen durch eine sprechend gen Himmel weisende Continuolinie.

3.b Arioso — Bass; Choral

Bass
«Heute wirst du mit mir im Paradies sein.»

Alt
Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Willen,
getrost ist mir mein Herz und Sinn, sanft und stille,
wie Gott mir verheißen hat:
Der Tod ist mein Schlaf worden.

3.b Arioso — Bass; Choral

Die Bassstimme (Jesu) antwortet als Trost für den Gläubigen mit den Worten des Gekreuzigten zum reuigen Mitgekreuzigten: «Heute wirst du mit mir im Paradies sein» (Luk. 23, 43), worauf der Chor in das alte Lutherlied «Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Willen» einstimmt, das in der erfüllten und tröstlichen Verheissung endet: «Der Tod ist mein Schlaf worden.»

4. Chor

Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit
sei dir, Gott Vater und Sohn bereit,
dem Heilgen Geist mit Namen!
Die göttlich Kraft
macht uns sieghaft
durch Jesum Christum, amen.

4. Chor

Abgeschlossen wird die Kantate mit der 7. Strophe von Adam Reusners Lied «Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit» (1533): «In dich hab ich gehoffet, Herr», einer Doxologie und dem Satz «Die göttlich Kraft / macht uns sieghaft / durch Jesum Christum, Amen». Der blockhafte Satzbeginn weicht dabei einer konzertanten Doppelfuge, in deren vertrauender Energie aller Schmerz bewältigt scheint. Den letzten Akzent setzen auch hier wie in den meisten Sätzen die nachhallenden Instrumente, die einem tröstlichen Loslassen wortlos das Wort reden.

Reflexion

Luise Reddemann

Für die Einladung, hier zu Ihnen sprechen zu dürfen, bedanke ich mich herzlich.
Die heute aufgeführte Kantate begleitet mich seit Jahrzehnten. Ich empfinde sie als sehr tröstlich, gerade weil sie auch Schmerzliches anerkennt. Sie gilt als ein grosses Meisterwerk eines noch sehr jungen Mannes, denn Bach war gerade 22 Jahre alt, als er sie schrieb. Nicht zuletzt aufgrund seiner Biografie und des Verlustes beider Elternteile bis zum 10. Lebensjahr wusste der junge Bach um Trauer und Trostbedürfnisse.
Ich bin immer wieder begeistert von dieser Kantate und entzückt von der wunderschönen Blockflöten-Sonatina am Anfang sowie von dem gesungenen Text:
«Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will.»
Ich möchte mich hier auf diese Textpassage beziehen, noch gefolgt von
«Ach Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden» aus Psalm 90, also eine uralte Weisheit.
Ein junger Mann kann sagen, dass Gottes Zeit die allerbeste Zeit sei und dass Gott die rechte Zeit für unser Sterben bestimme. Dieser junge Mann war auch weise. Allerdings akzeptierte man zu seiner Zeit allgemein mehr unsere Sterblichkeit oder genauer gesagt hat man diese Tatsache akzeptiert und sie nicht so weit verdrängt wie nur möglich.
Nietzsche konnte empfehlen, dass gerade wegen der sicheren Aussicht auf den Tod jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein könnte.
Ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn, der könnte uns zweifellos derzeit wieder guttun. Die Lebenskunst besteht vermutlich darin, dass wir uns in Akzeptanz üben dessen, was uns widerfährt. Leider wollen wir uns lieber einbilden, wir hätten die Kontrolle so gut wie über alles. Von daher erlebe ich diese Aussage, dass Gottes Zeit die allerbeste Zeit sei, als eine nicht zu unterschätzende weise und für mich auch tröstliche Aussage. Denn wie oft nehmen wir uns und die Dinge, die uns betreffen, allzu ernst und allzu wichtig und sehen zu wenig das grosse Ganze.
Was sagt mir die Kantate? Zunächst vermitteln mir Bachs Blockflöten etwas Spielerisches, Heiteres. So könnte es hier um eine Einladung gehen, das Leben als Ganzes zu entdecken, auch mit Schmerzlichem aufgrund der Einsicht in unsere Endlichkeit, wie Rose Ausländer es beschreibt:
«Noch bist du da / Wirf deine Angst / in die Luft /» (aus: Rose Ausländer: Gesammelte Werke, Bd. V: Ich höre das Herz des Oleanders, S.-Fischer-Verlag, Frankfurt a.M. 1995), eine Einladung, uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein und dem Leben, das noch da ist, mit offenem Herzen zu begegnen.
Auch Bertolt Brecht (1954 /1990, S. 1022) hat sich indirekt zur Endlichkeit in seinem Gedicht «Vergnügungen» geäussert, das uns einladen kann, offen und dankbar zu sein für das Einfache in unserem Leben und es wertzuschätzen, wie zum Beispiel: «Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen / Das wiedergefundene alte Buch / Begeisterte Gesichter / … Alte Musik / Bequeme Schuhe / Begreifen /Neue Musik / Schreiben, Pflanzen / Reisen / Singen / Freundlich sein.»
Wir alle könnten in diesen Tagen eingeladen sein, durch Heiterkeit den schwierigen Themen ein wenig die Schwere zu nehmen, damit sie uns nicht erdrücken. Für vieles haben wir keine Lösungen, sondern müssen mit den schwierigen Fragen leben. Da könnte die Besinnung auf das Einfache und Freundliche unseres Lebens wenigstens zwischendurch guttun.
Was auch immer die Kantate «Gottes Zeit» für Einzelne bedeuten mag – ich möchte und kann das theologisch nicht deuten, dazu gibt es Berufenere –, so klingen immer auch Freude, Hoffnung, Zuversicht durch. Als Psychotherapeutin, die viele schwer belastete Menschen begleitet, ist mir der Blick auf das Ganze unseres Lebens besonders wichtig. Zum Ganzen unseres Lebens gehören Leid und Freude und das vermittelt mir die Kantate.
Es wird ja hervorgehoben, dass es sich bei dieser Kantate um eine Trauerkantate handeln müsse. Man weiss es nicht ganz genau. Wenn das so ist, dann muss dieser junge Mann Sebastian geahnt haben, dass es einen Weg von der Trauer in die Zuversicht gibt. Und das sind vielleicht die wichtigsten Botschaften für uns: Wir können nicht alles bestimmen, schon gar nicht, wie viel Zeit auf Erden wir haben, und es gibt dennoch Grund zur Freude und Zuversicht. Und die Kantate kann eine Einladung sein, dass wir uns darauf mehr besinnen sollten, gerade wenn es schwierig wird. Und dankbar sein für das, was bereits an freundlichen Gaben des Lebens vorhanden ist, worauf Brechts Gedicht hinweist. Für mich ergänzen sich die Aussagen in der Kantate und in Brechts Gedicht.
Ich möchte hier noch kurz auf eine über 20 Jahre später komponierte Arie, nämlich «Wie will ich mich freuen, wie will ich mich laben» aus der Kantate «Wir müssen durch viel Trübsal», verweisen. In der Zeit zwischen diesen beiden Kantaten hat Bach viel Schmerzliches durchmachen müssen. Umso bemerkenswerter finde ich, dass er immer wieder Wege zur Heiterkeit und Gelassenheit findet. In der späteren Kantate 146 heisst es gegen Ende: «Wie will ich mich freuen, wie will ich mich laben, wenn alle vergängliche Trübsal vorbei! Da glänz ich wie Sterne und leuchte wie Sonne, da störet die himmlische selige Wonne kein Trauern, Heulen und Geschrei.»
In beiden Kantaten liegt die Lösung wie seinerzeit üblich mehr im Himmel, also in der anderen Dimension nach dem Tod.
Ich möchte vorschlagen, dass wir uns erlauben, den Himmel zumindest ab und an auch schon hier erleben zu können, es liegt an uns, ob wir es uns gestatten, das wahrzunehmen.
Eine Lösung scheint mir, dass wir uns um Freundlichkeit bemühen. Freundlichkeit mit uns selbst, Freundlichkeit mit geliebten Menschen, aber auch mit fernen und letztlich Freundlichkeit mit der Schöpfung als ganzer, die sich in Dankbarkeit ausdrücken kann. In dem Satz «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» klingt für mich diese Dankbarkeit an.
Leben wird einfacher, wenn wir achtsam die vielen kleinen und grösseren Dinge des Alltags, die uns vom Leben geschenkt werden und die keinesfalls selbstverständlich sind, bewusst dankbar wahrnehmen, statt sie für selbstverständlich zu halten. Kleine Momente der Freude und des Glücks können durch Dankbarkeit an Tiefe gewinnen. Dankbarkeit wird so ein hilfreiches Mittel gegen Mangelorientierung– nicht indem man beschönigt, sondern indem man genau hinsieht und das Leben als Ganzes mit freudigen neben den schwierigen Momenten sieht und akzeptiert. Dann kann, zum Beispiel, deutlich werden, dass es einem guttut, Menschen, die einem ein freundliches Lächeln schenken, dankbar zu sein und vielleicht sogar zurückzulächeln. Es wird uns viel Gutes von vielen Menschen und nichtmenschlichen Wesen gegeben. Das zu erfassen, kann das Leben reicher und wertvoller machen und das Herz öffnen und weiten. Vom Denken des ausschliesslichen Mangels wegzukommen und Fülle als positives Gut zu entdecken, hat vielen meiner Patientinnen und Patienten eine neue Sicht auf andere und auf das Leben ermöglicht. Wir können nicht ohne andere und anderes existieren; sich das dankbar bewusst zu machen, kann zur Quelle von Freude und liebevollen Gefühlen werden.
Es wäre allerdings beschönigend, in der Kantate nur zu hören, dass es um Freude geht. Aus meiner Sicht geht es um ein Ja zum Ganzen unseres Lebens. Also auch und gerade um ein Ja zu unserer Endlichkeit.
Wir können uns fragen, wie wir mit der Tatsache umgehen, dass es Leidvolles gibt, das wir nicht aus unserem Leben entfernen können. Und können wir uns in die Dinge «schicken»? Oder wollen wir uns lieber beschweren?
Sind wir bereit, das Leben/Gott oder die Wesen, denen wir Erfreuliches verdanken, zu «loben», im Sinn von freudiger Dankbarkeit?
Sind wir bereit, wie Hilde Domin (1959/2022, S. 14) es einmal beschrieben hat,
«‒ fast ohne Angst ‒ im Takt unseres Herzens, als seien wir beschützt, solange die Liebe nicht aussetzt» zu gehen?
Für mich sind viele von Bachs Kantaten Werke, die mir helfen, immer wieder «fast ohne Angst» zu gehen, also tröstliche Verheissungen.
Gestatten Sie mir daher ein paar Gedanken zur aktuellen Situation, inspiriert als Psychoanalytikerin von einem meiner wichtigen Lehrer:
Die Bereitschaft zu kriegerischen Handlungen hat in den letzten Wochen fast exponentiell zugenommen. Es gibt einen Brief von Sigmund Freud an Albert Einstein aus dem Jahr 1932, wo Freud meint, es gebe wohl keine Möglichkeit, dass Menschen ohne Aggression auskommen würden, allenfalls, so hoffte er, würde die Psychoanalyse zu mehr Freundlichkeit beitragen können (Einstein & Freud, 1933, S. 53 f.). Heute plädiert die amerikanische Psychoanalytikerin Donna Orange (2011, S. 50, 59) wieder und wieder für Mitgefühl und bezieht sich dabei auf den Philosophen Emmanuel Lévinas (1991/1995, S. 138 f.), der sich oft auf den Satz «nach Ihnen» – après vous – bezog, als eindrücklichen und einfachen Hinweis, dass wir dem und den anderen den Vortritt lassen sollten.
Wenn ich Bezug nehme auf Bachs frühe Kantate, so hoffe ich, dass sich immer mehr Menschen finden, die ihre Aggressionen und ihren Ärger nicht verleugnen, aber respektvollere Wege zu gehen versuchen, statt andere mit dem Tod zu bedrohen oder gar zu töten, also bereit sind, sich mehr auf das Gemeinsame unseres Menschseins zu konzentrieren, Leid als Konstante menschlichen Lebens anzunehmen und Heiterkeit, wie sie auch in der Kantate anklingt, nicht zu vergessen.
Sie haben es hier in der Schweiz geschafft, ohne Krieg und ohne Beteiligung an Kriegen seit Jahrhunderten zu leben. Ich bitte Sie, werden Sie lauter und weisen Sie darauf hin, dass man ohne Krieg zu führen leben kann. Was nicht bedeuten muss, dass man klein beigibt. Bitte tragen Sie das, was Sie über Friedfertigkeit und Kompromissbereitschaft wissen, nicht zuletzt, weil wir alle wissen können, dass es Grösseres gibt als Selbstbezogenheit, in die Welt. Dazu kann uns diese Kantate einladen.

Literatur
Brecht, Bertolt (1990): Vergnügungen. In: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 10: Gedichte. (3. unveränd. Nachdr.; S. 1022). Frankfurt: Suhrkamp (Original erschienen 1954).
Domin, Hilde (2022): Gleichgewicht. In: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte (5., unveränd. Aufl.; S. 14). Frankfurt: Fischer (Original erschienen 1959).
Einstein, Albert & Freud, Sigmund (1933): Warum Krieg? Paris: Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit.
Lévinas, Emmanuel (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen (Reihe: Edition Akzente). München: Hanser (französisches Original erschienen 1991).
Orange, Donna M. (2011): The Suffering Stranger. Hermeneutics for Everyday Clinical Practice. New York: Routledge.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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