Es ist euch gut, daß ich hingehe

BWV 108 // zum Sonntag Kantate

für Alt, Tenor und Bass, vierstimmigen Chor, Oboe d’amore I+II, Fagott, Streicher und Continuo

Der Text der Kantate, welcher Bach schon vorlag, bevor er 1728 in einem gedruckten Gedichtband erschien, hält sich eng an die die Lesung aus den sogenannten «Abschiedsreden» Jesu im 16. Kapitel des Johannesevangeliums. Es handelt sich um das Versprechen Jesu, den Heiligen Geist zu senden, und um die Wirkungen, welche von diesem Geist ausgehen werden.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 108

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Alt/Altus
Margot Oitzinger

Tenor
Johannes Kaleschke

Bass
Peter Harvey

Chor

Sopran
Leonie Gloor, Guro Hjemli, Noëmi Tran-Rediger, Jennifer Rudin, Mami Irisawa

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Heiniger, Damaris Nussbaumer, Alexandra Rawohl

Tenor
Raphael Höhn, Nicolas Savoy, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, William Wood

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova, Renate Steinmann

Viola
Susanna Hefti

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe d’amore
Kerstin Kramp, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Orgel
Norbert Zeilberger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Pfarrer Tilman Knoedler

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
20.05.2011

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichterin
Christiane Mariana von Ziegler, 1728

Textdichter Nr. 1, 4
Zitate aus Johannes 16, 7 und 13

Textdichter Nr. 6
Paul Gerhardt, 1653

Erste Aufführung
Sonntag Cantate,
29. April 1725

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Arie (Bass)

«Es ist euch gut, daß ich hingehe; denn so ich nicht
hingehe, kömmt der Tröster nicht zu euch. So ich aber
gehe, will ich ihn zu euch senden.»

1. Arie
Der Bass zitiert aus Johannes 16 das Wort Christi, dass der Heilige Geist als Fürsprecher (in der Lutherbibel «Tröster» genannt) kommen werde. Die Oboe d’amore gibt der Bass-Arie einen innig-warmen Klang.

2. Arie (Tenor)

Mich kann kein Zweifel stören,
auf dein Wort, Herr, zu hören.
Ich glaube, gehst du fort,
so kann ich mich getrösten,
daß ich zu den Erlösten
komm an gewünschten Port.

2. Arie
Der Glaubende lässt keine Zweifel an dieser Zusage Christi. Ein Wort aus dem Buch Jesaja (35, 10) klingt an: «Die Erlösten des Herrn werden wieder kommen und gen Zion kommen mit Jauchzen.» Die Zuversicht spiegelt sich in einem wiederholten, sehr stabilen Bassmotiv, das die von einer konzertanten Violine umrankte Tenor-Arie auf festen Grund baut.

3. Rezitativ (Tenor)

Dein Geist wird mich also regieren,
daß ich auf rechter Bahne geh;
durch deinen Hingang kommt er ja zu mir,
ich frage sorgensvoll: Ach, ist er nicht schon hier?

3. Rezitativ
Bei diesem Rezitativ hat Bach sich erlaubt, den wortreichen Text der Dichterin zu straffen und um eine Zeile zu verkürzen, sodass nun die beiden ersten Zeilen ohne Reimpartner sind; diese sind aus Psalm 143, 10 geschöpft: «Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn.»

4. Chor

«Wenn aber jener, der Geist
der Wahrheit, kommen wird,
der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht
von ihm selber reden, sondern was er hören wird, das
wird er reden; und was zukünftig ist, wird er
verkündigen.»

4. Chor
Ein «Bibelwortchor» zitiert ein weiteres Wort Christi aus der Lesung des Evangeliums. Der umfängliche Text wird in drei Abschnitte aufgeteilt und jeder dieser Abschnitte als motivisch aufeinander bezogene Chorfuge angelegt. Die Verwandlung durch den Geist wird musikalisch durch extrem weite Sprünge in den Fugenthemen ausgedrückt.

5. Arie (Alt)

Was mein Herz von dir begehrt,
ach, das wird mir wohl gewährt.
Überschütte mich mit Segen,
führe mich auf deinen Wegen,
daß ich in der Ewigkeit
schaue deine Herrlichkeit!

5. Arie
Die Alt-Arie bittet um Geleit auf den Wegen Gottes. So wird sich erfüllen, was im Psalm 20 noch als Wunsch ausgesprochen wird: «Er gebe dir, was dein Herz begehrt.» In der Ewigkeit wird auch die Sehnsucht des Dichters von Psalm 42 gestillt werden: «Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?»

6. Choral

Dein Geist, den Gott vom Himmel gibt,
der leitet alles, was ihn liebt,
auf wohl gebähntem Wege.
Er setzt und richtet unsren Fuß,
daß er nicht anders treten muß,
als wo man findt den Segen.

6. Choral
Diese Strophe, welche Christiane Mariana von Ziegler als Schlusschoral ausgewählt hat, entstammt dem Lied «Gott, Vater, sende deinen Geist» von Paul Gerhardt und fasst die Gedanken der Kantate treffend zusammen.

Reflexion

Eberhard Jüngel

«Jesu Abschied als Voraussetzung für das Kommen des Trösters»

Die Kantate «Es ist euch gut, dass ich hingehe» besingt, warum Jesus gehen muss, damit der Trost dieser Welt kommen kann.

«O wie er schwinden muß, daß ihr’s begrifft!», heisst es bei Rainer Maria Rilke im ersten seiner eigentlich dem mythischen Orpheus geltenden Sonette, in denen aber auch die Abschiedsreden Jesu aus dem Johannesevangelium nachklingen.
«O wie er schwinden muß (…)!» – Muss? Stand der Heiland sich selbst im Wege? Und musste er deshalb seinen Jüngern und allen jenen Frauen und Männern entzogen werden, denen er im Heiligen Land von Gottes Geist erfüllt das Evangelium so pointiert, ja – im besten Sinne des Wortes – geistreich verkündigt hatte? Gilt auch von ihm, was Friedrich Hölderlin von Empedokles behauptet hatte: «Es muß bei Zeiten weg, durch wen der Geist geredet (…)» ?
Dass Menschen sich selbst im Wege stehen, ist uns vertraut. Doch kann auch der Mensch gewordene Gott sich selbst im Wege stehen? So sehr, dass der Gottessohn schwinden muss, damit sich sein Werk vollenden, damit Jesus Christus sein eigentliches Ziel erreichen kann?
Solche Fragen drängen sich auf, wenn man die Verse aus dem 16. Kapitel des Johannesevangeliums, denen die Kantate «Es ist euch gut, dass ich hingehe» gilt, verstehen will.
Und wenn es eine Antwort auf dergleichen Fragen gibt, dann müssen diese Fragen in der Antwort gut aufgehoben sein.
Die Kantate «Es ist euch gut, dass ich hingehe» ist der Versuch, eine solche Antwort vorzubereiten. Wohlgemerkt: vorzubereiten, mehr nicht. Die Antwort schliesslich zu geben, ist jeder und jedem Einzelnen von uns aufgegeben – so wie denn auch in den beiden Arien und im Rezitativ dieser Kantate einzelne Christen zu antworten wagen. Wer sich ihre Antwort zu eigen machen kann, der ist dann auch eingeladen, in den Choralvers Paul Gerhardts einzustimmen, mit dem die Kantate am Schluss auf ihren Anfang zurückkommt.
Am Anfang – da beherrscht ein Kommen und Gehen, nein, ein Gehen und Kommen die Szene. Der eine geht, der andere kommt. Das kennen wir aus unserem Alltagsleben. Doch im Evangelium muss der eine gehen, damit der andere kommen kann. Auch das gibt es – wenn auch nur selten – in unserem Alltagsleben: Ein wirklich guter Lehrer muss irgendwann gehen, damit seine Schüler kommen, damit sie selbstständig werden können. Professoren kennen das – hoffentlich! Und selbst eine kluge, ihren Sohn liebende Mutter wird, wenn der Sohn irgendwann seine Frau fürs Leben gefunden hat, zwar nicht gleich ganz abtreten, aber doch einen zierlichen, allerdings auch unübersehbaren Schritt zurücktreten, damit nun die junge Frau an der Seite des Sohnes sich entfalten kann.
Doch im Evangelium – da ist der, der gehen muss, der eigentlich Kommende. Sein Kommen feiert schon der Prolog des Johannesevangeliums: «Er kam in sein Eigentum» (Johannes 1, 11). Denn er kam zur Welt, zu der Welt, die ohne ihn überhaupt nicht wäre (Johannes 1, 3). Und als der zur Welt Gekommene war, ist und bleibt Jesus Christus der Kommende.
Aus meiner Konfirmandenzeit ist mir bis heute der Choralvers präsent: «Er kommt auch noch heute / und lehret die Leute.» Jesus Christus bleibt im Kommen.
Doch damit er der Kommende bleiben kann, muss er gehen: nämlich in den Tod. Ein seltsames Paradox. Der Weg Jesu Christi ist erst dann vollendet, ist erst dann vollbracht (Johannes 19, 30), wenn der Tod ihn den mit ihm Lebenden entzieht.
Das Johannesevangelium bezeugt, dass Jesus der Welt durch seinen Tod als Lebender und dass er ihr durch seine Auferstehung auch als Toter entzogen wurde. Erst dieser doppelte Entzug machte die universale Wirkung seiner Botschaft überhaupt möglich.
Tod bedeutet Trennung, Abschied: Trennung für immer, Abschied ohne Wiederkehr. im Tod endet der Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens. Da enden die Beziehungen des menschlichen Ichs zu seiner sozialen und zu seiner natürlichen Umwelt. im Tod endet auch die Beziehung des Ichs zu sich selbst, also mein Selbstverhältnis. im Tod endet sogar meine Beziehung zu Gott. «Die Toten loben den Herrn nicht mehr», heisst es im Alten Testament in Psalm 115 (Psalm 115, 17). Der Tote ist weg. Er fehlt für immer.
Das alles macht die Hinterbliebenen traurig, unendlich traurig – jedenfalls dann, wenn man dem Dahingehenden nahestand, wenn man ihn lieb hatte. Und so überrascht es nicht, dass das Johannesevangelium von der «Trauer» redet, die Jesus mit der Ankündigung seines Todes bei den Jüngern auslöst.
Doch von Trauer ist in der Kantate nichts mehr zu spüren. Die Trauer ist allenfalls nur noch als fliehender Schatten wahrnehmbar. Wie der seinem Tod entgegensehende und entgegengehende Jesus weiss auch Johann Sebastian Bach, dass da, wo der Beziehungsreichtum des menschlichen Lebens endet, wo sogar meine Beziehung zu Gott endet, Gottes Beziehung zu mir nicht enden wird. Dessen ist sich der seinem Tod entgegengehende Jesus gewiss. Und in dieser Gewissheit tröstet er seine Jünger.
Sein Trost für sie besteht nun aber vor allem darin, dass er ihnen einen universalen Tröster verheisst, der die Wirksamkeit des irdischen Jesus in alle Zukunft, zu allen kommenden Generationen fortführen, der Jesu Botschaft und seine irdische Geschichte zum Ziel führen wird: Der Heilige Geist wird kommen und die Wahrheit der Worte und der Geschichte Jesu der ganzen Welt bezeugen.
Während seines irdischen Lebens war Jesu Wirksamkeit ja auf das Heilige Land, auf Galiläa und Jerusalem beschränkt. Doch die Wahrheit seiner Botschaft und seiner Geschichte sollte – um es mit einer römischen Formel zu sagen – «urbi et orbi», der Stadt und dem Erdkreis kundgetan werden. Denn Gott kam nicht nur um einiger Jünger willen zur Welt. Er kam um der Welt willen zur Welt. Und in alle Welt dringt kein irdischer Leib, sondern nur der Geist der zu diesem Leib gehörenden Person vor und durch.
Der Geist, den das Johannesevangelium bezeugt, dringt in alle Welt vor, bis in die letzten Winkel. Ja, sogar bis nach Tübingen, sogar bis hier hin nach Trogen. Er dringt vor und will einbrechen in unsere Welten und Existenzen, mögen sie, mögen wir noch so verschlossen sein. Er will einbrechen, um zu trösten. Darin ereignet sich Geistesgegenwart, göttliche und deshalb tröstende Geistesgegenwart. Deshalb ist in der Kantate nichts mehr von Trauer zu spüren.
Um seinen die Stadt und den Erdkreis erreichenden Geist zu senden, musste der irdische Jesus gehen: Er ging nicht ins Leere, sondern zu seinem allmächtigen Vater. Er musste gehen – ich zitiere noch einmal aus Rilkes Sonett – er musste dorthin gehen, «wohin ihr’s nicht begleitet», damit «sein Wort sein Hiersein übertrifft».
Das Wort des Gottessohnes aber ist ein befreiendes Wort. Und der dieses Wort der ganzen Welt bezeugende Geist ist ein befreiender Geist. Wer von ihm erobert wird, der wird ein freier Mensch und ist dann niemandem mehr untertan.
Befreiung kann allerdings auch ein Gewaltakt sein. Politische Befreiungsakte sind es nur zu oft. Leider. Die Weltgeschichte führt es uns immer wieder vor Augen.
Doch der Geist, der kam, weil Jesus ging, befreit ohne jede Gewaltanwendung. Er befreit, wie die alten Theologen es ausdrückten, suaviter, sozusagen küssend. Denn er ist ein Geist der Freundschaft, ja ein Geist der Liebe, und zwar einer feurigen Liebe. Deshalb bittet die christliche Gemeinde und jeder zu ihr gehörende Christ immer wieder um das Kommen dieses Geistes: «Veni creator spiritus (…) – Komm Schöpfer Geist und entzünde in uns das Feuer Deiner Liebe!»
Feuer heisst: es brennt. Aber das Feuer der göttlichen Liebe brennt, ohne zu verletzen und zu verzehren. Ganz im Gegenteil: Es ist ein kreatives Feuer. Es bringt einen neuen Menschen hervor.
Wenn von diesem Feuer nichts in mir brennt, dann habe ich Bachs Kantate umsonst gehört. Und dann ist es höchste Zeit, sie und das in ihr bezeugte Evangelium noch einmal zu hören. Doch nicht nur noch einmal. Sondern immer wieder! Denn was Martin Luther im Blick auf das Lesen behauptet hat, das gilt genauso für das Hören.
«Viel lesen» – so Luther – «machet nicht gelehrt, sondern gut ding und oft lesen, das macht gelehrt (…) und fromm dazu.»
Wer Ohren hat zu hören, der kann erfahren, dass diese Worte auch für den hörenden Menschen gelten: «Gut ding … oft hören» – ja, das ists.

 

Literatur
Friedrich Beissner (Hg.), Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles. Erste Fassung. 2. Akt, 4. Auftritt, Sämtliche Werke Stuttgarter Ausgabe, Bd. IV, Cotta Verlag, Stuttgart 1954
• Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus Erster Teil V, Werke. Auswahl in zwei Bänden, Bd. I, Insel Verlag, Leipzig 1953

 

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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