Der Herr ist mein getreuer Hirt

BWV 112 // zu Misericordias Domini

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Horn I + II, Oboe I+II, Streicher und Basso continuo

«Der Herr ist mein Hirte» – kaum ein Bibeltext ist so beliebt wie dieser 23. Psalm. Wie schön, dass ein unbekannter Dichter schon 1531 diesen kostbaren Text behutsam in eine Liedform überführte und Bach damit zu einer der liebreizendsten Kantaten seines Œuvres anregte. Als konzertante Choralvertonung ohne eingeschobene Rezitative angelegt, durchströmen Bachs Chor- und Ariensätze bis in die wuchtigen Hornstimmen hinein eine eingängige Melodik und von der Choralsubstanz inspirierte Frische. Fast scheint es, als habe der seit Ende der 1720er Jahre eher mit anderen Projekten beschäftigte Bach im Frühjahr 1731 plötzlich Lust verspürt, seine legendäre Kantatenwerkstatt neu zu eröffnen.

Video

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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Lia Andres

Alt/Altus
Elvira Bill

Tenor
Florian Sievers

Bass
Dominik Wörner

Chor

Sopran
Alice Borciani, Cornelia Fahrion, Jennifer Ribeiro Rudin, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel

Alt
Anne Bierwirth, Antonia Frey, Stefan Kahle, Laura Kull, Lea Scherer

Tenor
Manuel Gerber, Tobias Mäthger, Tiago Oliveira, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Serafin Heusser, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Péter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Lenka Torgersen

Viola
Martina Bischof, Lucile Chionchini, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Markus Bernhard

Oboe
Linda Alijaj, Mei Kamikawa

Fagott
Susann Landert

Horn
Stephan Katte, Thomas Friedlaender

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Reflexion
Béatrice Acklin

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.02.2025

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
8. April 1731, Leipzig

Textgrundlage
Dichter unbekannt, nach Psalm 23

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

«Der Herr ist mein Hirte» – kaum ein Bibeltext ist so beliebt wie dieser 23. Psalm, der zusammen mit dem Wort Jesu «Ich bin der gute Hirte» (Johannes 10.11) die Textbasis für den zweiten nachösterlichen Sonntag Misericordias Domini bildet. Wie schön, dass der unbekannte Dichter diesen kostbaren Text in ein singbares Lied überführt und Bach damit zu einer der liebreizendsten Kantaten seines Œuvres angeregt hat. Als konzertante Choralvertonung, die den Liedtext mit nur wenigen Änderungen integral und also ohne neu hinzugedichtete Rezitative übernimmt, durchströmt Bachs Chor- und Ariensätze bis in die wuchtigen Hornstimmen hinein eine eingängige Melodik und von der Choralsubstanz inspirierte Frische. Fast scheint es, als habe der seit längerem eher mit anderen Projekten beschäftigte Bach im Frühjahr 1731 plötzlich Lust verspürt, seine legendäre Choralkantaten-«Werkstatt» von 1724/25 neu zu eröffnen. Die trotz aller Kunsthaftigkeit besonders eingängige Kantate – zu der glücklicherweise auch das originale Textbuch von 1731 erhalten ist – wurde dann auch in den ersten Jahren nach Bachs Tod nochmals in der Leipziger Stadtkirchenmusik dargeboten.

1. Chor
Versus 1

Der Herr ist mein getreuer Hirt,
hält mich in seiner Hute,
darin mir gar nichts mangeln wird
irgend an einem Gute.
Er weidet mich ohn Unterlaß,
darauf wächst das wohlschmeckend Gras
seines heilsamen Wortes.

1. Chor
Versus 1

Bach übernimmt die sich an Luthers Psalmübersetzung haltende Nachdichtung mit ihren interpretierenden Zusätzen, welche das Bildwort vom göttlichen Hirten zu einem heute noch gesungenen Kirchenlied gemacht hat. Die Erfahrungen des Behütetseins durch Gott werden mit einem reformatorischen Akzent versehen, das «wohlschmeckend Gras» ist das «seines heilsamen Wortes». Im Einklang mit dem Choral leben Chor- und Orchestersatz von aufwärtsstrebenden Gesten und wohltuenden Melodiebögen. Die von Beginn an prägenden Hörner verleihen dem hymnischen Textvortrag geradezu heiligmässigen Glanz. Ob der in Bachs Partitur ausgeprägte Reinschriftcharakter dieses Eingangssatzes die Wiederverwendung einer älteren Vorlage belegt (etwa über «Allein Gott in der Höh sei Ehr»), lässt sich nur vermuten.

2. Arie – Alt
Versus 2

Zum reinen Wasser er mich weist,
das mich erquicken tue.
Das ist sein fronheiliger Geist,
der macht mich wohlgemute.
Er führet mich auf rechter Straß
seiner Geboten ohn Ablaß
von wegen seines Namens willen.

2. Arie – Alt
Versus 2

Die Alt-Arie vertieft diese Interpretation: Das reine Wasser ist das des «fronheiligen» (hochheiligen) Geistes, und auf die rechte Lebensstrasse führen die göttlichen Gebote. Nach e-Moll und in einen federnden 6∕8-Gestus versetzt, legt die Kombination aus Alt-Solo, Oboe d’amore und Continuo die Anmutung eines schattigen Quells in bukolischer Umgebung nahe. Die unablässigen Umspielungen der beiden Aussenpartien lassen die Singstimme dabei über die einmalige Erquickung hinaus als lebenslang getragen erscheinen. Die «rechte Strasse» wird so musikalisch als wärmendes Bad im Wasser des Geistes gedeutet, das alle Strenge der «Gebote» klingend verflüssigt.

3. Rezitativ – Bass
Versus 3

Und ob ich wandert im finstern Tal,
fürcht ich kein Ungelücke
in Verfolgung, Leiden, Trübsal
und dieser Welte Tücke:
denn du bist bei mir stetiglich,
dein Stab und Stecken trösten mich,
auf dein Wort ich mich lasse.

3. Rezitativ – Bass
Versus 3

Im Bass-Rezitativ zeigt sich, dass der Psalm nicht idyllisch zu lesen ist: Die furchtlos durchschrittene Wegstrecke «im finstern Tal» meint Erfahrungen von «Verfolgung, Leiden, Trübsal», und wiederum wird die tröstliche Gegenwart Gottes reformatorisch als ein «Wort» beschrieben, auf das Verlass ist. Bach entwirft dafür eine zweiteilige Form, die sich souverän von der Melodik und Deklamation eines Chorals löst. Dabei kommt die Wanderung durchs finstere Tal als mit dem gleichberechtigten Continuo leichtfüssig durchmessener Weg daher, während das Bekenntnis zu Gottes Führung in ein expressives Streicheraccompagnato eingebettet ist.

4. Arie – Duett Sopran und Tenor
Versus 4

Du bereitest für mir einen Tisch
für mein’ Feinden allenthalben,
machst mein Herze unverzagt und frisch,
mein Haupt tust du mir salben
mit deinem Geist, der Freuden Öl,
und schenkest voll ein meiner Seel
deiner geistlichen Freuden.

4. Arie – Duett Sopran und Tenor
Versus 4

Die «Rechtfertigung» des öffentlich Angefeindeten wird im Duett für Sopran und Tenor mit kraftvoll-jubelnden und trotzigen Tönen dargestellt: Trotz Feinden «allenthalben» macht Gott das «Herze unverzagt und frisch», er schenkt der Seele voll ein (aus dem Pokal) der «geistlichen Freuden». Wie oft bei Bach drücken sich hier Empfindungen des Getröstetseins nach der Anfechtung in einem tänzerischen Gestus aus. Wie Bach dabei imitierendes vokales Duettieren und concertoartig aufgebrochene Orchesterfaktur verbindet, ist in seiner melodisch geschickt mit dem Choral verknüpften pulsierenden Kraft schlicht meisterhaft.

5. Chor
Versus ultimus

Gutes und die Barmherzigkeit
folgen mir nach im Leben,
und ich werd bleiben allezeit
im Haus des Herren eben,
auf Erd in christlicher Gemein,
und nach dem Tod da werd ich sein
bei Christo, meinem Herren

5. Chor
Versus ultimus

Die Zusammenfassung dieser hoffnungsvollen Psalmworte findet sich im Schlusschoral: Gutes und Barmherzigkeit «folgen mir nach im Leben, und ich werd bleiben allezeit im Haus des Herren» – zuerst diesseitig als dem Ort der christlichen Gemeinde, aber auch jenseitig: «nach dem Tod da werd ich sein bei Christo, meinem Herren». Während Bach dafür das vertraute Modell eines instrumental verdoppelten Choralsatzes wählte, gewährt das Stimmenmaterial den nominell «zweiten» Horn- und Oboenpartien erstaunliche Freiheiten.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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