Auf Christi Himmelfahrt allein

BWV 128 // zu Himmelfahrt

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Oboe da caccia, Trompete, Horn I+II, Streicher und Basso continuo

Zwischen Ostern und Trinitatis 1725 vertonte Bach neun Libretti der Leipziger Patriziertochter und kaiserlich gekrönten «Poeta laureata» Mariane von Ziegler (1695–1760). Dabei setzte er auf farbige Instrumentierungen, wobei der Rang des Himmelfahrtsfestes und der eröffnende Choralchor der Kantate BWV 128 zusätzlichen Nachdruck verleihen. Die von einem beweglichen Orchestersatz gestützten Hornklänge des Eingangs setzen sich in einer Bassarie fort, die mit «hellem Trompetenschall» die Auferstehung Jesu besingt, in einem bewegenden Rezitativeinschub jedoch die dem Menschen geziemende Demut reflektiert. Während ein verinnerlichtes Duett «durch die Sterne» hindurch die Herrlichkeit Gottes zu erblicken sucht, blasen die Rahmensätze mit elektrisierender Energie «allen Zweifel, Angst und Pein» hinweg.

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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Raphael Höhn

Bass
Andreas Wolf

Chor

Sopran
Maria Deger, Linda Loosli, Simone Schwark, Susanne Seitter, Baiba Urka, Ulla Westvik

Alt
Antonia Frey, Francisca Näf, Simon Savoy, Lea Scherer, Lisa Weiss

Tenor
Rodrigo Carreto, Clemens Flämig, Tiago Oliveira, Christian Rathgeber

Bass
Fabrice Hayoz, Serafin Heusser, Israel Martins, Julian Redlin, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Éva Borhi, Cecilie Valter, Ildikó Sajgó, Péter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek

Viola
Corina Golomoz, Matthias Jäggi, Anne Sophie van Riel

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Guisella Massa

Oboe
Katharina Arfken, Clara Espinosa Encinas

Oboe da caccia
Philipp Wagner

Fagott
Gilat Rotkop

Horn
Stephan Katte, Thomas Friedlaender

Trompete
Jaroslav Rouček

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Michael Köhlmeier

Artikel Neue Zürcher Zeitung

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
26.04.2024

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
10. Mai 1725 – Leipzig

Textgrundlage
C. M. von Ziegler (gedruckt 1728); Satz 1: E. Sonnemann (1661, nach J. Wegelin 1636); Satz 5: M. Avenarius (1673)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Zwischen Ostern und Trinitatis 1725 vertonte Bach neun Libretti der Leipziger Patriziertochter und kaiserlich gekrönten «Poeta laureata» Christiana Mariana von Ziegler (1695–1760). Ein Zeitgenosse schrieb über diese aussergewöhnliche Dame: «Sie macht alles mit, sie spielet auff allerhand musikalischen Instrumenten und singt dabey, sie schießet mit Büchsen, Pistolen und Armbrüsten, en compagnie. Sie spricht frantzösisch, absonderlich ist sie starck in dem deutschen Stylo und in der Poesie.» Bach setzte im Wissen um die flexiblen Spielkünste seiner Stadtpfeifer auf farbige Instrumentierungen, wobei der Rang des Himmelfahrtsfestes und der eröffnende Choralchor der Kantate BWV 128 zusätzlichen Nachdruck verleihen. Die Himmelfahrt Christi, so verkündet schon der Eingangschor, begründet die feste Hoffnung auf die «Nachfahrt» der Christen – auf himmlische Verklärung und Gottesbegegnung von Angesicht zu Angesicht. Die von einem beweglichen Orchestersatz gestützten Hornklänge des Eingangs setzen sich in einer Bassarie fort, die mit «hellem Trompetenschall» die Einsetzung Christi zur Rechten Gottes besingt, in einem bewegenden Rezitativeinschub jedoch die dem Menschen geziemende Demut reflektiert. Während ein verinnerlichtes Duett «durch die Sterne» hindurch die Herrlichkeit Gottes zu erblicken sucht, blasen die Rahmensätze mit elektrisierender Energie «allen Zweifel, Angst und Pein» hinweg.

1. Chor

Auf Christi Himmelfahrt allein
ich meine Nachfahrt gründe
und allen Zweifel, Angst und Pein
hiermit stets überwinde;
denn weil das Haupt im Himmel ist,
wird seine Glieder Jesus Christ
zu rechter Zeit nachholen.

1. Chor

Die Librettistin Christiana Mariana von Ziegler wählt für den Eingangschor die 1. Strophe des gleichnamigen Liedes von Ernst Sonnemann (1661, eine Nachdichtung des Himmelfahrtsliedes von J. Wegelin, 1636) – und setzt damit das Leitmotiv für die ganze Kantate: Die Himmelfahrt Christi begründet die Hoffnung auf die «Nachfahrt» der Christen, sie gibt die Kraft zur Nachfolge und zur Überwindung von «Zweifel, Angst und Pein» unserer Welterfahrungen. Mit den schwungvollen Horntönen und der auf allen Ebenen nach oben ziehenden Bewegungsrichtung verkörpert der Satz aufgeräumte Festfreude und einladende Beweglichkeit.

2. Rezitativ — Tenor

Ich bin bereit, komm, hole mich!
Hier in der Welt
ist Jammer, Angst und Pein;
hingegen dort in Salems Zelt,
werd ich verkläret sein.
Da seh ich Gott von Angesicht zu Angesicht,
wie mir sein heilig Wort verspricht.

2. Rezitativ

Das Tenorrezitativ wiederholt als verinnerlicht vertontes Bittgebet das Bekenntnis des Chorals – die Bereitschaft, elend-peinvolle Welt zu verlassen, weil in «Salems Zelt» (im himmlischen Jerusalem) Verklärung und unmittelbare Gottesbegegnung versprochen seien.

3. Arie — Bass

Auf, auf, mit hellem Schall
verkündigt überall:
Mein Jesus sitzt zur Rechten!
Wer sucht mich anzufechten?
Ist er von mir genommen,
ich werd einst dahin kommen,
wo mein Erlöser lebt.
Mein Augen werden ihn in größter Klarheit schauen.
O könnt ich im voraus mir eine Hütte bauen!
Wohin? Vergebner Wunsch!
Er wohnet nicht auf Berg und Tal,
sein Allmacht zeigt sich überall,
so schweig, verwegner Mund,
und suche nicht dieselbe zu ergründen!

3. Arie

In der Bassarie wird ein Jubel angestimmt, weil der Gekreuzigte als Erlöser lebt und nun als Erhöhter zur Rechten Gottes sitzt. Denn damit ist alle Anfechtung überwunden, alle Zweifel sind besiegt: «Mein Augen werden ihn in größter Klarheit schauen», Christi Allmacht werde sich überall zeigen. Bach entwirft dafür eine dreiteilige Satzform, die zunächst das Streichertutti mit kraftvollen Trompetenfanfaren und einer durch die stimmlichen Register rauschenden Basskantilene kombiniert. Das grundstürzende Geschehen der Himmelfahrt wird dabei nicht nur klangvoll nachgezeichnet, sondern auch vom Ende her und strikt hierarchisch gedeutet. Jesus «Sitzen» offenbart sich dabei ebenso als ein über den sängerischen Wolken angesiedeltes «Thronen», wie der vor der Wiederkehr des Eingangstuttis eingeschobene Rezitativmittelteil in aller Verzückung davor warnt, Gottes «Allmacht» mit menschlichem Verstand ergründen oder sich gar bereits im Voraus einen Ort im Paradies sichern zu wollen.

4. Arie — Alt, Tenor

Sein Allmacht zu ergründen,
wird sich kein Mensche  nden,
mein Mund verstummt und schweigt.
Ich sehe durch die Sterne,
daß er sich schon von ferne
zur Rechten Gottes zeigt.

4. Arie

Das Alt-Tenor-Duett vertieft die innige, hoffnungsvolle Freude und schwingt sich zum festlichen Bekenntnis auf: Auch wenn die «Allmacht» des erhöhten Christus von Menschen nicht zu ergründen sei, so sehe er doch «durch die Sterne … von ferne», dass sich Christus «zur Rechten Gottes» zeige. Im hier weniger pathetisch als demütig klingenden h-Moll angesiedelt, ist es vor allem die betörende Klangfarbe der solistischen Oboe d’amore, die bereits in den textlich abgedunkelten Eingangsteil jene Zuversicht hineinträgt, die dann im visionären Mittelabschnitt in lichtes D-Dur führt. Indem Bach trotz des manifesten «Ich» der Vorlage eine vokale Duo-Besetzung präferiert, kennzeichnet er den wartenden Umgang mit dem Fernsein des Heilands als kollektive Aufgabe der zurückgelassenen Gemeinde.

5. Choral

Alsdenn so wirst du mich
zu deiner Rechten stellen
und mir als deinem Kind
ein gnädig Urteil fällen,
mich bringen zu der Lust,
wo deine Herrlichkeit
ich werde schauen an
in alle Ewigkeit.

5. Choral

Als krönenden Choral setzt Christiana Mariana von Ziegler an den Schluss die 4. Strophe des Liedes «O Jesu, meine Lust» (M. Avenarius, 1673), die von der gnädigen Rechtfertigung durch Christus und von der Teilhabe der Christen bei der Schau seiner ewigen Herrlichkeit handelt. Zwei obligate Hornstimmen und die besonders eleganten Durchgänge der Sopranstimme verleihen diesem Choralsatz festliche Gestimmtheit.

Reflexion

Michael Köhlmeier

Meine sehr verehrten Damen und Herren

Ich möchte Ihnen von meiner Mutter erzählen. Für meine Mutter waren die Begriffe «Auferstehung» oder «Himmelfahrt» nicht etwas Abstraktes, sondern ein ganz konkreter Lebenstrost. Und wenn ich meine Erzählung beendet habe, dann werden Sie wissen, was ich damit meine.

Meine Mutter hiess Paula. Sie ist aufgewachsen in Coburg im Frankenland, in Deutschland, das ist im Norden von Bayern. Dort hat sie gelebt. Und sie hatte eine beste Freundin, nämlich Marianne. Marianne stammte aus Nürnberg, aber sie war in Coburg in einer Schwesternschule. Und sie war gerne in Coburg, in dieser wunderschönen Stadt ‒ ich weiss nicht, ob Sie Coburg kennen ‒ mit einem mittelalterlichen Kern und gleichzeitig einem englischen Flair, weil die Coburger mit dem englischen Königshaus verwandt sind. Mit einer wunderbaren Veste (Festung), die sich übrigens mit V schreibt, wie ein steinernes Schiff, das auf einem Berg gestrandet ist, mit einem schönen Hofgarten, wo man spazieren kann. Und diese beste Freundin Marianne und meine Mutter, die waren in dieser protestantischen Stadt Coburg katholisch. Meine Mutter hat immer gesagt, sie sei in der katholischen Diaspora aufgewachsen. Und sie waren sehr, sehr lebenslustige Frauen, aber zugleich waren sie sehr gottesfürchtig. Die Lebenslust und Gottesfurcht hat sie verbunden, indem sie bei jeder freien Gelegenheit sich auf die Fahrräder gesetzt haben und von Coburg nach Vierzehnheiligen gefahren sind ‒ in diese wunderbare barocke Kirche. Und dort haben sie dann, nachdem sie zuerst fest gelacht hatten, gebetet. Und sie haben dafür gebetet, dass sie einen guten Mann kriegen, beide, und eine gute Familie gründen können. Das ist ein guter Grund, um zu beten.

Meine Mutter hatte einen Cousin, der hiess Karl. Und meine Mutter dachte, der Karl würde gut zu Marianne passen. Der war ein Stiller, ein sehr Hübscher ‒ ich habe Fotos gesehen von ihm ‒, ein sehr gut aussehender junger Mann, sehr still in sich gekehrt, hat Gedichte geschrieben und hat Rilke geliebt. Meine Mutter hat gedacht, der passe gut zu der bodenständigen Marianne, und sie hat die beiden zusammengeführt und es hat funktioniert, und zwar auf Anhieb. Die beiden haben sich sofort, ich sage jetzt dieses Wort ‒ sollte man nicht so oft verwenden ‒, unsterblich verliebt. Aber sie haben sich un-sterblich verliebt. Sie werden auch im Laufe der Geschichte sehen, dass dieses Wort angebracht ist.
«Reden wir nicht lange herum», haben sie sich gesagt, oder die Marianne hat es gesagt, die war die Bodenständige. «Wir, zuerst wie es sich gehört, wir werden uns verloben, dann werden wir heiraten, dann werden wir eine Familie gründen.» Und zu meiner Mutter hat sie gesagt: «Du wirst auch den Richtigen finden.» Und es waren einige da, die in Frage kämen für meine Mutter. Aber in Frage zu kommen und unsterblich verliebt sein ‒ DEN Abstand möchte man Klavier spielen können. Und deshalb sind sie auch öfter wieder nach Vierzehnheiligen gefahren. Die beiden.

Und dann brach der Krieg aus. Und Karl wurde eingezogen in den Krieg. Jetzt hatten sie noch einen weiteren Grund, zu beten in Vierzehnheiligen. Nämlich, dass er wieder gesund aus dem Krieg zurückkommt und dass Paula auch einen guten Mann trifft.

Und eines Tages spazieren die beiden Frauen, Paula und Marianne, durch den Hofgarten hinauf zur Veste, schieben die Fahrräder, weil das war ihre grösste Lust, mit den Fahrrädern auf dem Weg von der Veste herunterzufahren und nicht zu treten, bis man am Marktplatz angekommen ist. Und wo sie da mit den Fahrrädern spazieren, kommen ihnen zwei Soldaten entgegen. Den einen der beiden kannte meine Mutter, der war auch katholisch, in der Diaspora. Das war relativ übersichtlich in Coburg damals, da hat man sich gekannt. Den anderen kannte sie nicht. Die beiden Soldaten waren sehr fröhlich, sehr höflich und haben gesagt: «Können wir euch behilflich sein? Können wir die Fahrräder schieben?» Und der andere hat sich vorgestellt. Sehr, sehr höflich. Sein Name sei Alois, sagte er, er werde aber Wiese genannt. Er komme aus Westösterreich, aus Vorarlberg, und dort sei Wiese durchaus eine Abkürzung für Alois. Ich kann es gleich sagen: Er wird mein Vater werden. Damals war das so, dass man den Frauen, jungen Frauen, gesagt hat: Wenn ihr Soldaten trefft, gebt ihnen eure Adresse. Damit ihr ihnen Briefe schreibt, an die Front, damit sie nicht so einsam sind. Und sie haben Adressen ausgetauscht. Der Coburger hat der Marianne die Adresse gegeben ‒ war sie nicht sehr interessiert, weil sie hat ja schon einen. Aber der Wiese, der hat die Adresse von der Paula bekommen und die beiden haben sich an die 100 Briefe geschrieben. An die Front und zurück.

Dann haben sie sich ein zweites Mal in Coburg getroffen. Wieder Fronturlaub. Beim ersten Fronturlaub ist mein Vater mit seinem Freund mitgegangen nach Coburg, weil es zu weit gewesen wäre bis nach Vorarlberg. Dann haben sie sich ein drittes Mal getroffen. Jeweils immer nur einen Tag. Und beim vierten Mal haben sie geheiratet. Sie haben sich brieflich verlobt und ich greife vor ‒ diese Ehe war sehr glücklich und sehr respektvoll.
Und dann ist er wieder verschwunden. Und sie hat nicht gewusst, wo er ist, hat keine Briefe mehr bekommen von ihm. Er war weg. Sie konnte sich denken, er sei gefallen, wie übrigens alle, die in Frage kamen ‒ sind alle gefallen … Und sie hat gewartet. Dann kam eine nächste Sorge dazu. Ihr jüngerer Bruder, der Jüngste, war erst 15, wurde ebenfalls in den Krieg eingezogen. Es gab nun etliche Gründe, nach Vierzehnheiligen zu fahren, mit dem Fahrrad, und zu beten. Der Junge, der Gerhard, der kam glücklich aus dem Krieg zurück. Das Einzige, was er erlebt hat, ist, dass seine Brille zerbrochen ist.

Und dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür und er sagt: «Der Karl ist in britischer Gefangenschaft an Typhus gestorben.» Dieser Mann meinte, die Marianne wohne bei meiner Mutter oder halt weil nach Nürnberg konnte er nicht. Nürnberg gab es nicht mehr. Und meine Mutter hat nur gedacht: «Was wird mit der Marianne, wenn sie das erfährt?»

Ein paar Tage später stand Marianne vor der Tür im schwarzen Kleid. Sehr ernst. Und hat zu meiner Mutter gesagt: «Fährst du mit mir nach Nürnberg?» Sie hat eine Möglichkeit mit mehreren Leuten. Es war alles in Auflösung begriffen, die Städte sind bombardiert worden, der Krieg war zu Ende. «Ich möchte meine Eltern suchen.» Und meine Mutter ist mit ihr mit und hat sich gedacht: «Wenn sie nicht anfängt, von Karl zu sprechen, dann habe ich so viel Respekt, dass ich es auch nicht tue. Weil sie wird dann sprechen, wenn sie die Kraft hat, das zu tun. Meine Aufgabe vorläufig ist es, dass ich bei ihr bin.»

Und sie kamen nach Nürnberg und Marianne hat nicht einmal die Strasse gefunden, wo sie aufgewachsen ist. Nürnberg war zu über 90% zerstört. Die alte Burg oben war ein Haufen Schutt. Die ganze Stadt war ein Haufen Schutt. «Adolf-Hitler-Gebirge» haben die Nürnberger ihre Stadt genannt. Irgendwo sind sie untergekrochen für die Nacht. Es war mehr als wahrscheinlich, dass die Eltern von Marianne, ihre Brüder und ihre Grosseltern, die in dem Haus wohnten, dieses Bombardement nicht überlebt hatten. Und in der Nacht sagt Marianne zu meiner Mutter: «Das könnte ich nicht ertragen, wenn ich nicht wüsste, dass ich bald wieder mit dem Karl zusammen bin.» Und meine Mutter hat es so verstanden, dass Marianne, die an ein Jenseits und ein Wiedersehen im Jenseits glaubte, sich etwas antun möchte. Und sie sagt es ihr und die Marianne sagt: «Was redest du? Was soll ich denn mir antun? Karl und ich werden heiraten, wir werden Kinder kriegen und eine Familie.» Und da wusste meine Mutter: Sie weiss es noch nicht. Und sie hat es nicht übers Herz gebracht, in dieser Situation, wo sie dachte, auch ihre Familie lebe nicht mehr, das ihr zu sagen. ‒ Übrigens, ihre Familie hat rechtzeitig Nürnberg verlassen.

Marianne, die ich bis zu ihrem Tod immer Tante Marianne nennen durfte, die eine unglaublich fröhliche Person war. Immer wenn sie uns besucht hat, waren das Tage voll Gelächter. Tante Marianne hat ein Medizinstudium begonnen, hat Medizin studiert, ist in ein Kloster eingetreten und nach Ostafrika gegangen, um dort Leprakranke zu heilen und ihnen zu helfen. Manchmal hat sie uns besucht in Österreich, da hat sie aus Afrika erzählt und hat auch von Karl immer wieder erzählt.

Meine Mutter war am Ende des Krieges in München, hat nichts gehört von ihrem Mann, vom Wiese. Bei München in einem Heim für junge Mädchen, hat sich dort um diese jungen Mädchen gekümmert. Und irgendwann hat sie sich gedacht: «So, ich weiss ja, wo er herkommt. Aus Hard in Vorarlberg.» Da hat sie geschaut auf der Landkarte, letztlich gedacht: «Gut, ein Versuch ist es wert! Ich packe meinen Rucksack, gebe den ‹Faust› hinein.» ‒ Das ganze Leben lang hatte sie das Buch gehabt, aufgequollen war das. Mein Vater und meine Mutter haben sich immer gegenseitig Zitate zugeworfen, er Wilhelm Busch, sie Faust. ‒ Und dann hat sie sich auf den Weg gemacht, zu Fuss von München nach Hard. Sie hat übrigens gerne erzählt aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg. Sie hat sogar einmal gesagt, sie sei in ihrem ganzen Leben nie glücklicher gewesen, als wenn sie auf den Mauerkronen der zerstörten Häuser balanciert habe. ‒ Es war einfach nichts mehr zum Verlieren, es war nur noch zum Gewinnen. ‒ Und sie ist bis nach Hard gegangen, zu Fuss und hat sich gedacht: «Na ja, so gross ist Hard nicht. Ich stelle mich einfach mal beim Dorfbrunnen hin und schau, was passiert.» Und dann hat sie ihn gesehen, wie er daherkommt. ‒ Das war noch eine Zeit, als Deutsche nicht nach Österreich durften, Österreicher nicht nach Deutschland, oder war gerade aufgehoben worden. ‒ Und sie geht zu ihm hin und sagt: «Wiese, kennst du mich noch? Ich bin deine Frau.»

Und dann sind sie zusammengezogen, haben sich Unterkünfte gesucht, Wohnungen gesucht. Zuerst ist meine Schwester auf die Welt gekommen, dann bin ich auf die Welt gekommen. Und dann war sie zum dritten Mal schwanger. Und bei der Geburt hat der Blitz eingeschlagen. Da ist im Kopf meiner Mutter eine Ader geplatzt und sie war linksseitig gelähmt. Und sie, die nichts lieber tat als Fahrrad fahren und spazieren gehen, wandern, konnte das alles nicht mehr. Wenn sie am Sonntag in die Kirche ging mit meinem Vater, konnte sie nicht einmal von der Bank vor zur Kommunion gehen. Da hat sie mein Vater hochgehoben und hat sie nach vorne getragen. Und wieder zurück. Sie hat ein Leben lang sich davon nicht erholt. Sie hat am linken Bein einen Stützapparat gehabt, die linke Hand war verkrallt und später sass sie im Rollstuhl.

Und in Abständen von vier Jahren sind mein Vater und meine Mutter nach Lourdes gefahren. Im Sommer. Ich habe Geburtstag im Oktober. Meine Mutter hat zu mir gesagt: «Pass auf» ‒ jedes Mal – «in drei Wochen kommen wir wieder, dann ist es so Ende Juli. Du musst mir ein bisschen Zeit geben, bis ich mich daran gewöhne, aber im Oktober, an deinem Geburtstag, das verspreche ich dir, da gehen wir beide auf die Hohe Kugel‒» ‒ 1664 Meter über dem Meer. ‒ Und sie kam aus Lourdes zurück. Wir haben gewartet am Fenster und haben gesehen, wie mein Vater meine Mutter aus dem Auto trägt. Da haben wir uns gedacht: «Na ja, gut, so schnell geht es halt nicht.» Aber sie war nicht gesundet, und sie war doch gesund. Weil sie kam zurück als der glücklichste Mensch aus Lourdes, mit einer ganz pragmatischen Einstellung. Sie sagte: «Dort gibt es immer wenigstens einen, dem es noch schlechter geht.» Das ist kein Zynismus. Das ist kein Zynismus. Wenn man da lange drüber nachdenkt, weiss man: das ist kein Zynismus. Mein Vater, auch ein derber Kerl, hat immer gesagt: «Wir fahren in die Republik der Krüppel.» Auch das war kein Zynismus. Das muss man aber verstehen. Wenn man das von aussen so hört, dann versteht man das nicht. Zwei Jahre lang haben die beiden von der Erinnerung an Lourdes gezehrt, und die nächsten zwei Jahre haben sie von der Vorfreude auf Lourdes gezehrt. Sie kamen aus Lourdes zurück, der ganze Kofferraum war voll Lourdes-Wasser. Haben extra Flaschen mitgenommen. Gegen Schluss zu musste man die verdünnen mit Hochquellwasser von der Hohen Kugel. Das geht aber, wenn man es ein bisschen stehen lässt, dann zieht es durch wie ein Sauerteig. Das hat meine Mutter ganz genau gewusst. Und so war ihr Leben. Das klingt jetzt so traurig, aber das ist es nicht. Meine Mutter war überhaupt nicht verbittert. Kein bisschen. Auch mein Vater nicht. Die beiden waren eigentlich vom Naturell her sehr lustige Leute. Meine Mutter, vor allen Dingen, die konnte so laut lachen. Sie konnte auch so laut schimpfen, dass man es drei Häuser weit gehört hat. Aber sie konnte auch so laut lachen, dass man es drei Häuser weit gehört hat, und jeder, der sie lachen hörte, konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Und ähnlich war es, wenn Marianne aus Afrika kam. Dann gab es immer viel zu lachen. Oder ganz besonders, wenn mein Onkel Gerhard kam. Der jüngste Bruder. Der charmanteste Mensch, der mir je begegnet ist. Was wir da gelacht haben. Was wir da gelacht haben! Und immer wenn wir viel gelacht haben, hat meine Mutter dann hinterher geweint. Ich habe sie dann gefragt: «Warum weinst du, nachdem wir so viel gelacht haben?» Und darauf hat sie die einzig gültige Antwort gegeben: «Damit ich mit mir quitt bin.» ‒ Das ist konkrete «Auferstehung» und konkrete «Himmelfahrt». Ich war dabei, als sie die Augen geschlossen hat. Und für sie war es natürlich eine Himmelfahrt. Weil sie immer daran geglaubt hat, dass es drüben besser ist.

Ich danke Ihnen.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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