Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir
BWV 131 // unbekannte Bestimmung
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Oboe, Fagott, Violine, 2 Violen, Basso continuo
Mit dem altliturgischen VI. Busspsalm wandte sich Bach einem der meistvertonten Texte der christlichen Tradition zu. Durch die auf einen Mühlhäuser Pfarrer gemünzte handschriftliche Bemerkung «Auff Begehren Tit: Herrn D: Georg Christ: Eilmars in die Musik gebracht von Joh. Seb. Bach Org. Molhusino» erweist sich BWV 131 als eine der frühesten datierbaren Kompositionen Bachs; eine Beziehung zu dem die Thüringer Reichsstadt verheerenden Stadtbrand von 1707 ist immer vermutet worden.
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Werkeinführung
Reflexion
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann
Viola
Monika Baer, Susanna Hefti
Violoncello
Martin Zeller
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Andreas Helm
Fagott
Susann Landert
Orgel
Rudolf Lutz
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Nitza Katz Bernstein
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
22.03.2013
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textgrundlage
Psalm 130
Textdichter Nr. 2, 4
Bartholomäus Ringwaldt, 1588
Erste Aufführung
1707/08, Mühlhausen
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Bachs Komposition, die aufgrund ihrer auf Psalmwort und Choral gegründeten Texte sowie ihrer freien Reihung ineinander übergehender Abschnitte samt altertümlicher Besetzung mit geteilten Violen mehr einem geistlichen Konzert des 17. Jahrhunderts als einer modernen Kantate italienischen Zuschnitts entspricht, lässt höchstens in der Frische der Erfindung auf die Jugend ihres Schöpfers schliessen, dem es gelang, seine Kenntnis von Vorbildwerken und seine ausgeprägte organistische Erfahrung zu einem meisterlichen Erstling zu verdichten.
Er beginnt mit einem Tuttisatz, dem eine «Sinfonia.Lente» vorgeschaltet ist. Sie setzt im ruhigen Schreiten einen ernsten Tonfall, aus dem Violine und Oboe in ausdrucksstarken Echo-Gesten herausragen. Diesem kompakten Verlauf werden die Singstimmen in einer durchbrochenen Weise eingepasst, die die Tiefe der Verzweiflung eher als Vereinzelung und Verlorenheit denn als bildhaften Abstieg deutet. Mit dem Textglied «Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens» wird ein hastendes Konzertieren eingeleitet, das nach dem schwerblütigen Präludium als komplementäre Fuge mit eindringlicher Deklamation daherkommt. Abgerissene Seufzer und ausgreifende Ostinatoverläufe mit markanten Kadenzen halten sich die Waage, bevor der attacca-Übergang zum Andante eine neue Idee heraufführt. Begleitet von fortlaufenden Continuoachteln, beginnt der Bass ein getragenes Lamento, dem sich die Oboe mit zarter Kantilene und der Sopran mit dem Busslied «Erbarm dich mein in solcher Last» zugesellen. Von einem Dialog zwischen Mensch und Heiland kann angesichts der Tiefe der Schuld aber keine Rede sein. Vielmehr umhüllt der Triosatz den Choral in einer Weise, die das Gebet des Basses mit der archaischen Kraft des Liedes verstärkt. Bach gelingt es dabei, die mit der Psalmzeile «Denn bei dir ist die Vergebung» verbundene inhaltliche Verschiebung in eine kontinuierliche Form zu integrieren – der sensible Einsatz des Chorals erweist zugleich Bachs Innovationsfähigkeit wie sein handwerkliches Genie.
Entsprechend der symmetrischen Gesamtform ist der Mittelsatz wieder als zweiteiliges Tutti-Dictum angelegt. «Ich harre des Herrn» wird als blockhaftes Trutzen mit leidenschaftlichen Einwürfen ausgedeutet, bevor der Übergang von Adagio zu Largo eine dichte Imitation in Gang setzt, die als Mischung aus Fuge und Ciacona erneut von der Orgel inspiriert scheint. Aus einem im Quartraum absteigenden Klagemotiv entfaltet sich ein verschlungener Gesang, der das «Harren» als zähes Dulden und lebenslanges Warten auf Erlösung deutet. Dass Bach die Singstimmen dabei nicht einfach verdoppelt, macht wesentlich die Kunst dieses Satzes aus. Die weich-flexible Instrumentaltextur greift zwar die Seufzertextur der Vokalisten auf, belebt sie jedoch wie ein kühlender Windhauch in der Wüstenhitze des Leidens.
Der vierte Satz kehrt zur reduzierten Anlage des zweiten Werkabschnitts zurück, bringt mit dem wiegenden Pastoralrhythmus jedoch neue Beweglichkeit hinein. Die anschmiegsame Tenorkantilene verwandelt das pflichtbewusste Wachen in ein brünstiges Erwarten, das von einer zweiten Seeleninstanz im Modus des Chorals verstärkt wird. Engbrüstige Ungeduld und Nähe des Heils gehen hier eine geheimnisvolle Verbindung ein; erneut erfolgt in der Satzmitte ein Umschlag, der vom in tiefer Altlage angesetzten Choral mit der Bitte um Reinigung verknüpft wird. Trotz des Rückgriffs auf David und Manasse als die königlichen Büsser des Alten Testamentes erreicht Bach hier eine Individualität und Nähe, die seine Zeitgenossen unmittelbar ansprach und die noch heute unter die Haut geht. Im Vergleich mit der kanonischen Behandlung dieses Liedes im Eingangschor der Kantate BWV 48 lässt sich so erkennen, dass Bach über Jahrzehnte hinweg vom Choral als zweiter Ebene fasziniert war, er die Techniken und Intentionen dieses Kunstgriffs jedoch beständig variierte und weiterentwickelte.
Der Schlusssatz ist als komplexes Gebilde konzipiert, das in geschmeidigem Konzertieren ohne übergreifendes Korsett die jedem Gedanken angemessenen Tempi findet. So folgt auf den mahnenden Zuruf «Israel», in den hier gleichsam das ganze Gottesvolk eingeschlossen ist, das beschleunigt drängende «Hoffe auf den Herren». Dessen «Gnade» wiederum wird in liegenden Harmonien als paradiesischer Zustand der Einheit mit Gott gedeutet, wobei die über dem Streicherteppich ausgespannte Oboenstimme wie die auf alten Gemälden abgebildete Taube des Neuen Bundes zu agieren scheint, bevor die Fülle der «Erlösung» dann als eilende Rettung heranzubrausen scheint. Dieser stark ausdifferenzierte Grossabschnitt erweist sich dann als Exordium einer ausgedehnten Mehrthemenfuge, mit deren virtuoser Zielstrebigkeit sich der Meisterorganist Bach in seiner ganzen Kunst präsentieren mochte – dass von ihr eine nach g-Moll transponierte Fassung für Orgel solo (BWV 131a) vorliegt, passt zu diesem Befund.
War Bach 1707 noch primär auf eine Organistenlaufbahn verpflichtet, so scheint in unserem Psalmkonzert doch schon jener Anspruch auf, den er dann in seinem Abschiedsgesuch an den Mühlhäuser Rat wohl nicht nur als Bemäntelung eines durchsichtigen Karrierestrebens formulierte. Denn womöglich hat gerade sein Streben, künftig eine «regulirte KirchenMusic zu Gottes Ehre» ins Werk zu setzen, auch mit dem glückhaften Schöpferdrang zu tun, der sich in seinen beiden so verschiedenen Mühlhäuser Kantaten BWV 131 und 71 eruptiv Bahn brach.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Die Kantate ist ein Werk des jungen Bach, gemäss seiner autographischen Partiturnotiz in Bachs Mühlhausener Organistenzeit (1707–1708) entstanden. Der Text besteht ausschliesslich aus Bibelwort und Choral. Grundlage ist der 130. Psalm, welchem die Strophen 2 und 5 des Liedes «Herr Jesu Christ, du höchstes Gut» von Bartholomäus Ringwaldt hinzugefügt wurden. Die Kantate dürfte für einen Bussgottesdienst geschrieben worden sein. Da der 130. Psalm für den 11. Sonntag nach Trinitatis als Eingangspsalm vorgesehen ist, entstand die Vermutung, die Kantate könnte auch an diesem Sonntag, dem 4. September 1707 aufgeführt worden sein. Die bildkräftige, jedoch altertümliche Vorlage ohne frei gedichtete Rezitative und Arien inspirierte Bach zu einer unerreicht frischen und lebendigen Musik. Die simultane Verknüpfung von Psalm und Chorallied in den Sätzen 2 und 4 vermag der fünfteiligen Komposition zugleich eine symmetrische Form zu geben. Drei grosse Ensemblesätze werden so durch intensive Dialogabschnitte unterbrochen, wobei Bach den Wechsel des musikalischen Duktus zu Beginn des dritten und fünften Satzes durch gewagte harmonische Rückungen unterstreicht.
1. Sinfonia und Chor
«Aus der Tiefen ruf (rufe) ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme,
laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!»
1. Sinfonia und Chor
Das Vokalquartett singt den Gebetsruf, mit dem der 130. Psalm beginnt: «Aus der Tiefen rufe ich; Herr zu dir. Herr, höre meine Stimme!» In eine vom Kontrast zwischen Oboenkantilene und Streichersatz getragene schwerblütige Sinfonia hinein setzen zögernd die Singstimmen ein, deren Bitte um Hilfe als aus der Tiefe aufsteigendes «Rufen» in Szene gesetzt wird. Im folgenden konzertanten Vivace-Abschnitt entwickelt sich aus drängenden Anrufungen («Herr, erhöre meine Stimme») eine sprechend gehaltene Fuge, die zuletzt in ein seufzendes «Flehen» übergeht.
2. Arie (Bass) und Choral (Sopran)
«So du willt, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?
Erbarm dich mein in solcher Last,
nimm sie aus meinem Herzen,
dieweil du sie gebüßet hast
am Holz mit Todesschmerzen,
Denn bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte.»
auf daß ich nicht mit großem Weh
in meinen Sünden untergeh,
noch ewiglich verzage.
2. Arie und Choral
Der Bass singt den zweiten Vers des Psalms: Beim Gott der Bibel «ist die Vergebung», auf dass man Ehrfurcht vor ihm habe. Dazu erklingt die Liedstrophe von Bartholomäus Ringwaldt, eine Bitte um Erbarmen an Jesus Christus, in dessen Kreuzestod die Vergebung besiegelt ist. Der attacca-Übergang aus dem Eingangschor betont die durchgehende Einheit des Psalmtextes. Über einem unerbittlich laufenden Continuo trägt der Singbass eine von stetig absteigenden und abreissenden Motiven geprägte Klage vor, die von der Oboe tröstlich beantwortet wird. Das dem Sopran übertragene Busslied «Erbarm dich mein in solcher Last» subjektiviert die archaische Welt der Psalmen in berührender Weise.
3. Chor
«Ich harre des Herrn, meine Seele harret,
und ich hoffe auf sein Wort.»
3. Chor
Das Vokalquartett trägt eine weitere Zeile des Psalms vor, ein Bekenntnis des Psalmdichters, der «harrt» auf Gott und sein Wort. Mit dem zweiteiligen Satz hat Bach ein eindringliches Bild des duldenden Harrens und unbändigen Hoffens gezeichnet. Die einem Kyrie ähnliche dreimalige Anrufung «Ich harre des Herrn» schält sich als himmelwärts gerichtete Gebetsgeste aus einem stabilen Klangfeld heraus. Daran schliesst sich eine weiträumige Vokalfuge über ein schmerzlich herabsinkendes Thema an, das zugleich die Dauer des Wartens wie die Intensität des glaubenden Vertrauens darstellt. Oboe und Violine nehmen daran in unabhängiger Weise teil, während die Mittelstimmen den pochenden Satzcharakter stützen und unermüdlich das Trostwort «ich hoffe» in Erinnerung rufen.
4. Arie (Tenor) und Choral (Alt)
«Meine Seele wartet auf den Herrn
Und weil ich denn in meinem Sinn,
wie ich zuvor geklaget,
auch ein betrübter Sünder bin,
den sein Gewissen naget,
von einer Morgenwache bis zu der andern.»
und wollte gern im Blute dein
von Sünden abgewaschen sein
wie David und Manasse.
4. Arie und Choral
Auch der Tenor stimmt in das Bekenntnis des Psalmdichters ein, während der Chor die Bitte des Liederdichters Bartholomäus Ringwaldt vorträgt, welcher um Christi willen «von Sünden abgewaschen sein» möchte, wie es einst den Königen David (2. Samuel 11 und 12) und Manasse (2. Chronik 33) nach ihren Verfehlungen zuteil geworden sei. Der sicilianoartige Satz atmet trotz der d-Moll-Tonalität verhaltene Zuversicht und Geborgenheit. Über dem ruhig schwingenden Fundament drückt der Tenor mit langen Noten und stetigen Wiederholungen die Geduld der wartenden Seele aus. In der vom Stimmcharakter passenden Altlage erklingt dazu das bereits vertraute Choralgebet.
5. Chor
«Israel, hoffe auf den Herrn;
denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.
Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.»
5. Chor
Zum Abschluss der Kantate trägt das Vokalquartett die beiden letzten Verse des Psalms vor. Sie singen von Gott, auf den zu hoffen es sich lohnt, denn bei ihm ist die Gnade und Erlösung in Fülle. Im Wechsel schneller und langsamer Abschnitte werden zunächst nach Art eines älteren geistlichen Konzertes sämtliche Facetten des Textes nachgezeichnet, bevor eine ausgedehnte Fuge mit mehreren charakteristischen und heftig kontrastierenden Themen einen kraftvollen Schluss herbeiführt, der im letzten Moment in ein gesammeltes Adagio mündet. Die bei allem Ernst unverkennbar instrumentale Spielfreude der Fuge spiegelt sich auch in einer erhaltenen Fassung für Orgel solo (BWV 131 a).
Nitza Katz-Bernstein
«Von der Entstehung der arbeitsteiligen Welt»
Kooperation als Ursprung von Sprache, Kultur und Kunst
Ein sprachwissenschaftlicher Blick in den hebräischen Urtext des Psalms 130, welcher der Kantate «Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir» zugrunde liegt, fördert Überraschendes zutage: die Verbindung zwischen Monotheismus und menschlicher Kommunikation.
«Mima’amakim, kera’aticha ja» – wie hört sich der Satz an? Das ist das Original des ersten Satzes des Hebräischen Textes von Psalm 130, der Johann Sebastian Bachs Kantate den Titel gegeben hat: «Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir». Diesen Text kenne ich seit Kindertagen. Ich habe ihn gesprochen, gebetet und gesungen.
Aufgrund meines Berufes – Kinderpsychotherapeutin und Logopädin – interessiere ich mich seit Jahrzehnten für die Entstehung von Kognition und Sprache. Ich möchte Sie deshalb auf zwei professionelle Spaziergänge mit dem Satz «Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir» mitnehmen.
Der eine wird phonetisch sein und sich mit der Aussprache dieses Satzes befassen, der andere mit der Semantik, das heisst mit seiner Bedeutung.
Aussprache und Bedeutung in analoger Beziehung
Zunächst zum Phonetischen: Wenn man diese drei althebräischen Worte mit semitischer Aussprache ausspricht, so wird der Satz kehliger: «Mima’amakim, kra’aticha Jah… .» Man weiss, dass die Aussprache und Wortbedeutung in dieser alten Sprache noch in einer analogen Beziehung zueinander standen. Der Laut Mi vor ein Wort gesetzt bedeutet: aus…, die Hinwendung, die Bewegung von – nach, von einem Standort hin vorwärts, nach Aussen – eine willentlich verschlossene Körperöffnung wird mit mmm…, verbunden mit dem engen Vokal iii…, kommuniziert; die Tiefe tönt, wird hörbar.
Das Wort Ma’amakim kommt aus dem Wortstamm Amok, der Tiefe bedeutet. Emek heisst Tal: Emek- Jisreel, Emek Bet-Shean, usw. Ma’amakin ist eine Mehrzahl der tiefsten der Tiefen. Wenn man sich nun die Artikulationsstellen anschaut, so sind das die tiefsten, die im Mundbereich aussprechbar sind. Man hat das Gefühl, sich die Laute körperlich aus der tiefen Kehle holen zu müssen.
Das Wort kera’aticha heisst «rufe ich dich». Kara- heisst rufen, ati- ist die Hinzufügung, welche die Bewegung von mir hinaus aufzeigt, «Karati»- heisst demnach: ich habe gerufen. Der Laut -cha, ist die Hinzufügung die «dir», «zu dir», «dich» aufzeigt. Mit einem deklinierten Wort wird das Rufen, eine Bewegung, eine stimmliche Hinwendung zu einem Adressaten, aufgezeigt und damit, rein von der Aussprache dieses Wortes her, dennoch eigentlich knapp, die ganze Bedeutung des jemandem anrufen, zurufen, stimmlich um Aufmerksamkeit bitten, mit einer gewissen Wucht, dargestellt. Das K, am Anfang des Wortes kommt aus der Tiefe, das rollende rrra rollt buchstäblich nach Aussen… . Das ist wiederum mit der körperlichen Funktion eng verbunden. Alles gipfelt in dem knappsten, offensten Konsonant und Vokal, JAaa – dem Namen Gottes. Alles ist offen, nichts steht dazwischen, kein Sprechwerkzeug steht als Verschluss dazwischen, kein Laut; die Luft strömt nach Aussen und entfaltet sich in der Weite, im Ungewissen. Das ist einer der heiligsten überlieferten Namen Gottes.
Die Fähigkeit zu kommunizieren – Voraussetzungen und Konsequenzen
Kommen wir nun zur Semantik. Der amerikanische Sprachforscher und Anthropologe Michael Tomasello, der an der Universität Leipzig das Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrum leitet, und die Ursprünge der Kommunikation und Kognition von Primaten und Menschen erforscht und vergleicht, stellt fest: «Alle Laute waren einmal symbolische Gesten, um anderen Menschen eine Intention zu kommunizieren». Tomasello geht dem sozialen Erfolgsrezept der Menschen auf den Grund: es hängt damit zusammen, dass wir gelernt haben zu kooperieren und dazu die Kommunikation unerlässlich geworden ist. Die Voraussetzung für ein erfolgreiches Gestalten des Zusammenlebens ist, gegenseitige Absichten, also persönliche Sichtweisen, eigenen Skills und Kompetenzen, in Raum und Zeit abzustimmen. Handlungen und Ereignisse, aber auch soziale Erfahrungen, können je nachdem nachgestellt oder mental vorweggenommen werden, sie können symbolisch dargestellt werden und werden kommunizierbar. Dadurch entstehen «Zeitreisen», in die Vergangenheit oder in die von den Beteiligten erwünschte Gestaltung der Zukunft. Der «Klebstoff», so Tomasello, seien die Emotionen, die Verbindlichkeiten auf längere Zeiten zugesichert haben. Dadurch konnten die Kooperationen immer komplexer, professionell erlernt, optimiert und kommuniziert werden. Stellen Sie sich die vielen Abstimmungen über unterschiedliche musikalische Kompetenzen und Skills vor, deren es bedarf, um eine solch’ wunderbare Bach-Kantate, wie wir sie heute Abend gehört haben und weiter hören werden, auf eine Art zu spielen, die ansprechend ist und die feinsten Qualitäten des Psalms sowie die entsprechenden Interpretationen der dabei entstehenden Emotionen und Regungen transportieren kann … In der Kommunikationsfähigkeit des Menschen liegt nicht zuletzt unsere arbeitsteilige Welt begründet, in der jeder Mensch seinen Teil zu einem Ganzen beiträgt.
Die Tiefe, das erste Wort in «Mima’amakim, kera’aticha ja»… ist die basale Stufe. Sie ist körperverhaftet, und die Sinne sind beteiligt. Das ist unsere ureigene Grundlage – das, was uns mit Tieren und allem Lebendigen verbindet. Das Rufen, das zweite Wort, ist bereits die Geste, die eine Mitteilung von Intention darstellt: «Schau’ hin, ich will dir was zeigen, dich dazu bringen, etwas zu tun, zu kommen, zu bringen, zu warnen, zu fühlen, zu verstehen, nachzuvollziehen… .» Die Rede ist hier von der Fähigkeit des Menschen zu kommunizieren.
Die «Vogelperspektive zur eigenen Existenz»
Sich Gott und dem Göttlichen zu zuwenden bedarf einer «Vogelperspektive zur eigenen Existenz», wie es Tomasello nennt. Gott ist immer oben, das heisst der Mensch ruft ihn «aus der Tiefen» an, von der in der Kantate gesprochen wird. Gemeint ist hier nichts anderes als der kognitive Sprung in der Menschheitsgeschichte, nämlich die Vorstellung von Gott, und – damit verbunden – die Vorstellung von einem grösserem Sinn und Zusammenhalt der Welt. Der Monotheismus scheint hier, in der offenen Darstellung einer Gott-Gestalt, ja auch und vor allem durch das Verbot seiner endgültigen Darstellung, zu einer Stufe optionalen, abstrakten Denkens über Sinn und Zweck der eigenen Existenz aufzurufen. Einher geht dies mit dem Verzicht der Notwendigkeit seiner Vermittlung, etwa in der symbolischen Konkretisierung in Form einer geheiligten Menschen- oder Tiergestalt. Gott ist vielmehr eine mentale Operation, die flexibel genug ist für individuelle Interpretationen. Individualität, genauer: Arbeitsteilung konnte nur deshalb zu einem Gebot werden, weil Gott «abstrakt» ist. In den polytheistischen und animistischen Religionen war und ist das nicht der Fall. Sie verlangen, um Götter und Geister darzustellen, deren körperliche Vergegenwärtigung. Gerade diese Verbildlichung aber schliesst individuelle Deutungsmuster, persönliche Sichtweisen und damit schliesslich auch die daraus entstehende Arbeitsteilung aus. Alles steht und fällt mit dem Abstraktionsgrad der Sprache. Das deckt sich nun mit den neuesten Theorien zur Kognitions- und Sprachentwicklung. Auch die Kunst und die Musik sind als Variationen von abstrakter Sprache zu verstehen, hinter der sich weitere Dimensionen der Verständigung und Kommunikation verbergen. Die Musik, vertonte Psalmen zum Beispiel, ermöglicht es uns, eine äusserst individuelle Interpretation, eine ganz persönliche Semantik, hervortreten zu lassen.
Wer – wie ich – sich für die Entstehung der Kommunikation und Sprache interessiert und ein Leben lang mit jungen Menschen gearbeitet hat, die gerade auf diesem Gebiet unter Beeinträchtigungen leiden, versteht immer mehr und deutlicher, welche sozial-kulturelle Errungenschaft wir besitzen: die Fähigkeit, Gedanken, Regungen, Entzücken und Entsetzen, Weinen und Lachen, Liebe und Hass, mit anderen Menschen zu teilen, indem man sie auf unsere mentalen Reisen mitnimmt und ihnen unser Innerstes offenbart. Denn darum geht es mir seit 50 Jahren: junge Menschen dazu zu befähigen, diesen kulturellen Schatz, so weit wie ihnen nur möglich ist, zu nutzen, zu lieben und zu würdigen.