Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß
BWV 134 // zum 3. Ostertag
für Alt und Tenor, Vokalensemble, Oboe I+II, Streicher und Basso continuo
Mit Bachs Köthener Hofdienstzeit ist die Osterkantate «Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß» verbunden, die eine 1724 und nochmals 1731 in Leipzig aufgeführte und um zwei Sätze gekürzte Neubearbeitung der 1719 vorgestellten Gratulations-Serenata «Die Zeit, die Tag und Jahre macht» (BWV 134a) darstellt. Was in Christian Friedrich Hunolds «Glückwunsch zum neuen Jahr an das Durchlauchtigste Haus von Anhalt-Cöthen» noch als Dialog von «Zeit» und «Göttlicher Vorsehung» figurierte, wird in der Leipziger Neufassung zum von Alt und Tenor vorgetragenen Lobpreis des Auferstehungsgeschehens samt seiner Verheissung für Kirche und Gemeinde. Wie für höfische Serenaden typisch, läuft alles auf einen rauschenden Schlusschor zu, der «Himmel» und «Erde» jauchzend zusammenführt.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Lia Andres, Susanne Seitter, Maria Deger, Jessica Jans, Noëmi Tran-Rediger, Stephanie Pfeffer
Alt
Tobias Knaus, Antonia Frey, Alexandra Rawohl, Francisca Näf, Anne Bierwirth
Tenor
Clemens Flämig, Nicolas Savoy, Zacharie Fogal, Rodrigo Carreto
Bass
Daniel Pérez, Serafin Heusser, Jean-Christophe Groffe, Grégoire May, Retus Pfister
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Patricia Do, Salome Zimmermann, Monika Baer, Elisabeth Kohler, Sólveig Steinþórsdóttir
Viola
Susanna Hefti, Claire Foltzer, Matthias Jäggi
Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Philipp Wagner, Laura Alvarado
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Georg Kreis
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
21.04.2023
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
11. April, 1724 – Leipzig
Textdichter
unbekannt
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Rezitativ: Dialog — Alt und Tenor
Tenor
Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß, empfindet Jesu neue Güte
und dichtet nur auf seines Heilands Preis.
Alt
Wie freuet sich ein gläubiges Gemüte.
1. Rezitativ
In Hunolds «Glückwunsch» für das Fürstenhaus von Anhalt-Cöthen hiess es 1719 noch: «Die Zeit, die Tag und Jahre macht, / Hat Anhalt manche Segensstunden / Und itzo gleich ein neues Heil gebracht.» Neugetextet liest sich so: «Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß… dichtet nur auf seines Heilands Preis» – der unbekannte Librettist hat aus dem Fürstenlob einen auf die Musik abgestimmten Ostertext geschrieben, der das Thema der Freude ins Zentrum stellt.
2. Arie — Tenor
Auf! Gläubige, singet die lieblichen Lieder,
euch scheinet ein herrlich verneuetes Licht.
Der lebende Heiland gibt selige Zeiten,
auf! Seelen, ihr müsset ein Opfer bereiten,
bezahlet dem Höchsten mit Danken die Pflicht.
2. Arie
Die Neujahrswünsche sind jetzt zu einem Aufruf umgedichtet, das österlich «verneuete Licht» mit Liedern zu feiern, ein Dankesopfer für kommende Seligkeiten. Entsprechend mobilisiert die im beschwingten 3∕8-Takt angesiedelte Musik fanfarenartig aufsteigende Oktavbrechungen, strahlengleiche Figuren («scheinen») und energische Ruf-Wiederholungen («Auf, auf!»), die auch den zurückgenommenen Mittelteil durchziehen. Dem zwischen auftrumpfender Kraft und sängerischer «Lieblichkeit» changierenden Affektcharakter der Solopartie steht die kompakte Klangfülle des B-Dur-Orchestersatzes zur Seite.
3. Rezitativ: Dialog — Alt und Tenor
Tenor
Wohl dir, Gott hat an dich gedacht,
o Gott geweihtes Eigentum;
der Heiland lebt und siegt mit Macht
zu deinem Heil, zu seinem Ruhm
muß hier der Satan furchtsam zittern
und sich die Hölle selbst erschüttern.
Es stirbt der Heiland dir zu gut
und fähret vor dich zu der Höllen,
sogar vergießet er sein kostbar Blut,
daß du in seinem Blute siegst,
denn dieses kann die Feinde fällen,
und wenn der Streit dir an die Seele dringt,
daß du alsdann nicht überwunden liegst.
Alt
Der Liebe Kraft ist vor mich ein Panier
zum Heldenmut, zur Stärke in dem Streiten.
Mir Siegeskronen zu bereiten,
nahmst du die Dornenkrone dir,
mein Herr, mein Gott, mein auferstandnes Heil,
so hat kein Feind an mir zum Schaden teil.
Tenor
Die Feinde zwar sind nicht zu zählen.
Alt
Gott schützt die ihm getreuen Seelen.
Tenor
Der letzte Feind ist Grab und Tod.
Alt
Gott macht auch den zum Ende unsrer Not
3. Rezitativ
In diesem Duett wird der Glückwunsch auf die gläubige Seele übertragen, denn Ostern heisst neues Leben, heisst Gottes Sieg über die Mächte des Todes, ein Sieg Christi, der auch für angefochtene Seelen gilt. Die Altstimme ergänzt, die Kraft der Liebe sei eine Ermutigung, eine Stärkung im Lebenskampf. Christus wird direkt angesprochen, die Gewissheit formuliert: «Gott schützt die ihm getreuen Seelen», der Tod als letzter Feind sei überwunden. Die wechselnde Rezitation beider Singstimmen geht am Satzende in ein direktes Dialogisieren über, das das folgende Duett geschickt vorbereitet.
4. Arie — Duett: Alt und Tenor
Wir danken und preisen dein brünstiges Lieben
und bringen ein Opfer der Lippen vor dich.
Der Sieger erwecket die freudigen Lieder,
der Heiland erscheinet und tröstet uns wieder
und stärket die streitende Kirche durch sich.
4. Arie
Das Alt/Tenor-Duett nimmt die mit dem Fest verbundene Thematik der Liebe Gottes auf – man spürt, dass das rhythmische Korsett des Vorgängertextes den Librettisten mitunter in Verlegenheit bringt. Aus dem luftigen Streichersatz schälen sich die Violine I mit aufsteigenden Figurationen sowie die meisterlich konsonant geführten Singstimmen heraus. Mit dem Vorziehen des Vokaleinsatzes im Dacapo hat Bach die fürstliche Länge der Köthener Vorlage unauffällig gemildert.
5. Rezitativ: Dialog — Alt und Tenor
Tenor
Doch würke selbst den Dank in unserm Munde,
indem er allzu irdisch ist;
ja, schaffe, daß zu keiner Stunde
dich und dein Werk kein menschlich Herz vergißt;
ja, laß in dir das Labsal unsrer Brust
und aller Herzen Trost und Lust,
die unter deiner Gnade trauen,
vollkommen und unendlich sein.
Es schließe deine Hand uns ein,
daß wir die Wirkung kräftig schauen,
was uns dein Tod und Sieg erwirbt,
und daß man nun nach deinem Auferstehen
nicht stirbt, wenn man gleich zeitlich stirbt,
und wir dadurch zu deiner Herrlichkeit eingehen.
Alt
Was in uns ist, erhebt dich, großer Gott,
und preiset deine Huld und Treu;
dein Auferstehen macht sie wieder neu,
dein großer Sieg macht uns von Feinden los
und bringet uns zum Leben;
drum sei dir Preis und Dank gegeben.
5. Rezitativ
In der Parodievorlage singt «die Zeit» noch, sie habe «den teuren Leopold» dem Fürstentum zu «Heil» und «Ruhm» gebracht, worauf «die Ewigkeit» antwortet: «Des Höchsten Lob ist den Magneten gleich / Von oben her mehr Heil an sich zu ziehen. / So müssen weise Fürsten blühen / So wird ein Land an Segen reich.» Österlich adaptiert wird dieses Rezitativ zu einem dialogischen Dankgebet, in dem das Panier der Liebe nochmals genannt wird, der Kerngedanke nun nicht mehr auf den «teuren Leolold», sondern klar auf Christus weist, der die Dornenkrone nahm, um den Gläubigen die «Siegeskronen zu bereiten».
6. Chor
Erschallet, ihr Himmel, erfreue dich, Erde,
lobsinge dem Höchsten, du glaubende Schar.
Es schauet und schmecket ein jedes Gemüte
des lebenden Heilands unendliche Güte,
er tröstet und stellet als Sieger sich dar.
6. Chor
Der Schlusschor ist eine Art neugedichteter Psalm, in dem Himmel und Erde zur Freudenmusik aufgerufen werden und die «glaubende Schar» zum Lobgesang ob der «unendlichen Güte» des lebenden Heilands. Wie in der höfischen Vorlage wird der solistische Zwiegesang zur vierstimmigen Tutti-Akklamation aufgefüllt. Tänzerischer Dreiertakt und motorische Energie verbinden sich zu einem auch die gottesdienstliche Hörergemeinde anspornenden Lobpreis.
Georg Kreis
«Streitende Kirche»
Intermezzo zur Aufführung der Kantate BWV 134 in der Kirche Trogen, 21. April 2023
Die Kantate bietet, was Kantaten eben tun: Sie kombiniert eine musikalische und eine verbale Komposition. Text und Ton bilden eine Einheit. Dennoch dürfte der musikalische Teil uns eher erreichen. Nicht einfach ist es, den von Rudolf Lutz treffend als gedrechselt bezeichneten Text zu erfassen, auch wenn er im Programmheft vorliegt und in der Einführung akribisch analysiert wurde. Obwohl vieles metaphorisch gemeint ist, liegt dem Text in barocker Manier ein martialisches Verständnis zugrunde: Feinde werden bekämpft, Opfer müssen erbracht werden, Leben steht auf dem Spiel, aber es stehen auch Auferstehung und Sieg in Aussicht. Und mittendrin ist von der streitenden Kirche die Rede. Daran will ich meine weiteren Überlegungen anknüpfen.
Statt von streitender Kirche würde man heutzutage eher von engagierter oder bekennender Kirche sprechen und damit eine gegen aussen, zur ausserkirchlichen Gesellschaft gerichtete Haltung meinen, obwohl es durchaus auch Streit im inneren der Kirche geben kann. Aus einer äusserst friedlich eingestellten Haltung wird Streit negativ bewertet. Streit kann schlecht sein und sollte darum vermieden werden, Streit kann gut sein und sollte darum geführt werden, Streit ist ambivalent. Es kommt aber darauf an, worüber und wie gestritten wird. Es gibt Anliegen, die ein streitvolles Einstehen gestatten, ja erfordern. Das meinen und sagen vor allem diejenigen, die solches für sich in Anspruch nehmen und auch tun.
Dabei mag es sich einzig um einen Streit mit Worten handeln. Dieser kann sich, sofern er sich nicht einfach in Beschimpfungen ergeht, darauf berufen, dass sich im Streit zeigt, wer die besseren Argumente hat. Unser Ausgangstext will aber mehr als ein Streit mit Worten, er erwartet ein ganzes Handeln, einen existenziellen Einsatz, eine umfassende Kampfbereitschaft, die so fundamental ist, dass – wie bei Kreuzzügen – nicht zwischen Verteidigung und Angriff unterschieden werden kann. Je höher der Streitgegenstand eingestuft ist, desto gerechtfertigter erscheint der Streit und die Heftigkeit des Einsatzes.
Kampfbereitschaft wofür? Die Beantwortung dieser Frage muss dem Umstand Rechnung tragen, dass es um die Streitbarkeit der Kirche oder, wie präzisiert werden muss, der Kirchen geht. Wofür darf sie sich zuständig und allenfalls sogar verpflichtet verstehen? Diese Frage ist jüngst wieder angesichts der Konzernverantwortungsinitiative diskutiert worden. Da gab es nicht wenige, die nicht nur privat, sondern als Kirchgemeindeangehörige diesen politischen Vorstoss unterstützen wollten, weil dieser verhindern will, (Z) «dass weiterhin Menschen misshandelt und Gottes Schöpfung ausgebeutet wird».[1]
Gegen ein solches Engagement wurde von anderer Seite aber – ebenfalls streitend – vorgebracht, man müsse sich auf übergeordnete, den Glauben «direkt» betreffende Werte beschränken, in tagespolitischen Fragen keinen Aktivismus betreiben, der die Kirche nur spalte und die Gegner der Vorlage sowie die Gegner des kirchlichen Engagements in dieser Sache als unchristliche herabsetze.
Zur Streitbarkeit der Kirche und der Religionen hat der grosse Dichter Gotthold Ephraim Lessing in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei Parabeln entworfen (1778/79). In der bekannteren, der Ringparabel, postuliert er die grundsätzliche Egalität der drei monotheistischen Religionen, in historischer Reihenfolge: Judentum, Christentum und Islam. Er fordert aber die Angehörigen dieser Glaubensvarianten dazu auf, mit ihrem konkreten Verhalten zu zeigen, dass sie die «richtige» Religion vertreten. In der weniger bekannten Palastparabel wird vom Palast gesagt, dass er von «unermesslichem Umfang», aber von «strittiger» (!) Architektur sei, darum von aussen ein wenig unverständlich, im Innern aber voll Licht und Zusammenhang. Eine Fassade mit Türen und Toren «von mancherlei Form und Grösse». Weiter wörtlich: «Man begriff nicht, wozu so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein grosses Portal auf jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde.»
Und nochmals wörtlich, weil für die Parabel zentral: «Und so entstand unter den vermeintlichen Kennern mancherlei Streit (!), den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die wenigste Gelegenheit gehabt hatten.» Man glaubte, diesen Streit (!) schnell beilegen zu können, weil man meinte, sich auf alte Grundrisse der ersten Palastbaumeister berufen zu können.
«Einstmals», so will es die Erzählung des Lehrstücks, wurde um Mitternacht Feueralarm ausgelöst. Da griffen alle vermeintlichen Kenner nach ihren Grundrissen, die ihnen wichtiger waren als der Palast selber, und stritten untereinander mit Blick auf ihre Pläne um die Frage, an welcher Stelle das Feuer ausgebrochen sei. Glücklicherweise handelte es sich aber um einen Fehlalarm. Die Wächter hatten, wie es heisst, ein Nordlicht für eine Feuersbrunst gehalten. Lessing: «Über diese geschäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er gebrannt hätte.»
Lessing ruft dazu auf, sich auf das Innere des Palasts zu konzentrieren und sich damit abzufinden, dass es verschiedene Zugänge gebe. Was aber das Wesentliche ist, bleibt in der Parabel offen, weil nicht leichthin oder vielleicht auch gar nicht bestimmbar. Verschiedene Eingänge: Das ist ein Bekenntnis zum Pluralismus (avant la lettre). Dieser ist, nach heutigen Einsichten, eine notwendige Voraussetzung für kreative Produktivität. Was sich als gut und weniger gut erweist, ist allerdings eine Frage des Masses. So positiv und produktiv Pluralismus ist, kann er auch krass konfliktbeladen sein, wenn die diversen Überzeugungen verabsolutiert werden. Weil Gläubigkeit dazu tendiert, die eigene Überzeugung als die einzig richtige zu verstehen, produziert das Streben nach Wahrheit paradoxerweise eine vielfältige Realität.
Lessings Palastparabel entstand im Streit (!) mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, dem damals bedeutendsten Vertreter lutherischer Orthodoxie, Wächter der «reinen Lehre» gegen liberale Religionsverständnisse. In diesem Streit ging es um das richtige Verständnis des gemeinsamen Christentums, zu dem verschiedene Auffassungen bestanden. Mittlerweile müssen wir die Problematik breiter denken. Heute sind wir mehr denn je herausgefordert, uns mit den verschiedensten Überzeugungssystemen nicht nur religiöser, sondern auch säkularer Art auseinanderzusetzen. Dabei sollten wir eigene Standpunkte, sofern vorhanden, nicht einfach aufgeben, wir sollten uns aber respektvoll auch mit anderen Positionen auseinandersetzen und dabei im Geiste der ökumenischen, weltweiten Zusammenarbeit das gemeinsame Wohl im Auge behalten – und an seiner Förderung konstruktiv mitarbeiten.
[1] https://www.sachdokumentation.ch/bestand/ds/2680 – https://journal-b.ch/artikel/konzernverantwortung-und-die-kirchen/