Herz und Mund und Tat und Leben
BWV 147 // zu Mariae Heimsuchung
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Tromba, Oboe I+II, Oboe d’amore, Oboe da caccia I+II, Streicher und Basso Continuo
Der Text geht auf eine für den 4. Advent bestimmte Weimarer Kantate von Salomon Franck zurück. Sie umfasste nur die Nummern 1, 3, 5, 7 und 9 und einen anderen Schlusschoral. Da in Leipzig zwischen dem 1. Advent und dem Weihnachtstag keine Kantaten aufgeführt wurden, konnte sie dort nicht mehr verwendet werden. Mit eingefügten Rezitativen und durch Umdichtung des Chorals gab ihr ein unbekannter Dichter die neue Bestimmung für das Fest Mariae Heimsuchung am 2. Juli 1723. Gemeint ist Marias Besuch bei Elisabeth und ihr Lobgesang (Magnificat) gemäss der Evangelienlesung, Lukas 1, 39–56. Die Hinzufügung von Rezitativen und die Verwandlung in eine zweiteilige Predigtkantate zeigt das gegenüber den Weimarer Bedingungen stark veränderte Anforderungsprofil von Bachs Leipziger Kirchenwerken. Die durchkomponierten oder mit stark variierten Wiederholungen versehenen Arien verraten mit ihren zarten und solistischen Klangfarben hingegen die Herkunft aus Bachs intimerer Weimarer Hofkirchenmusik.
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Werkeinführung
Reflexion
Bonusmaterial
Chor
Sopran
Susanne Seitter, Olivia Fündeling, Mirjam Berli, Noëmi Tran-Rediger, Lia Andres, Gunta Smirnova
Alt/Altus
Jan Börner, Misa Lamdark, Liliana Lafranchi, Francisca Näf, Damaris Rickhaus
Tenor
Marcel Fässler, Walter Siegel, Nicolas Savoy, Tobias Mäthger
Bass
Fabrice Hayoz, Philippe Rayot, Tobias Wicky, Valentin Parli, Daniel Pérez
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Yuko Ishikawa, Eva Saladin, Olivia Schenkel, Anita Zeller
Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann
Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe
Kerstin Kramp, Andreas Helm
Oboe d’amore
Kerstin Kramp
Fagott
Susann Landert
Trompete/Tromba
Patrick Henrichs
Orgel
Nicola Cumer
Cembalo
Thomas Leininger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Judith Wipfler
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
18.12.2015
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter Nr. 1, 3, 5, 7
Salomo Franck
Textdichter Nr. 6, 10
Martin Jahn, 1661
Textdichter Nr. 2, 4, 8, 9
unbekannter Verfasser
Erste Aufführung
Fest Mariae Heimsuchung,
2. Juli 1723
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die zum 4. Advent 1716 konzipierte Kantate «Herz und Mund und Tat und Leben» war Bachs letzte in Weimar fertiggestellte Kirchenkomposition. Da in Leipzig aufgrund der strengeren Fastenbestimmungen zwischen 1. Advent und Weihnachtsmorgen keine Figuralmusik dargeboten wurde, widmete Bach sie für das Fest Mariä Heimsuchung um und führte sie so in erweiterter Form am 2. Juli 1723 erstmals auf. Nun erst kam jener berühmte Choral hinzu, der vor allem in seiner englischen Version «Jesu, Joy of Man‘s Desiring » zu Bachs meistarrangierten Kompositionen gehört.
Fanfarenklänge setzen den Eingangschor in Gang, der festliche Vorfreude ausstrahlt. Auch die imitierende Einsatzfolge der Singstimmen wird in konzertante Effekte aufgebrochen, ein nachdenklicher Einschub («ohne Furcht und Heuchelei») rasch in den energischen Schwung integriert. Eine zweite harmonisch aufgeladene Durchführung dieser Warnworte geht in eine lehrbuchreife Fugenexposition über, die den Satz einem strahlenden Schluss entgegenführt. Was wie eine Dacapo- Rahmenanlage wirkt, ist tatsächlich eine beweglich gehandhabte Rondokomposition in jugendfrischer Verknüpfung von Trompetenkonzert, Vokalfuge und Chorarie. Das Tenorrezitativ macht im schimmernden Streichersatz deutlich, worauf sich das «Zeugnis- Geben» des Eingangschores bezog: Marias im Gesang des Magnificat Gestalt gewordener Lobpreis, der als befreiendes Vorbild angesprochen und dem verstockten Schweigen aller Glaubensschwachen gegenübergestellt wird. Im Licht der marianischen Ergebung erscheint solche Zurückhaltung als sündliches Unterlassen, das ein «allzu scharfes Urteil » nach sich ziehen werde – was jene Endzeiterwartung anspricht, die dem Advent in seinem ursprünglichen Verständnis eigen war. Während sich passend dazu die Orchesterbegleitung dramatisiert, bekommt der lastende Orgelpunkt des Continuoschlusses drohenden Charakter.
Die folgende Altarie kommt dennoch im Ton einladender Erinnerung daher: «Schäme dich, oh Seele, nicht, deinen Heiland zu bekennen.» Während das weiche a-Moll den passenden tonalen Rahmen setzt, verleiht die Oboe d’amore diesem Zuspruch ihre sonore Stimme. So dezent formuliert, gerät selbst die Drohung einer Verleugnung durch Christus im Gericht zur freundlichen Mahnung mit lang aufgeschobener Zahlungsfrist…
Dann aber werden andere Saiten aufgezogen – mit einer Paraphrase des Magnificat- Verses «Deposuit potentes» erinnert das Bassrezitativ daran, dass Gott auch die Gewaltigen unter seinen Verächtern vom Stuhl stossen wird, während er die Elenden mit starkem Arm erhebt. In einer ariosen Passage wird dies zum Anlass genommen, sich rückhaltlos dem nahenden Heiland zuzuwenden – eine Vision des Übergangs, die von den Zweiachtelbildungen des Continuo gestützt wird.
Damit ist Bachs musikalischer Zauberkasten noch nicht erschöpft – über ostinatoähnlichen Basstupfern entfaltet die Violine in der Sopranarie eine träumerische Kantilene arbeitsamer Triolen, die der Singstimme so die Bahn bereitet, wie deren Textvorlage es für die Begegnung von Heiland und gläubiger Seele erhofft. Grosser Auftritt und schlichteste Demut begegnen sich in dieser anrührenden Miniatur; es entsteht ein Marienbild verzückter Entrückung, das in seiner an Händel erinnernden Präsenz und Luftigkeit keinen Zuhörer unbeteiligt lässt.
Hier nun schliesst das gelöste Schwingen des G-Dur-Chorals über einen sonst wenig bekannten Text Martin Jahns (1661) an. Wie ein «Reigen seliger Geister» lange vor Glucks Balletteinlage scheint hier jede Erdenschwere verschwunden, bekommen wir einen Eindruck davon, wie es wäre, einander ohne alle Entstellungen und Ängste in freundlichem Licht zu begegnen. Instrumentalstimmen und Vokalchor verschmelzen dabei in einer Bewegung, die natürlicher nicht sein könnte.
Nach der Predigt folgt eine Tenorarie, die ganz von der Devise «Hilf, Jesu hilf!» geprägt ist – jenem kürzesten aller Gebete, mit dem nicht zuletzt Bach seine Kantatenpartituren überschrieb (Jesu Juva), ehe er mit der Kompositionsarbeit begann. Das kernige Kopfmotiv des in eine Instrumentallinie sowie muntere Tastentriolen aufgespaltenen Continuo setzt dabei unangestrengt elegante Koloraturen frei.
Das Altrezitativ preist jene im Verborgenen wirkende Allmacht, die selbst den ungeborenen Johannes zum Glaubenszeugnis anregte. Textlich wird so die mit der Begegnung von Maria und Elisabeth verbundene Neubestimmung der Kantate hervorgehoben; musikalisch macht das weihnachtlich anmutende Säuseln zweier Oboen da caccia das Magnificat als aus dem Herzen strömende und bis zum heutigen Tag inspirierende Prophetie erlebbar.
Erneut kommt die Tromba ins Spiel, die mit sieghaftem Impetus dem sporenklirrenden Orchester sowie den tänzelnden Continuoschwadronen gegenübertritt. Dazu passt die heroische Basspartie dieser trutzig verkündigenden Arie; wie sich der insgesamt knappe Satz gegen Ende verdichtet, ist von grosser deklamatorischer Meisterschaft. Darauf antwortet der Choral mit einer ebenso gelösten wie innigen Bekräftigung – selten wohl hat man eine Wiederholung so herbeigesehnt wie in dieser Kantate, deren reiche Einfassung diesen wunderbaren Satz erst zu rechter Wirkung bringt.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Erster Teil
1. Chor
Herz und Mund und Tat und Leben
muß von Christo Zeugnis geben
ohne Furcht und Heuchelei,
daß er Gott und Heiland sei.
Erster Teil
1. Chor
Der Eingangschor führt ins Thema ein: Das furchtlose und ehrliche Bekenntnis mit Wort und Tat zu Christus, dem Heiland. Eingeleitet von der fanfarenschmetternden Trompete, entwirft Bach im Rahmenteil ein von emsiger Tatkraft geprägtes Szenario, während der aparte Mittelteil mit seiner stärker solistischen Textur und seinen verschlungenen Linien die «Furcht und Heuchelei» ausdeutet.
2. Rezitativ accompagnato (Tenor)
Gebenedeiter Mund!
Maria macht ihr Innerstes der Seelen
durch Dank und Rühmen kund;
sie fänget bei sich an,
des Heilands Wunder zu erzählen,
was er an ihr als seiner Magd getan.
O! menschliches Geschlecht,
des Satans und der Sünden Knecht,
du bist befreit
durch Christi tröstendes Erscheinen
von dieser Last und Dienstbarkeit!
Jedoch dein Mund und dein verstockt Gemüte
verschweigt, verleugnet solche Güte;
doch wisse, daß dich nach der Schrift
ein allzu scharfes Urteil trifft.
2. Rezitativ accompagnato
Der unbekannte Dichter erinnert an Maria, die im Magnificat von den Wundern singt, die Gott an ihr getan hat, und fügt noch ein mahnendes Wort an unser «verstockt Gemüte» an. Der eindringlich vortragende Solist wird von einem feierlichen Streichersatz begleitet.
3. Arie (Alt)
Schäme dich, o Seele, nicht,
deinen Heiland zu bekennen,
soll er dich die Seine nennen
vor des Vaters Angesicht!
Doch wer ihn auf dieser Erden
zu verleugnen sich nicht scheut,
soll von ihm verleugnet werden,
wenn er kömmt zur Herrlichkeit.
3. Arie
Die Arie lädt ein zu mutigem Bekenntnis und erinnert an das Jesuswort: «Jeder nun, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater im Himmel.» (Matthäus 10, 32) Die solistische Oboe d’amore verleiht dem textlich zwischen Ermutigung und Drohung changierenden Satz eine warme Grundfarbe. Die Stimmlage Alt passt perfekt zur Ansprache an die Seele des Glaubenden.
4. Rezitativ (Bass)
Verstockung kann Gewaltige verblenden,
bis sie des Höchsten Arm vom Stuhle stößt;
doch dieser Arm erhebt,
obschon vor ihm der Erden Kreis erbebt,
hingegen die Elenden,
so er erlöst.
O hochbeglückte Christen,
auf, machet euch bereit,
itzt ist die angenehme Zeit,
itzt ist der Tag des Heils: Der Heiland heißt
euch Leib und Geist
mit Glaubensgaben rüsten,
auf, ruft zu ihm in brünstigem Verlangen,
um ihn im Glauben zu empfangen.
4. Rezitativ
Mit dem Zitat aus dem Magnificat, dass Gott die Gewaltigen von ihrem Thron stösst, warnt der Dichter nochmals vor Verstockung. Die Christen lädt er ein, jetzt im Glauben den Heiland zu empfangen, denn «Jetzt ist der Tag des Heils» (2. Korinther 6, 2). Bachs auffällig bildhafte Continuobegleitung folgt sensibel jeder Wendung des Textes – vom Höllensturz der Hochmütigen bis zum Beben des Erdkreises.
5. Arie (Sopran)
Bereite dir, Jesu, noch itzo die Bahn,
mein Heiland, erwähle
die gläubende Seele
und siehe mit Augen der Gnaden mich an.
5. Arie
Die glaubende Seele bittet um die Gnade der Begegnung mit dem Heiland. Die vorwärtsdrängende Violinstimme fordert nachdrücklich dazu auf, Jesu Bahn zu bereiten. In dieser Arie werden die Bezüge zu Bachs Adventskantaten wie BWV 132 besonders greifbar.
6. Choral
Wohl mir, daß ich Jesum habe,
o wie feste halt ich ihn,
daß er mir mein Herze labe,
wenn ich krank und traurig bin.
Jesum hab ich, der mich liebet
und sich mir zu eigen gibet;
ach drum laß ich Jesum nicht,
wenn mir gleich mein Herze bricht.
6. Choral
Die 6. Strophe des Liedes «Jesu, meiner Seelen Wonne» von Martin Jahn beschliesst den ersten Teil der Kantate.
Zweiter Teil
7. Arie (Tenor)
Hilf, Jesu, hilf, daß ich auch dich bekenne,
in Wohl und Weh, in Freud und Leid,
daß ich dich meinen Heiland nenne
im Glauben und Gelassenheit,
daß stets mein Herz von deiner Liebe brenne,
hilf, Jesu, hilf!
7. Arie
Die Arie bittet Jesus um Hilfe, denn es ist nicht leicht, am Glauben in guten und in schlechten Zeiten festzuhalten. Mit der Teilung des Generalbasses in eine ruhig fliessende Fagott- und Streicherstimme sowie eine in Triolen durchlaufende Tastenpartie verleiht Bach dem Satz eine nicht nachlassende Energie, die der «brennenden Liebe» stärker als der «glaubenden Gelassenheit» Ausdruck verleiht.
8. Rezitativ (Alt)
Der höchsten Allmacht Wunderhand
würkt im Verborgenen der Erden.
Johannes muß mit Geist erfüllet werden,
ihn zieht der Liebe Band
bereits in seiner Mutter Leibe,
daß er den Heiland kennt,
ob er ihn gleich noch nicht
mit seinem Munde nennt,
er wird bewegt, er hüpft und springet,
indem Elisabeth das Wunderwerk ausspricht,
indem Mariae Mund der Lippen Opfer bringet.
Wenn ihr, o Gläubige, des Fleisches Schwachheit merkt,
wenn euer Herz in Liebe brennet,
und doch der Mund den Heiland nicht bekennet,
Gott ist es, der euch kräftig stärkt,
er will in euch des Geistes Kraft erregen,
ja, Dank und Preis auf eure Zunge legen.
8. Rezitativ
In der Evangelienlesung heisst es, das Kindlein Johannes habe im Leib seiner Mutter gehüpft, als Maria sie begrüsste. Der Dichter betont, Johannes habe schon damals den Heiland erkannt und freudig begrüsst, auch Elisabeth habe mit Ehrfurcht von der Begegnung mit der Mutter des Herrn gesprochen und Maria habe mit ihrem Lied ein Dankopfer dargebracht. Daher sollen auch die Gläubigen sich ihrer Schwachheit bewusst werden, aber wissen, dass Gott es ist, der Kraft zum Bekennen, Lob und Dank gibt. Die Oboen da caccia verleihen dem Rezitativ eine anheimelnde Klangwelt, vor deren Hintergrund das «Hüpfen und Springen» des Johanneskindes pittoreske Wirkung gewinnt.
9. Arie (Bass)
Ich will von Jesu Wundern singen
und ihm der Lippen Opfer bringen,
ich will von Jesu Wundern singen.
Er wird nach seiner Liebe Bund
das schwache Fleisch, den irdschen Mund
durch heilges Feuer kräftig zwingen.
9. Arie
Für diese Arie konnte der Leipziger Librettist nicht den Text Salomon Francks, der sich auf das Adventsevangelium und das Zeugnis des Johannes bezog, verwenden, sondern musste ihn auf die komponierte Musik passend neu formulieren. Mit der Rückkehr der solistischen Trompete wird die Sphäre der adventlichen Ankündigung wieder berührt, die beim Klang des vollen Orchesters in der neuen Version einen heroisch-predigenden Anstrich erfährt.
10. Choral
Jesus bleibet meine Freude,
meines Herzens Trost und Saft,
Jesus wehret allem Leide,
er ist meines Lebens Kraft,
meiner Augen Lust und Sonne,
meiner Seele Schatz und Wonne;
darum laß ich Jesum nicht,
aus dem Herzen und Gesicht.
10. Choral
Wie der erste Teil der Kantate schliesst auch der zweite mit einer Strophe (16.) des Liedes von Martin Jahn.
Judith C. Wipfler
«Maria hat viele Namen – so wie die Wahrheit»
Maria wurde in der protestantischen Tradition lange vernachlässigt. Die Kantate «Herz und Mund und Tat und Leben» (BWV 147) macht da keine Ausnahme, öffnet allerdings auch Türen: Maria hat das Zeug, Dialoge zu vermitteln, auch und vor allem zwischen Juden, Christen und Muslimen.
«Herz und Mund und Tat und Leben» – das ist ein Choral, den jedes Kirchenkind, so wie ich eines bin, zutiefst verinnerlicht hat. Eigentlich ist der Titel eine Steilvorlage für die Reflexion über eine Bachkantate. Aber ich darf es mir nicht so einfach machen! Die Bachstiftung hat mich schliesslich eingeladen, damit ich etwas zu Maria sage, zu einer Frau, die in der evangelischen Tradition, sei sie nun lutherisch oder reformiert, lange Zeit vernachlässigt wurde. Jedoch, die Kantate noch im Ohr, muss ich einräumen: Auch in dieser Kantate steht nun mal eindeutig und wie so oft der Herr Jesus im Zentrum und eben gerade nicht Maria oder gar Elisabeth, die Mutter des Johannes, oder die Begegnung der beiden. Dieses freundschaftliche Treffen der beiden Frauen nennt das Kirchenfest leicht verquast Heimsuchung.
Nicht auf den Frauen liegt der Akzent
Die 1 im Rhythmus, die Emphase der Bläser und Streicher – sie liegen also nicht auf Maria und Elisabeth, sondern ganz auf dem Bekennen zu Christus als Heiland, und zwar alternativlos zu ihm! Diese Ausschliesslichkeit bereitet mir schon etwas Bauchschmerzen. Doch will ich mein Versprechen einzulösen versuchen und jetzt Maria etwas stärker aus leuchten als dies gewöhnlich die Filmregie des Kirchenjahres tut. Vielleicht löst das dann ja auch das mulmige Gefühl in meinem Bauch, dass einige Vokabeln der Kantate in mir erzeugt haben. Darum hier nun zu Maria einige Verse, die mehr als 1300 Jahre alt sind:
«Und die Engel sagten:
‹O Maria, Gott hat Dich auserwählt und rein gemacht,
und er hat Dich vor den Frauen der Weltbewohner auserwählt.
O Maria, sei deinem Herrn demütig ergeben.
Wirf Dich nieder und verneige Dich mit denen, die sich verneigen.› –
Und die Engel sagten:
‹O Maria, Gott verkündet Dir ein Wort von ihm, dessen Name Christus Jesus,
der Sohn Marias, ist;
er wird angesehen sein im Diesseits und Jenseits, und einer von denen,
die in die Nähe Gottes zugelassen werden.
Er wird zu den Menschen sprechen in der Wiege
und als Erwachsener einer der Rechtschaffenden sein.›
Sie sagte: ‹Wie soll ich ein Kind bekommen, wo mich kein Mensch berührt hat. ›
Er sprach ‹So sei es. Gott schafft, was er will.› »
Diese Verse stammen aus der Sure 19 des Korans. Sie ist Marjam, der Mutter Isas, gewidmet. – Marjam oder Meryem, das ist unsere Maria. Und Isa heisst Jesus auf Arabisch. Isa, Sohn Marias,– so wird er im Koran immer genannt.
Im Jahr 2015 fallen – nach frommen Berechnungen – der Geburtstag Jesu und der Geburtstag des Propheten Mohammed auf einen Tag. Dies sei nur alle paar hundert Jahre der Fall und hat mit den unterschiedlichen Kalendern zu tun. So ist der gemeinsame Geburtstag Jesu und Mohammeds heute ein Zu-Fall. Er könnte aber zum Glücks-Fall werden, wenn wir als die Weltgemeinschaft dies zum Guten nutzen, gerade heute, gerade 2015.
Dass Maria oder Meryem eine ganze Sure im Koran gewidmet ist, kommt nicht von ungefähr. Musliminnen und Muslime ehren Jesus / Isa nämlich durchaus als guten Propheten, und sie erweisen auch seiner Mutter Maryam die Ehre. Sogar mit der Jungfrauengeburt hat der Koran keine Probleme. Maria gilt als Vorbild in Sachen Frömmigkeit und Keuschheit. Dass Muslime Meryems Sohn Jesus sogar Christus oder Messias nennen, ändert freilich nichts daran, dass sie ihn nur als Propheten begreifen und gerade nicht als christlich verstandenen Christus, also als Heiland oder universalen Erlöser, so wie ihn auch die Kantate «Herz und Mund und Tat und Leben» besingt und munter bekennt! – Darüber darf man die Augen nicht verschliessen. Aber: Die Mariensure, die Wertschätzung Jesu – sie sind ein grosses Türchen! Sie könnten Anknüpfungspunkte sein für interreligiösen Dialog, also für einen echten, einander wertschätzenden und ernstnehmenden Dialog, ein Dialog, der – wenn recht geführt – Frieden erwirkt.
Im Gedenken an den Vater des Dialogs Martin Buber
Wenn ich das Wort Dialog in den Mund nehme, dann denke ich dabei freilich an den Vater des Dialogs, den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Seinem 50. Todestag wurde in diesem Jahr 2015 besonders gedacht und damit auch seiner Dialogidee. Buber entwickelte sie unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Nie wieder sollte so etwas geschehen, hoffte Buber. Wir alle wissen, dass es anders kam und kommt.
Doch was ist der springende Punkt bei Buber? Ich versuche es in aller Kürze: Buber erklärt, dass ein echter Dialog nur auf Augenhöhe stattfinden kann. Die jeweiligen Dialogpartner dürfen keine hidden agenda, also keine versteckten Gesprächsabsichten haben. Sie dürfen nicht schon zu Beginn zu wissen glauben, was am Ende herauskommen soll. Denn: Ein echter Dialog verändert beide Partner! Das Ich und das Du. Nach einem gelingenden Dialog bin ich nicht mehr dieselbe und mein Gegenüber ist auch nicht mehr derselbe. – Diese Bereitschaft, sich vom Mitmenschen verändern zu lassen, also sein Ich zum Teil des eigenen Ichs werden zu lassen, ist zentral. Und hier liegen wohl auch die Gründe meiner Bauchschmerzen: Dieser dynamische Dialoggedanke kollidiert doch etwas mit einem starren Bekennen, einem apodiktischen Entweder Oder, entweder Christus oder der Satan.
Aber, wieder zu Maria, zu Miriam! Denn als Miriam wurde sie gerufen, zu ihrer Zeit. Miriam war ein jüdisches Mädchen aus Galiläa. Miriam ist recht eigentlich kein Name für eine Magd, wenngleich es ein gebräuchlicher jüdischer Mädchenname war zu ihrer Zeit.
Prophetin Miriam – Maria – Meryem
Miriam war für alle damals klar der Prophetinnenname Miriam. Gemeint ist Miriam, die Schwester Moses: «Moschä» auf Hebräisch oder jiddisch «Moische», und besonders mag ich die Variante «Moischi»… Mit Mose also steht die wichtigste Figur in der jüdischen Bibel vor uns, weil Moschä am nächsten dran war an Gott und seine guten Gebote zum Leben – die Tora – aufschrieb.
Ferner war Miriam auch noch die Schwester Aarons, des ersten Priesters. Aarons Segensspruch hören wir fast in jedem christlichen Gottesdienst! Von Miriam selbst ist – selten genug für antike Texte – auch ein O-Ton, wie wir am Radio sagen, überliefert: das Miriamslied. Sie singt es nach dem Durchzug durchs geteilte Meer, als die Israeliten gerade die Ägypter abgehängt hatten, und sie musiziert dazu! Ich lese aus Exodus, dem zweiten Buch Mose, hebräisch heisst es Bamidbar «in der Wüste», Kapitel 15:
«Da nahm Mirjam, die Prophetin (ha’naviah!), Aarons Schwester,
eine Pauke in ihre Hand und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen.
Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem EWIGEN singen,
denn er hat eine herrliche Tat getan; Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt.»
Das Lied im O-Ton, also auf Hebräisch vortragen, ist nur ein Vers und lautet
Soweit die Prophetin ha newijah, Miriam. Besonders meine römischkatholischen Freundinnen lieben diesen Vers: Sie sehen darin nicht nur die Prophetin. Sie sehen hier eine Frau, die führt und liturgisch handelt. Meine römischkatholischen Freundinnen bedauern aber auch, dass diese Option für Frauen in ihrer Kirche bisher nicht umgesetzt wurde. Frauen werden nach wie vor nicht ins kirchliche Amt gelassen, um so Liturgie und Messe vollgültig zu gestalten.
Miriam – Maria – spricht aber auch im Neuen Testament nicht wie eine ungebildete Magd. Sie spricht als eine, die die Verheissungen, Gebote und Schriften ihres jüdischen Volkes kennt. Sie spricht eines der politischsten Gebete der Welt, das Magnifikat, und sie spricht es genau in dem Moment, da sie auf Elisabeth trifft:
«Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter,
denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.
Siehe, von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter,
denn Grosses hat der Mächtige an mir getan.
Und heilig ist sein Name – baruch ha shem, und seine Barmherzigkeit
gilt von Geschlecht zu Geschlecht denen, die ihn fürchten.
Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm, zerstreut hat er,
die hochmütig sind in ihrem Herzen,
Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht,
Hungrige hat er gesättigt mit Gutem und Reiche leer ausgehen lassen.
Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen,
und seiner Barmherzigkeit gedacht,
wie er es unseren Vätern versprochen hat,
Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.»
Es ist schade, dass wir von diesem, zutiefst jüdischen Gebet der Maria aus dem Lukas Evangelium nur den Nachhall in der Bachkantate «Herz und Mund und Tat und Leben» hören. Es gibt zahlreiche, starke Vertonungen des Magnifikat, – aber wo, wenn nicht hier, wäre es passend gewesen. Stattdessen schwenkt unsere Kantate zum «Jesu meine Freude» um. Gegen diesen, einen der schönsten Bachchoräle, ist freilich per se nichts zu sagen. Das macht mir ja gerade die Bauchschmerzen. Ich meine nämlich, dass das eine mit dem anderen zu tun hat, also dass Maria und die Frauen so wenig vorkommen und dass Jesus allein so forciert wird und dass, wer «Christum» nicht total bekennt, als «verstockt» gilt.
Man mag mir das Wortspiel nachsehen: Beim Wort «Verstockung» stockt mir der Atem. Es ruft ungute Erinnerungen wach an antijüdische Karfreitagsliturgien und an die lange Schuldgeschichte der Kirche gegenüber den Juden. Ich wollte das Wort «Verstockte» doch eigentlich nie wieder hören. Und nun wird so schön gesungen und so exzellent dazu musiziert, ohne jedes Stocken.
Wir können diese Vokabel freilich als Teil eines veralteten Frömmigkeitsstils abtun, können sie der barocken Frömmigkeitssprache der Zeit Bachs zuordnen. Und es ist ja auch klar, dass diese Sprache nicht mehr die unsrige ist! Egal wie fromm oder unfromm wir sind. Es wäre auch höchst seltsam, wenn wir heute, noch dazu von Gott, mit Worten sprechen würden wie: «Meines Herzens (…) Saft» oder ihn mit dem «brünstigen Verlangen» verbinden würden… . Ich denke, dass wir diese Sprachbilder und Frömmigkeitsbilder getrost historisieren können. Aber der Kern meines Anstosses bleibt: es ist das Exklusive darin – das Ausschliessliche und Ausschliessende, der Universalanspruch. Warum muss aus dem freudigen Bekenntnis zu Jesus auf der einen Seite die «Verstockung» anderer werden?
Wahrheit bekennen und zugleich des Anderen Wahrheit anerkennen
Ich mache einen kurzen, aber aktuellen Umweg über den Vatikan. Diesen Umweg hat Martin Luther ja auch gemacht und aus Rom so manches Aha-Erlebnis mitgenommen. Vor genau einer Woche hat der Ökumene-Minister des Papstes, der Schweizer Kardinal Kurt Koch, nämlich ebenfalls «Reflexionen» (s. Literatur) herausgegeben. Es handelt sich um Reflexionen über 50 Jahre Dialog mit dem Judentum. Wörtlich seien «Freundschaft», «Versöhnung», ja sogar «Liebe» entstanden zwischen Juden und Christen. Das ist ein schier unvorstellbar grosser Paradigmenwechsel und wäre vor 50 Jahren, geschweige denn davor undenkbar gewesen! Gleichwohl und gleichzeitig, so das Vatikanpapier weiter, wolle und müsse «die» Kirche (damit meint Kardinal Koch immer seine Kirche, die römischkatholische) ihren Wahrheitsanspruch aufrecht halten, die Wahrheit Christi. Nach ihrem Verständnis sei Wahrheit nicht teilbar, sei immer universal. Der universale Christus bleibe also der wahre Christus für alle.
Wichtig, in einem praktischen Sinne wichtig ist in Kochs Reflexionen die Absage an die institutionalisierte Judenmission seitens seiner Kirche. Das ist sehr viel und sehr gut! Denn dazu haben sich noch lange nicht alle Kirchen durchgerungen, auch im evangelischen Spektrum nicht. Aber beim Wahrheitsverständnis will der Vatikan einfach nicht in die Postmoderne.
Aber warum können wir als Gesellschaft nicht in mehreren Wahrheiten miteinander leben und glauben? Warum kann Wahrheit nicht partikulare Wahrheit sein? So könnten doch diese verschiedenen Wahrheiten von Juden, Christen, Muslimen und vor allem von immer mehr Agnostikern und Atheisten in Dialog treten.
Hier möchte ich noch einmal erinnern, was Dialog nach Buber heisst: Unvoreingenommen sein, keine hidden agenda (wie etwa Bekehrung als Absicht) und den Willen zur eigenen Veränderung. Sollte es damit vielleicht nicht doch gehen?
«Herz und Mund und Tat und Leben», das ist so ein schönes Motto, nicht nur für dieses und nächstes Jahr. Aber hoffentlich offen! Offen für alle, die guten Willens sind, heissen sie nun Jesus, Jeschu oder Isa – Miriam, Maria oder Meryem!
Literatur
• Martin Buber, Ich und Du, Reclam, Stuttgart 2008 (erstmals erschienen 1923)
• Adel Theodor Khoury, Der Koran, erschlossen und kommentiert, Pattloch Verlag, München 2005.
• Karl-Josef Kuschel, Martin Buber seine Herausforderung an das Christentum, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015.
Das erwähnte vatikanische Dokument vom 10.12.2015 findet sich hier: http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/Vatikandokument50JahreNostraaetate.pdf