Bringet dem Herrn Ehre seines Namens
BWV 148 // zum 17. Sonntag nach Trinitatis
Für Alt und Tenor, Vokalensemble, Trompete, Oboe I–III, Streicher und Basso continuo
Die entweder Bachs erstem (1723) oder drittem Kantatenjahrgang (1725) zugehörige und wohl auf einer Dichtung Picanders beruhende Kantate BWV 148 entstand in jedem Fall für einen 17. Sonntag nach Trinitatis. Sie kreist entsprechend der Evangelienlesung um Fragen der Sabbatheiligung und damit der Bereitschaft des gläubigen Menschen, Gottes Wort und Geist verständig aufzunehmen. Auf einen schwungvollen Eingangschor mit virtuoser Trompetenstimme folgen eine mit rauschendem Violinsolo ausgestattete Tenorarie sowie eine sehnsüchtige Rezitativparaphrase nach Worten des 42. Psalms. Wie Bach in der von einem warmen Holzbläsersatz begleiteten Altarie das Offenstehen von Mund und Herz als Schweigen der Continuostütze deutet, bezeugt wie die ganze Kantate seine aufmerksame Aneignung der biblischen Botschaft.
Chor
Sopran
Lia Andres, Cornelia Fahrion, Stephanie Pfeffer, Jennifer Ribeiro Rudin, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger
Alt
Anne Bierwirth, Antonia Frey, Laura Kull, Simon Savoy, Lea Scherer
Tenor
Marcel Fässler, Tobias Mäthger, Klemens Mölkner, Tiago Oliveira
Bass
Grégoire May, Christian Kotsis, Simón Millán, Tobias Wicky, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Patricia Do, Elisabeth Kohler Gomez, Olivia Schenkel, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Claire Foltzer, Matthias Jäggi
Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Philipp Wagner, Clara Espinosa Encinas, Katharina Arfken
Fagott
Susann Landert
Trompete
Jaroslav Rouček
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Thomas Metzinger
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
25.10.2024
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
19. Sept. 1723 oder 23. Sept. 1725, Leipzig
Textgrundlage
Satz 1: Psalm 29,2; Sätze 2–5: Dichter unbekannt (nach Picander, 1725); Satz 6: kein Text überliefert, Ergänzung nach Lübeck (vor 1603)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Chor
Bringet dem Herrn Ehre seines Namens,
betet an den Herrn im heiligen Schmuck!
1. Chor
Der Eingangschor stimmt mit dem Wort aus Psalm 29,2 «Bringet dem Herrn Ehre seines Namens» und dem Aufruf zur feierlichen Anbetung Gottes auf die Thematik des Sabbats ein, auf die Gottesdienstfeier. Bach komponiert dafür einen munteren Konzertsatz mit solistischen Trompeten, aus dessen zupackenden Chorblöcken sich immer wieder Fugenexpositionen entwickeln.
2. Arie — Tenor
Ich eile, die Lehren des Lebens zu hören,
und suche mit Freuden das heilige Haus.
Wie rufen so schöne
das frohe Getöne
zum Lobe des Höchsten die Seligen aus!
2. Arie — Tenor
In der Tenorarie antwortet der Gläubige, er eile ins heilige Haus, um die gute Lebenslehre und das schöne, «frohe Getöne» zum Lobe Gottes zu hören. Während in Picanders ursprünglichem Gedicht der Verweis auf die Musik noch fehlte, bringt diese sich in Bachs Vertonung mit emsigen Violinpassagen und sängerischen Koloraturen energisch in Erinnerung. Der gespannte h-Moll-Gestus der Arie macht dabei deutlich, dass es nicht um alltägliche Unterhaltungen, sondern die Hinwendung zum Wort und zur Unterweisung Gottes geht.
3. Rezitativ — Alt
So, wie der Hirsch nach frischem Wasser schreit,
so schrei ich, Gott, zu dir.
Denn alle meine Ruh
ist niemand außer du.
Wie heilig und wie teuer
ist, Höchster, deine Sabbatsfeier!
Da preis ich deine Macht
in der Gemeine der Gerechten.
O! wenn die Kinder dieser Nacht
die Lieblichkeit bedächten!
Denn Gott wohnt selbst in mir.
3. Rezitativ — Alt
Im von feierlichen Streicherklängen begleiteten Altrezitativ werden die Worte des 42. Psalms umspielt, der Schrei des Hirsches nach frischem Wasser mit demjenigen nach Gott, mit der Sehnsucht der Gläubigen auf eine Sabbatfeier verglichen. Die Strophe schliesst mit dem Seufzer, wenn doch die Ungläubigen nur die «Lieblichkeit» dieser Erfahrung bedächten: «Denn Gott wohnt selber in mir».
4. Arie — Alt
Mund und Herze steht dir offen,
Höchster, senke dich hinein!
Ich in dich, und du in mich;
Glaube, Liebe, Dulden, Hoffen
soll mein Ruhebette sein.
4. Arie — Alt
Schöner als die Umdichtung in dieser AltArie sind Picanders originale Zeilen: «Herr, mein Hertze steht dir offen,/ Ach! So sencke dich hinein./ Lieben, gläuben, dulden, hoffen,/ Soll dein Ruhe-Bette seyn.» Bach gelingt es mit der aparten Instrumentalbegleitung dreier Holzbläser, dem Gebet jede Erdenschwere zu nehmen. Das für Jesu’ Einzug geöffnete Herz wird dabei ebenso deutend von der Continuobindung gelöst, wie die daraus folgende Geborgenheit zum bildhaft ausgestreckten «Ruhebett» gerät.
5. Rezitativ — Tenor
Bleib auch, mein Gott, in mir
und gib mir deinen Geist,
der mich nach deinem Wort regiere,
daß ich so einen Wandel führe,
der dir gefällig heißt,
damit ich nach der Zeit
in deiner Herrlichkeit,
mein lieber Gott, mit dir
den großen Sabbat möge halten!
5. Rezitativ — Tenor
Im Tenorrezitativ wird die Bitte ins Ethische und Eschatologische gewendet: Gott möge mit seinem Geist präsent sein, damit der Gläubige ein gottgefälliges Leben führe und hernach in Gottes Herrlichkeit mit ihm den «grossen Sabbat» halten könne.
6. Choral
Amen zu aller Stund
sprech ich aus Herzensgrund;
du wollest uns tun leiten,
Herr Christ, zu allen Zeiten,
auf daß wir deinen Namen
ewiglich preisen. Amen.
6. Arie — Choral
6. Der Schlusschoral nach der Melodie «Auf meinen lieben Gott» (M: J. Regnart 1574, T: unbek. Lübeck, S. Weingärtner zugeschrieben) ist in der Quelle ohne Text überliefert. Mit dem von der Neuen Bach-Ausgabe getroffenen Vorschlag der 6. Strophe des Liedes «Wo soll ich iehen hin» käme die Kantate immerhin zu einem auch mit Blick auf das Eingangsdictum sinnfälligen Abschluss: «Amen zu aller Stund / sprech ich aus Herzensgrund».
Thomas Metzinger
Was ist Geistlichkeit?
Warum ist geistliche Musik so schön? Warum berührt sie uns manchmal so ganz anders, auf viel tiefere Weise als andere Formen und Arten von Musik? Was genau ist eigentlich diese besondere Art von Innerlichkeit – und was ist das überhaupt: «Geistlichkeit»?
1
Spiritualität – das habe ich in meinem Aufsatz «Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit»[1] gesagt – ist im Grunde das genaue Gegenteil von Religion. Das Gegenteil von Religion ist nämlich nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität. Viele suchen seit Langem nach einer radikal ehrlichen, einer intellektuell redlichen Form von Geistlichkeit. Was aber könnte das eigentlich heissen? Intellektuelle Redlichkeit bedeutet, dass man einfach nicht bereit ist, sich selbst in die Tasche zu lügen. Sie hat auch etwas mit sehr altmodischen Werten wie Anständigkeit, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber zu tun, mit einer bestimmten Form von «innerem Anstand». Man kann vielleicht sagen: Intellektuelle Redlichkeit ist eine sehr konservative Weise, wirklich subversiv zu sein.
Wie wir alle wissen, hat in den letzten fünfzig Jahren eine wenigstens anfänglich sehr erfolgreiche Rebellion gegen die organisierte Religion stattgefunden. Weit abseits der Kirchen ist etwas Neues entstanden, eine globale spirituelle Gegenkultur – und zumindest in Teilen ist sie auch heute noch immer eine echte «geistliche Gegenkultur». Unzählige Menschen haben die Dinge selbst in die Hand genommen, und diese Entwicklung kann als eine der wichtigsten kulturellen Innovationen des 20. Jahrhunderts in den westlichen Ländern betrachtet werden.
In den aktuellen, lebendigen Erscheinungsformen von Spiritualität geht es allerdings primär um Praxis und nicht so sehr um Theorie. Es geht um eine bestimmte Form des inneren Handelns und nicht um Frömmigkeit oder um ein dogmatisches Festhalten an bestimmten Glaubensinhalten. Spiritualität ist nämlich im Kern eine epistemische Einstellung. Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen. Es geht dabei um eine erfahrungsbasierte Form von Erkenntnis, die mit einer sehr präzisen, aber sanften Form von innerer Aufmerksamkeit, mit Körpererfahrung und der systematischen Kultivierung bestimmter veränderter Bewusstseinszustände zu tun hat. Typischerweise wird die gesuchte Form von Wissen als eine sehr spezielle Form von Selbsterkenntnis beschrieben, die nicht nur befreiend, sondern auch reflexiv auf das eigene Bewusstsein des spirituell Praktizierenden gerichtet ist. Man kann sagen: Es geht dabei um die Bewusstheit als solche, unter Auflösung der Subjekt-Objekt-Struktur und jenseits der individuellen Erste-Person-Perspektive.
In seiner Predigt Iusti vivent in aeternum hat Meister Eckhart (1260–1328) gesagt:
«Einige einfältige Menschen glauben, dass sie Gott sehen sollen, als ob er dort stünde und sie hier. Das ist nicht der Fall. Gott und ich sind eins.»
Am Ende des ersten Recitativs unserer Kantate heisst es: «Denn Gott wohnt selbst in mir.» Spirituelle Erkenntnis tritt also oft im Zusammenhang mit der systematischen Kultivierung bestimmter veränderter Bewusstseinszustände auf, sogenannter «non-dualer» Zustände.
2
Vor einigen Jahren habe ich ein wissenschaftliches Forschungsprojekt gegründet, in dem wir die Erfahrung des «reinen Bewusstseins» in der Meditation sehr genau untersuchen. Die Menschheit kennt viele verschiedene Worte für diese Erfahrung: Ein Beispiel ist Meister Eckharts «Seelengrund», der «grundlose Grund der Gottheit», von dem er sagt:
«All unsere Vollkommenheit und all unsere Glückseligkeit hängen davon ab, dass wir alles Kreatürliche, alles Seiende durchqueren und transzendieren und auf den Grund kommen, der grundlos ist.»
Predigt Adolescens, tibi dico: surge
Begine von Hadewijch (auch bekannt als Hadewijch von Antwerpen oder als Hadewijch von Brabant) war ein Mitglied der europäischen Frauenmystik, eine Philosophin, Dichterin und Mystikerin des 13. Jahrhunderts – und sie hat dasselbe bereits vor Eckhart gesagt. Schon sie verwendete sie die beiden Begriffe «Grund» (gront im Mittelniederländischen) und «Grundlosigkeit» (grondeloesheit). Und interessanterweise ist eben genau dieser «grundlose Grund» auch ein klassisches Motiv der buddhistischen Philosophie.
Asiatische Begriffe für das reine Bewusstsein sind zum Beispiel der dharmakāya (der «Wahrheitskörper» des buddhistischen Pāli-Kanons); rig pa (im tibetischen Dzogchen das «reine Gewahrsein», das «Erkennen des Grundes», die spontane Präsenz der ursprünglichen «Ur-Wachheit»); samādhi (der «ebene Intellekt», wie wir ihn in der Bhagavad Gita oder im Yoga Sūtra von Patañjali finden); sat-chit-ananda («Reines Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit» in der Hindu-Philosophie); turīya (seit den ältesten Upanischaden die Vorstellung eines vierten Zustands des «reinen Bewusstseins», der den drei gewöhnlichen Zuständen – Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf – zugrunde liegt); oder auch ye shes (das «zeitlose Gewahrsein der ursprünglichen Wachheit», zum Beispiel im Vajrayāna-Buddhismus).
Im Rahmen unseres Forschungsprojekts habe ich zusammen mit meinem Schweizer Kollegen Alex Gamma mehr als 3500 Meditierende aus 57 Ländern ausführlich zu ihrer Erfahrung des reinen Bewusstseins befragt. Ich werde Sie jetzt nicht mit wissenschaftlichen Details belästigen, wer darüber mehr wissen will, der findet es in meinem Buch «Der Elefant und die Blinden».[2] Interessant ist aber, wie viele Meditierende, als sie von uns gebeten wurden, eine einzelne, paradigmatische Erfahrung reinen Gewahrseins zu beschreiben, ein tiefes Empfinden von Profundität und existenzieller Relevanz bezeugten. Gleichzeitig zeigte sich jedoch, wie wenige von ihnen sich dafür entschieden, ihre Erfahrung in einer explizit religiösen Terminologie zu interpretieren. Und doch gibt es sie. Hier sind drei Beispiele:
267 […] Es war für mich ein sehr tiefgreifendes Erlebnis. So, als hätte ich zum ersten Mal einen Eindruck bekommen, was «Gott» wirklich ist.
540 […] Parallel dazu nimmt der Strom meiner Gedanken immer mehr ab, und mein Bewusstsein wird sehr still und friedlich. Das ist aber nur ein Übergangsstadium. Denn nach einiger Zeit kommt es zu einem Empfinden zunehmender Ausdehnung nicht nur des Bewusstseins, sondern auch des Körpers. Das Gefühl, das damit einhergeht, ist Liebe. Als Christ nehme ich es so wahr, dass Gottes Liebe mich berührt und zugleich meine Liebe zu ihm und allen Geschöpfen in mir entzündet.
3579 Immer wieder erlebe ich in der Meditation, dass ich mich als eins mit Gott und Gott in allem fühle. Das ist der Gott aller Religionen, nicht der des Christentums, losgelöst von Raum und Zeit. Es ist schwer in Worte zu fassen, weil es sich in erster Linie um eine Einheitserfahrung handelt. Es gibt kein Ich oder Nicht-Ich mehr. Ich fühle mich eins mit dem Urquell, ganz innen und ganz aussen. Alle Trennung ist aufgehoben. Es gibt nur völlige Präsenz. Alle Konflikte, alles ist nichtig und nicht mehr existent.
3
Wir haben die von Meditierenden in aller Welt gegebene Beschreibung einer psychometrischen Analyse unterzogen, die zu einer statistischen 12-Faktor-Lösung geführt hat.[3] Wieder keinerlei wissenschaftliche Details, aber ich denke, dass der Faktor 8 für unsere Frage von grösster Bedeutung ist. Wir haben ihn «Leerheit und nicht-egoisches Selbstbewusstsein» genannt. Ich denke, dass dieser Faktor die spirituelle Essenz (also: die «Geistlichkeit») der fraglichen Erfahrung wohl am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Bleiben wir wieder ganz konkret, hier sind drei Erfahrungsberichte für Sie:
1350 […] Wenn sich der entsprechende Zustand einstellt, ist es wie das Sehen des Sehens oder das Gewahrsein davon, gewahr zu sein.
1545 […] In mir entstand ein nicht-physischer Raum, der sich von Moment zu Moment vergrösserte und in dem die Grenzen zwischen dem Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Objekt verschwammen. Zugleich war sich dieser Raum seiner selbst bewusst. […]
156 Dies war überwiegend eine Erfahrung der Leerheit, nicht als Objekt, sondern als selbsterkennende Leerheit/Bewusstheit. Es gab viel Klarheit (Bewusstsein, das sich selbst erkennt) und eine Freude, die mehrere Tage lang anhielt. […]
Ich denke, diese Qualität des nicht-egoischen Selbstbewusstseins kommt vielleicht dem am nächsten, was viele es als einen irreduzibel spirituellen Bewusstseinszustand beschreiben lässt: Sie ist möglicherweise das, was die tiefste Bedeutung des Wortes «Geistlichkeit» kennzeichnet. Eine Form des bewussten Erlebens und Erkennens, die vollkommen unabhängig von religiösen Glaubenssystemen ist. Sie ist der phänomenologische Anker für das, was viele Meditierende hinterher als die spirituelle Essenz ihrer Erfahrung oder sogar als ihr «wahres Selbst» beschreiben.
2120 […] Ich wurde mir der Tatsache bewusst, dass das «Denken» in meiner Erfahrung nicht das Primat hat, sondern dass das Gewahrsein das Primat hat. Das Denken vollzieht sich in diesem Gewahrsein, das sich auch seiner selbst gewahr ist.
Am wichtigsten ist vielleicht, dass sich die Erfahrung wie die non-duale Version von Selbsterkenntnis, wie eine besonders intime Form des Mit-sich-selbst-in-Kontakt-Seins anfühlt: Ja, das Bewusstsein ist sich seiner selbst bewusst, doch in der Erfahrung selbst gibt es weder Subjekt noch Objekt.
[…] Es war ein klares Gewahrsein, aber ohne Gedanken; non-dual (kein Subjekt-Objekt, aber auch nicht so sehr von einer Ganzheit). Ich war mir über «Zeit» oder «Raum» oder «Gedanken» oder «Körper» nicht ganz sicher (oder fühlte es nicht). Aber ich wusste, dass etwas/ jemand (ich nehme an: ich selbst) damals und heute existiert. Es war gewiss keine «Erleuchtung», nur das Gewahrsein manifestierte sich selbst, während keine Gedanken präsent waren. Es ist das Hintergrundgewahrsein hinter allen Gedanken und Wahrnehmungen, und es kennt sich selbst.
Niemand hat diesen Aspekt der spirituellen Erfahrung so klar gesehen wie die tibetischen Buddhisten. Um auch zum Abschluss ganz konkret zu bleiben, hier drei klassische Zitate mit praktischen Anweisungen:
Rgyal ba Yang dgon pa (1213–1258), der starb, kurz bevor Meister Eckhart geboren wurde:
«Diese nackte Klarheit und Leerheit jenseits des Intellekts. Wenn man sie natürlich sich selbst sein lässt, dann wird sie sich selbst erkennen. […] Ihre Selbsterkenntnis ist der Kernpunkt der Praxis. Wenn sie sich selbst von Angesicht zu Angesicht begegnet, löst sie sich in sich selbst hinein auf.»
Song of the Seven Introductions II (2, 4)
Es geht für die Tibeter nicht darum, etwas zu machen, sondern nur darum, etwas wiederzuerkennen. Hier, ein halbes Jahrhundert später, Longchen Rabjam (1308–1363):
«Es geht darum, ohne etwas zu fabrizieren im Kontinuum des Wiedererkennens zu verweilen.»
The Precious Treasury of the Basic Space of Phenomena (11)
Und zur Zeit Martin Luthers sagt Dakpo Tashi Namgyal (ca. 1513–1587):
«Wenn Stille da ist, dann erkennen Sie genau das innerhalb der Stille und halten es mit reflexiv bewusster Achtsamkeit aufrecht.»
Moonbeams of Mahāmudrā II (10)
Was also haben unsere Forschungen gezeigt? Die betreffende Erfahrungsqualität ist nicht Ich-haft, sie hat nichts Bewertendes, Auswählendes oder aktiv Handelndes an sich. Das heisst: Sie ist mühelos, stellt keine Reaktion auf irgendetwas dar und ist nicht zielgerichtet. Dementsprechend beinhaltet sie auch kein bewusst erlebtes Gefühl der Kontrolle. Niemand besitzt sie. Es gibt kein Gefühl von Meinigkeit. Sie ist ganzheitlich, es fehlt ihr an interner Struktur. Die phänomenale Signatur der Selbsterkenntnis besitzt in diesem Fall auch keine autobiografische Komponente. Sie erscheint als zeitlos und spontan präsent: Es gibt also keinerlei «inneres Narrativ», sie hat nichts mit Persönlichkeitsmerkmalen zu tun oder mit selbstbewusstem geistigem Handeln, einschliesslich selbstbezüglicher Gedanken oder Emotionen. Wenn wir die fragliche Phänomenologie wirklich ernst nehmen, dann gibt es einen starken Sinn, in dem das selbsterkennende reine Bewusstsein nichts mit Ihnen zu tun hat.
Diese spezifische Form von innerer Erfahrung war bereits jenen Gelehrten-Praktizierenden, die viele Jahrhunderte vor uns gekommen sind, gut bekannt und wurde von ihnen genau beschrieben, zum Beispiel in Form des tibetischen rang rig ye shes, das als «selbsterkennendes zeitloses Gewahrsein» oder «selbst-erkennende Wachheit» übersetzt wird. Die Brücke zur westlichen Tradition ist klar und deutlich erkennbar: Denn auch die philosophische Pointe von Meister Eckharts Begriff des «Seelengrundes» besteht ja eben genau darin, dass es sich bei der non-dualen Erkenntnis Gottes um eine Form von Selbsterkenntnis handelt.
Am Anfang habe ich gefragt: Warum ist geistliche Musik so schön? Was ist genau diese besondere Art von Innerlichkeit? Meine vorläufige Antwort lautet: Wirklich geistliche Musik entführt uns nicht in eine metaphysische Traumwelt, sondern sie ermöglicht eine ganz bestimmte Form von Selbsterkenntnis und geistiger Klarheit.
Was also ist «Geistlichkeit»? Geistliche Personen sind Menschen, die eine Offenheit für die in diesen Bewusstseinszuständen liegende Form von Erkenntnis besitzen und die sie deshalb in einer eigenen spirituellen Praxis kultivieren. Betrachtet man Geistlichkeit als eine Eigenschaft von Bewusstseinszuständen, dann ist sie das non-egoische Selbstbewusstsein: Sie ist das einfache und pure Gewahrsein des Gewahrseins selbst, sie ist die stille Klarheit, die zu sich selbst erwacht ist. Und geistliche Musik ist dann genau die Musik, die uns zu solchen Bewusstseinszuständen führt.
Wenn es stimmt, dass die vollständig von einem Ichgefühl befreite Qualität des sich-selbst-erkennenden Gewahrseins immer schon in uns ist, dass wir sie aber nicht «machen» können und eigentlich nur wiedererkennen müssen, und wenn es wirklich stimmt, dass diese klare, immer wieder zu sich selbst erwachende Stille die eigentliche Essenz dessen ist, was Geistlichkeit eigentlich, in Wirklichkeit ist – dann müssten wir genau diese Stille auch hinter der Musik entdecken können, in den Bewusstseinszuständen, die das Werk Johann Sebastian Bachs für uns öffnet.
[1] T. Metzinger (2014), Der Ego-Tunnel, München: Piper, S. 373–413. Siehe auch https://thomasmetzinger.com/.
[2] T. Metzinger (2023), Der Elefant und die Blinden, Berlin, München: Berlin Verlag.
[3] A. Gamma & T. Metzinger (2021), The Minimal Phenomenal Experience questionnaire (MPE-92M): Towards a phenomenological profile of “pure awareness” experiences in meditators. PLOS ONE 16 (7): e0253694.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0253694. Siehe dazu auch https://mpe-project.info.