Schau, lieber Gott, wie meine Feind

BWV 153 // zum Sonntag nach Neujahr

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Streicher und Basso continuo

Nicht weniger als drei unterschiedliche Choralsätze und ein Schlusslied mit sogar drei gesungenen Strophen – dass die Kantate «Schau, lieber Gott, wie meine Feind» zu Bachs Choraljahrgang 1724/25 gehört, lässt sich ihr jenseits aller historischen Belege auch direkt ablauschen. Während Bach jedoch seinen zwischen Weihnachten und Epiphanias immens geforderten Thomanern hier eine gut lösbare Aufgabe übertrug, hat er die Rezitative und Arien dieser Kantate mit kraftvollen Affektkontrasten ausgestattet, die mit dem nachweihnachtlichen Grundton dieses biblisch von der Flucht nach Ägypten und dem Kindesmord des Herodes inspirierten Librettos zu tun haben. Dass «Trübsalswetter» und «Unglücksflammen» am Ende in «Himmelsseligkeit» münden werden, lässt die vom Bass vorgetragene Zusage «Fürchte dich nicht» dabei immerhin erahnen.

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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Alt/Altus
Jan Börner

Tenor
Daniel Johannsen

Bass
Sebastian Noack

Chor

Sopran
Cornelia Fahrion, Linda Loosli, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel

Alt
Laura Binggeli, Stefan Kahle, Francisca Näf, Alexandra Rawohl, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Achim Glatz, Tobias Mäthger, Joël Morand

Bass
Serafin Heusser, Valentin Parli, Philippe Rayot, Oliver Rudin, William Wood

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Cecilie Valter

Viola
Martina Bischof, Peter Barczi, Matthias Jäggi

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Usama Al Shahmani

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
13.01.2023

Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Publikationen zum Werk im Shop

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
2. Januar 1724, Leipzig

Textdichter
David Denicke (Satz 1); Unbekannt (Sätze 2, 4, 6–8); Jesaja 41, 10 (Satz 3); Paul Gerhardt (Satz 5); Martin Moller (Satz 9)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Auf den ersten Blick ist verwunderlich, dass in dieser Kantate BWV 153 – aufgeführt am 2. Januar 1724 noch mitten in der Weihnachtsfestzeit – nicht von Friedensjubel, sondern von Feinden und Teufel, von Kampf und Furcht die Rede ist. Nicht aber auf den zweiten Blick, denn das Sonntagsevangelium von der Flucht nach Ägypten (Mt. 2, 13–23) wegen des drohenden Kindermords zu Bethlehem macht deutlich: Das Friedenskind kommt in eine unfriedliche Welt. Dies gilt auch für Christen, und das wiederum bestimmt die Kantatenthematik. Nicht weniger als drei unterschiedliche Choralsätze und davon das Schlusslied mit sogar drei gesungenen Strophen erinnern an Bachs im Frühsommer 1724 begonnenen Choraljahrgang, für den die Kantate «Schau, lieber Gott, wie meine Feind» strukturell gewissermassen eine Vorstufe darstellt. Während Bach dabei jedoch seinen zwischen Weihnachten und Epiphanias immens geforderten Thomanern eine vergleichsweise lösbare Aufgabe übertrug und seinen Bläsern gleich ganz eine verdiente Pause gönnte, hat er die Rezitative und Arien dieser Kantate mit kraftvollen Affektkontrasten ausgestattet. Sie haben tatsächlich mit dem nachweihnachtlichen Grundton dieses von der Flucht nach Ägypten und dem Kindesmord des Herodes inspirierten Librettos zu tun. Dass «Trübsalswetter» und «Unglücksflammen» am Ende in «Himmelsseligkeit» münden werden, lässt die an zentraler Stelle platzierte Zusage «Fürchte dich nicht» dabei immerhin erahnen.

1. Choral

Schau, lieber Gott, wie meine Feind,
damit ich stets muß kämpfen,
so listig und so mächtig seind,
daß sie mich leichtlich dämpfen!
Herr, wo mich deine Gnad nicht hält,
so kann der Teufel, Fleisch und Welt
mich leicht in Unglück stürzen.

1. Choral

Das Libretto überträgt das Evangelium aus Matthäus 2, 13–23 von der Gefährdung des Jesuskindes und der Flucht nach Ägypten auf das Glaubensleben der Christen und wählt dafür die Anfangsstrophe des Liedes von David Denicke in einem schlichten Choralsatz. Dieser Klagechoral aus dem Jahr 1646 handelt vom gnadenlosen Unglück, das Feind, Teufel, Fleisch und Welt bringen können.

2. Rezitativ — Alt

Mein liebster Gott, ach laß dichs doch erbarmen,
ach hilf doch, hilf mir Armen!
Ich wohne hier bei lauter Löwen und bei Drachen,
und diese wollen mir durch Wut und Grimmigkeit
in kurzer Zeit
den Garaus völlig machen.

2. Rezitativ

Das gestisch deklamierende Altrezitativ überführt die Klage in ein persönliches Bittgebet zu Gott, in das auch biblische Bezüge aus Psalm 57 und aus Daniel Kap. 6 eingewoben sind.

3. Arioso — Bass

«Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.»

3. Arioso

Die göttliche Antwort im Bassarioso auf das Stossgebet des Rezitativs ist ein wörtliches und tröstliches Zitat aus Jesaja Kap. 41, 10. Dieses von ihm mehrfach vertonte Dictum hat Bach dem Bass als sprechende «Vox Christi» anvertraut, dessen gesammelte Kantilene und fliessende Continuostütze trotz der abgedunkelten Molltonalität sanftmütige Sorge ausstrahlen.

4. Rezitativ — Tenor

Du sprichst zwar, lieber Gott, zu meiner Seelen Ruh
mir einen Trost in meinem Leiden zu.
Ach, aber meine Plage
vergrößert sich von Tag zu Tage,
denn meiner Feinde sind so viel,
mein Leben ist ihr Ziel,
ihr Bogen wird auf mich gespannt,
sie richten ihre Pfeile zum Verderben,
ich soll von ihren Händen sterben;
Gott! meine Not ist dir bekannt,
die ganze Welt wird mir zur Marterhöhle;
hilf, Helfer, hilf! errette meine Seele!

4. Rezitativ

Das scheint den bedrängten Beter noch nicht überzeugt zu haben, im Tenorrezitativ weist er Gott auf die immer noch wachsende Bedrängnis hin, die wiederum mit drastischen Wortbildern aus den Klageliedern 3, 12, aus Jeremia 11, 21 und 1. Johannesbrief 5, 19 verdeutlicht werden: Auf engem Raum versammelt Bach zahlreiche ausdrückende Mittel – vom gespannten Bogen todbringender Pfeile über den kreuzmässig ausgehauchten Abstieg des Sterbens bis zum anrührend flehenden Schlussandante.

5. Choral

Und ob gleich alle Teufel
dir wollten widerstehn,
so wird doch ohne Zweifel
Gott nicht zurücke gehn;
was er ihm fürgenommen
und was er haben will,
das muß doch endlich kommen
zu seinem Zweck und Ziel.

5. Choral

Die Antwort findet sich in der kraftvolltröstlichen 5. Strophe von Paul Gerhardts Lied «Befiehl du deine Wege» mit der Zusicherung, dass Gott nicht zurücknehme, was er zusage. So komme alles «zu seinem Zweck und Ziel».

6. Arie — Tenor

Stürmt nur, stürmt, ihr Trübsalswetter,
wallt, ihr Fluten, auf mich los!
Schlagt, ihr Unglücksflammen,
über mich zusammen,
stört, ihr Feinde, meine Ruh,
spricht mir doch Gott tröstlich zu:
Ich bin dein Hort und Erretter.

6. Arie

Nun ist der Beter überzeugt, in der Tenorarie lässt er sich vom «Trübsalswetter», von Fluten wie im Buch Jona, «Unglücksflammen» und Feinden unbeeindruckt von Gott Schutz und Rettung zusprechen. Dabei kostet Bach die Szenerie einer stürmischen Anfechtung mit zackigen Orchesterblitzen und scharfen Punktierungen ausserordentlich plastisch aus.

7. Rezitativ — Bass

Getrost! mein Herz,
erdulde deinen Schmerz,
laß dich dein Kreuz nicht unterdrücken!
Gott wird dich schon
zu rechter Zeit erquicken;
muß doch sein lieber Sohn,
dein Jesus, in noch zarten Jahren
viel größre Not erfahren,
da ihm der Wüterich Herodes
die äußerste Gefahr des Todes
mit mörderischen Fäusten droht!
Kaum kömmt er auf die Erden,
so muß er schon ein Flüchtling werden!
Wohlan, mit Jesu tröste dich,
und glaube festiglich:
Denjenigen, die hier mit Christo leiden,
will er das Himmelreich bescheiden.

7. Rezitativ

Das Bassrezitativ bekräftigt diesen Trost, der bedrängte Gläubige erinnert und vergegenwärtigt sich die Errettung des Christuskindes vom «Wüterich Herodes» und den «mörderischen Fäusten» seiner Knechte: «Wohlan, mit Jesu tröste dich, und glaube festiglich.» Jenen, die mit Christus leiden und diese (anrührend gezeichnete) Fluchtsituation überstehen, wird das Himmelreich versprochen.

8. Arie — Alt

Soll ich meinen Lebenslauf
unter Kreuz und Trübsal führen,
hört es doch im Himmel auf.
Da ist lauter Jubilieren,
daselbsten verwechselt mein Jesus das Leiden
mit seliger Wonne, mit ewigen Freuden.

8. Arie

Die tröstliche Perspektive des Rezitativs wird in der Altarie auf innige Weise weitergeführt: Im Himmel höre alles Leiden auf, da sei «lauter Jubilieren», eine Transformation hin zu «seliger Wonne» und «ewigen Freuden». Wie so oft wählt Bach für Konstellationen des bewältigten Leidens eine entspannt federnde Tanzform in pastoral schimmerndem G-Dur. Die neugewonnene Sicherheit gibt dabei am Ende sogar ausgesprochen «freudigen» Soprankoloraturen Raum.

9. Choral

1.
Drum will ich, weil ich lebe noch,
das Kreuz dir fröhlich tragen nach;
mein Gott, mach mich darzu bereit,
es dient zum Besten allezeit!

2.
Hilf mir mein Sach recht greifen an,
daß ich mein Lauf vollenden kann,
hilf mir auch zwingen Fleisch und Blut,
für Sünd und Schanden mich behüt!

3.
Erhalt mein Herz im Glauben rein,
so leb und sterb ich dir allein;
Jesu, mein Trost, hör mein Begier,
o mein Heiland, wär ich bei dir!

9. Choral

Unsere Klage- und Trostkantate schliesst mit den drei letzten Strophen von Martin Mollers Lied «Ach Gott, wie manches Herzeleid» (1587). Die versammelte Gemeinde stimmt in die hier verkündete Lehre und Ethik von Bedrängnissen und Leiden ein, die mit Blick und im Vertrauen auf Christus im Diesseits oder Jenseits überwunden werden.

Reflexion

Die Sprache nach der Flucht

Usama Al Shahmani

«Das Leben im Irak hat uns zu komplizierten Menschen gemacht. Du musst verstehen, dass ich das nicht absichtlich tue. Manchmal fühle ich mich, als ob ich die Hälfte meiner Sprache im Krieg verloren hätte und sich in der anderen Hälfte Wörter befänden, die ich nicht mag. Ich scheitere aber immer wieder daran, sie aus mir herauszulösen. Wie oft versuche ich, sie wegzuwerfen, doch sie kehren rasch zu mir zurück, als ob ich Stöckchenwerfen mit einem braven Hund spielte», sagte mir mein Vater am Telefon, als ich ihn vor ein paar Jahren bat, anders mit meiner Mutter zu sprechen und Geduld mit ihr zu haben. Nach dem Telefonat war ich verzweifelt. «Kriege verkürzen die Sprache und lassen sie mürrisch werden», sagte ich mir. Ich dachte an die Gespräche, die wir während meiner Studienzeit im Irak geführt hatten: «Im Krieg atmet die Sprache Russ ein. Das Wort verliert seinen Glanz und seine Schönheit. Im Krieg fallen auch Wörter, nicht nur Menschen, und je länger der Krieg währt, desto grösser wird der Friedhof der gefallenen Wörter.» In Kriegszeiten macht die Sprache etwas anderes als das, wofür sie eigentlich da ist. Sie öffnet unsere Welt nicht mehr, sondern begrenzt sie, sie zerstört Brücken, anstatt sie zu errichten, und sie vermag Mauern zwischen uns zu bauen. Viele Wörter wurden im Krieg aus ihrer Alltäglichkeit herausgerissen.

Während der Kriegsjahre im Irak verwandelten sich viele Wörter in ihr semantisches Gegenteil. Die Sprache hatte sich von einem Medium der Kommunikation zu einem Instrument der Spaltung entwickelt. Plötzlich fingen die Leute an zu reden, als wollten sie Gräben und Zäune zwischen einander bauen. Neue Wörter tauchten in den Strassen auf, in den Häusern, in Schulen und Gärten. Riesige, monströse Wörter und unerträgliche Sätze fielen auf den Alltag herab und verfolgten die Menschen bis in ihre Schlafzimmer. Die Gespräche nahmen scharfe Züge an, sogar die Sprache des Körpers wurde schmerzhaft, und es gibt eine Reihe von Wörtern, bei denen ich bis heute nicht verstehe, wie sich ihre Bedeutung verwandeln konnte – beispielsweise das Wort «cinema». Plötzlich bedeutete «cinema» nicht länger nur «Filmkunst » oder bezeichnete den Ort, wo Filme gezeigt werden, sondern bezog sich jetzt auf den Zustand des Menschen im Krieg. Damit deutete man an, dass das Leben im Krieg nicht real, sondern imaginiert sei – ein Schein, etwas, das gar nicht existiere. Der Mensch war nicht mehr als ein Träger seiner Rolle, ein Werkzeug seiner Sprache, die ihm aufgezwängt worden war und der er gehorchen musste. Bis heute verwenden viele Iraker das Wort «cinema», um einen hilflosen Menschen zu beschreiben. Ja, die Sprache vergisst nicht, was der Mensch erlebt. Kriege und Feinde bringen bestimmte Sprachen mit sich, die unmittelbar ins Gefäss einer Gesellschaft fliessen. Für die Iraker ist es bis heute unmöglich, die Sprache des Krieges von ihrer alltäglichen zu lösen.

Im Gilgamesch-Epos trauert der sumerische König Gilgamesch um seinen Freund Enkidu. Gilgamesch findet in der Sprache nichts, was ihn tröstet. Er lässt alles hinter sich und macht sich auf die Suche nach etwas in der Natur, das seinen Horizont erweitern könnte. Schliesslich schreibt er ein Gedicht, das bis heute als eines der grössten Epen der Literaturgeschichte gilt. Mit ihm schuf er die Sprache der Sumerer und damit ein Gefäss aus und für Sprache – ganz neu. Was ist vom sumerischen Erbe geblieben? Wie sieht das Gefäss aus, in dem ich meine Sprachen aufbewahre?

Bin ich das Gefäss und die Sprache ist der Inhalt oder ist es umgekehrt? Warum genügt die Sprache nicht immer, um einen Augenblick zu beschreiben, das Bild einer Wahrnehmung zu gestalten oder Wut aufs Papier zu bringen? Die Sumerer gebrauchten die Sprache und die Musik, um den wütenden Euphrat zu besänftigen, wenn er die umliegenden Landschaften und Dörfer überflutete. Sie feierten ein grosses Fest an seinen Ufern, entzündeten Kerzen und trugen Gedichte vor – bis die Frauen im Morgengrauen für den Fluss und die Flutopfer sangen.

Im Schweigen verlässt die Sprache das Sprechen. Sie wird unsichtbar. Meine Studienfreunde und ich gehören zu einer ganzen Generation von unsichtbaren Wörtern. Wir sprachen nicht in der Sprache des Krieges, aber sie sprach durch uns. Schweigen wurde zu unserem alltäglichen Zustand, und wir schwiegen auch in jenen Momenten, in denen wir hätten sprechen sollen. Wer sprach, musste mit schwerwiegenden Konsequenzen rechnen, und wer schwieg, musste den Schmerz des Unausgesprochenen aushalten lernen. Dieser notwendige Verzicht auf das Wort hat unsere Gefässe sicher beschädigt. Unter den unausgesprochenen Wörtern leide ich noch heute. Ich spüre sie, wie den kleinen Stein, der dir unwillkürlich in den Schuh springt und dich beim Gehen stört. Ich erinnere mich noch gut an den Beginn des Zweiten Golfkrieges am 15. Januar 1991. Ich war in Bagdad mit meinen Freunden Ali und Marwan. Wir verliessen die Wohnung. Es war eine winterliche, aber klare Nacht. Der runde Vollmond hing am Himmel wie ein grosses Auge, das die irritierten Menschen auf der Strasse beobachtete. Sie glichen einem Bienenvolk aus einem zerstörten Bienenstock: Sie suchten nach einer gemeinsamen Sprache, die ihnen verraten konnte, warum dieser Krieg so unerwartet und so kalt verkündet worden war. Ihre Gefässe für und aus Sprache waren nicht leer, aber die Diktatur frass alle althergebrachten Wörter allmählich auf. Statt Wörtern wuchs auf ihren Zungen etwas Seltsames. Niemand vermochte beispielsweise die Hoffnung auf Frieden in den Mund zu nehmen. Die Angst nistete auf ihren Zungen.

Meine Freunde und ich gingen in einen Park nahe der Universität und versuchten miteinander zu reden. Wir weinten, weil wir daran scheiterten, weil die Wörter verbrannt von unseren Lippen kamen. Uns war klar, dass ein Winter mit verschleierter Sonne vor uns lag, dass der Tigris die Segel seiner Boote zerreissen und im Wald das Echo verstummen würde. Schweigend kehrten wir zurück, bevor die Sonne aufging.

Die Hoffnung war klein, aber sie war da, und wir wussten, dass dieses verschollene Wort einst würde wiedergefunden werden. Das arabische Wort für «Hoffnung» ist «amal», und wenn man die letzten beiden Buchstaben an den Anfang stellt, wird das Wort «alam» daraus – es bedeutet «Schmerz». Wieso hat die arabische Sprache «Hoffnung» und «Schmerz» aus dem gleichen Stamm geschnitzt?

«Wenn du das Gefühl hast, dich nicht mit der Welt versöhnen zu können, dann musst du eine fremde Sprache lernen», sagte unser Professor, der uns an der Universität in Bagdad Linguistik lehrte. Und das ist genau das, was ich seit zwanzig Jahren in der Schweiz mache. Schon als Student lachte ich innerlich, wenn jemand behauptete, eine Sprache zu beherrschen. Ich betrachte mich eher als ein Kind, das am Strand der Sprachen krabbelt und brabbelt, auf der Suche nach dem Augenblick, von dem es noch gar nicht weiss, dass es ihn gibt.

«Was macht das Exil mit deinem arabischen Gefäss?», fragte mich mein alter Freund Marwan, als ich ihn 2016, fünfundzwanzig Jahre nach meiner Flucht, in Bagdad wiedersah.

Ich gab ihm keine Antwort, weil ich nicht wusste, wie ich seine Frage hätte beantworten können. Es gelang mir nicht, die im Halse steckenden Wörter herauszubringen. Ich hätte ihm erzählen sollen, wie die Exil- und die Muttersprache in zwei parallelen, geraden Linien verlaufen und wie diese Linien sich niemals kreuzen oder treffen, wie eine Sprache von der anderen lernt und nach Gelegenheit sucht, sich ihr anzunähern. Nach zwanzig Jahren im Exil weiss ich, was ich tun muss, wenn die Muttersprachen-Linie kürzer wird. Ich lernte, dem Flüstern meiner Muttersprache zu lauschen und dem Dröhnen des Krieges den Rücken zu kehren. Und ich lernte im Exil die Suche nach Synonymen vieler Wörter, die ich nur auf Arabisch kannte.

Vor ein paar Wochen kam ich wieder auf Marwans Frage zurück, ich schrieb sie auf ein Blatt Papier und legte sie auf den Schreibtisch in meiner Wohnung in Frauenfeld. Und anstatt Marwans Frage zu beantworten, schrieb ich ihm ein Gedicht:

Erinnerst du dich noch,

als der Krieg ausbrach,

du und ich sassen auf dem Boden

der Teppich im Himmel von Bagdad wurde zerrissen

der Wind schlug,

er trug sein Gewebe fort

eine Rakete fiel auf die alte Holzbrücke

über dem Tigris,

sie brach ihre Rippen ab,

die Sprache zitterte,

viele Wörter versteckten sich,

ein paar Verben, Nomen und Ideen warfen

sich in den Fluss,

König Gilgamesch ging aus dem Museum

in den Garten,

barfuss stand er vor dem grossen Kastanienbaum,

hob seinen Kopf in den Himmel,

vergeblich suchte er das zerrissene Gewebe,

Vögel flogen aus dem Baum auf,

Gilgamesch schrie laut,

sein Schrei trat in die Küchen, Schlafzimmer,

Schulhäuser,

die kleinen Kammern von Bagdads Volkstheater,

wo die Schauspieler ihre Kleider wechselten,

in alte Gassen,

wo Bücher auf der Strasse zum Kauf

ausgestellt wurden,

Gebärsäle im grossen Spital am Fluss,

wo du und ich zur Welt kamen,

auch in Ateliers drang sein Schrei ein,

in sogenannte Allah-Häuser, und in die Kunststrasse,

in der Gemälde verkauft wurden,

deren Künstler und Künstlerinnen anonym blieben,

wie du und ich, mein Freund.

Dann fror dieser Schrei ein,

abrupt wurde er zu dünnem Glas,

das in allen diesen Räumen zersplitterte,

mischte sich in den Sand,

näherte sich dem Tigris und versuchte, die Spuren

der Verben, Nomen und der Ideen zu verfolgen.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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