Der Friede sei mit dir

BWV 158 // zum 3. Ostertag

für Bass, Vokalensemble, Oboe, Streicher und Basso Continuo

Neben der berührenden «Kreuzstab»-Kantate und dem bekannten «Ich habe genug» füllt sie zwar viele CD-Kompilationen passgenau auf – doch fällt Bachs «dritte» Basskantate dabei immer ein wenig ab und aus der Rolle. Die Diskrepanz zwischen Weltabsage und Osterbotschaft verleiht der Komposition eine merkwürdige Spannung, die wohl auch mit der disparaten Überlieferung der nur in Abschriften von Bach-Schülern erhaltenen Komposition zu tun hat. Dabei wurde ein offenbar zum Fest Mariae Reinigung (Simeonstag, 2. Februar) gedachtes Werk in wahrscheinlich unvollständiger und uminstrumentierter Form für den 3. Ostertag umgewidmet.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 158

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Werkeinführung
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Bass
Peter Harvey

Chor

Sopran
Noëmi Sohn Nad

Alt/Altus
Antonia Frey

Tenor
Raphael Höhn

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Plamena Nikitassova

Violoncello
Maya Amrein

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Ingo Müller

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Hans Rudolf Merz

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
24.04.2015

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Komponist 1. Sinfonia 
Rudolf Lutz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1-3
unbekannter Verfasser mit in Nr. 2
eingefügtem Choral von Georg Albinus, 1649

Textdichter Nr. 4
Martin Luther, 1524

Erste Aufführung
möglicherweise am 3. Ostertag,
(27. April) 1734 (?)

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Rudolf Lutz‘ Ergänzung einer choralbezogenen Sinfonia zieht insofern die Konsequenz aus einer musikalisch unbefriedigenden Konstellation, indem sie die Osterbindung der Kantate in einer von den zeitgenössischen Bearbeitern nicht geleisteten Weise klarstellt und abrundet.

Das ausgedehnte Rezitativ, das vom Duktus her perfekt geeignet wäre, einen (heute fehlenden) Tutti-Satz über ein Bibel-Dictum argumentativ fortzuspinnen, verbindet die im Satzverlauf dreimal arios vorgetragene Segensgeste «Der Friede sei mit dir» mit einer einprägsamen Rezitation, die das Ostergeschehen als Sieg des Lammes und Befreiung vom drückenden Gesetz beschreibt. Das Zauberwort «Friede» bekommt dabei eine umfassende Bedeutung, die das Abwischen aller Tränen und die Ankunft in einem von Falschheit und Sorge befreiten Zustand und damit das unverstellte Menschsein in der Begegnung mit Gott einschliesst, spricht doch Christus hier nicht durch den Mund priesterlicher Vermittler, sondern «selber zu mir» und damit zu allen Menschen guten Willens.

Die Arie con Choral «Welt ade, ich bin dein müde» kombiniert eine lebensgesättigte Absage des Basses an das Weltgetümmel mit einem dem Sopran übertragenen Durchlauf des gleichnamigen Chorals von Johann Georg Albinus (1649). Anders als in vielen solcher Doppelsätze kommentiert Bach hier nicht einen frei gedichteten Text durch einen hinzugefügten Choral, der von der Singstimme Unsagbares als zweite Ebene hinzufügt. Vielmehr sind beide Textschichten in einer Weise identisch, die vor dem österlichen Hintergrund besondere Eindringlichkeit entfaltet. Eigentlicher «Star» der Satzanlage ist die solistische Violine, die ähnlich wie die Marienarie «Schliesse, mein Herze, dies selige Wunder» des Weihnachtsoratoriums Bachs besondere Beziehung zu diesem von ihm als Konzertmeister meisterlich beherrschten Instrument verdeutlicht. Die weise Naivität und edle Kantilene dieser Partie verleiht dem Satz eine himmelsgerichtete Grösse, die das irdische Leid und die köstliche Arbeit der menschlichen Vervollkommnung berührend in Klang setzt.

Das Bassrezitativ «Nun Herr, regiere meinen Sinn» bezieht sich erneut auf die Abschiedsmetaphorik des Simeonstages und drückt dabei glaubende Ergebung in den göttlichen Willen aus. Hier ist jemand nicht nur einverstanden, sondern aufrichtig erleichtert, das irdische Päckchen zur Seite legen und mit der «himmlischen Krone» der Gerechten vertauschen zu können. Der etwas abrupt wirkende Übergang zum Schlusschoral «Hier ist das rechte Osterlamm hat womöglich mit der Überlieferungs- und Bearbeitungssituation der Kantate zu tun – und kann doch als theologisch stimmige Herleitung aller jenseitstrunkenen Seligkeit verstanden werden.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Das Werk ist lediglich in Abschriften überliefert und seine Entstehung ist nicht völlig geklärt. Auch bestehen Zweifel, ob die nur in Abschriften des Bachschülers Penzel aus der Zeit nach 1755 erhaltene Kantate in der vorliegenden Form vollständig bzw. in der von Bach intendierten Satzfolge und Besetzung überliefert ist. Die Sätze 2 und 3 scheinen ursprünglich einer Kantate zum Fest Mariae Reinigung (2. Februar) angehört zu haben – klingt doch deren Vertonung nicht nur generell stark nach Bachs «Simeonskantate» BWV 82, sondern gerade das Rezitativ bezieht sich klar auf den Lobgesang Simeons (Lukas 2, 29-32). Ging es dort um das Thema des seligen Sterbens, steht am 3.Ostertag die Gewissheit der eigenen Auferstehung im Zentrum. Das Evangelium dieses Tages, Lukas 24, 36-47, berichtet davon, wie Jesus den Jüngern in Jerusalem erschien. Es erscheint vorstellbar, dass es sich zumindest in der Bestimmung zum 3.Ostertag um eine jener unter der Austeilung des Abendmahls musizierten «Zweitkantaten» handelt, wie sie Bach offenbar häufiger neben der predigtbezogenen «Hauptmusik» darbot.

1. Rezitativ (Bass)

Der Friede sei mit dir,
du ängstliches Gewissen!

Dein Mittler stehet hier,
der hat dein Schuldenbuch
und des Gesetzes Fluch
verglichen und zerrissen.
Der Friede sei mit dir,
der Fürste dieser Welt,
der deiner Seele nachgestellt,
ist durch des Lammes Blut
bezwungen und gefällt.
Mein Herz, was bist du so betrübt,
da dich doch Gott durch Christum liebt?
Er selber spricht zu mir:
Der Friede sei mit dir!

1. Rezitativ
Mit dem Wort «Friede sei mit euch!» begrüss­te der Auferstandene die verzagten Jünger. Im Rezitativ wird dieser Friedensgruss dreimal wiederholt und mit einer würdevollen ariosen Linie unterstrichen, die sich vom ­dazwischen geschalteten Rezitativ als eine Art komponierte Segnungsgeste abhebt. Das ängstliche Gewissen wird an Christus, den Mittler erinnert, der den Sünder gerechtfertigt und «das Schuldenbuch» zerrissen hat. Oder mit dem Bildwort aus Offenbarung 12 ausgedrückt: Der Fürst dieser Welt (Satan) ist vom Opferlamm bezwungen worden.

2. Arie (Bass) und Choral (Sopran)

Welt, ade, ich bin dein müde,
Salems Hütten stehn mir an;
Welt, ade, ich bin dein müde,
ich will nach dem Himmel zu,

wo ich Gott in Ruh und Friede
ewig selig schauen kann.
da wird sein der rechte Friede
und die ewig stolze Ruh.

Da bleib ich, da hab ich Vergnügen
zu wohnen,
da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen.
Welt, bei dir ist Krieg und Streit,
nichts denn lauter Eitelkeit;
in dem Himmel allezeit
Friede, Freud und Seligkeit.

2. Arie und Choral
Mit Einfügungen legte der unbekannte Dich­ter den Choral von Georg Albinus weiter aus. Mit «Salems Hütten» wird an das himmlische Jerusalem aus Offenbarung 21 erinnert, wo Gott bei den Menschen wohnen, ihnen «Vergnügen» (= volle Genüge) bereiten und den Getreuen die «Krone des Lebens» (Offen­barung 2, 10) geben wird. Die weit ausschwingende Violinpartie verleiht dem Satz einen Glanz, der zweifellos vom Bild des himmlischen Jerusalem inspiriert ist und als klingende Verkörperung des seligen Aufgehens in Gottes Hand angesehen werden kann. Der sprechende Themenkopf der Violine wird dabei zur gelösten Devise «Welt, ade» des Singbasses. Von der Oboe verstärkt, erweitert der Sopran-Cantus-firmus den Satz zur Choralbearbeitung, womit er der Erlösungsbitte zugleich gemeindliche Objektivität wie hörbaren Nachdruck verleiht. Alfred Dürrs Vermutung, dass die Oboe den Cantus firmus in einer (hypothetischen) Erstfassung der Kantate zu Mariae Reinigung ohne Sopranmitwirkung allein vortrug, hat einiges für sich.

3. Rezitativ (Bass)

Nun Herr, regiere meinen Sinn,
damit ich auf der Welt,
so lang es dir mich hier
zu lassen noch gefällt,
ein Kind des Friedens bin,
und laß mich zu dir aus meinen Leiden
wie Simeon in Frieden scheiden!
Da bleib ich, da hab ich Vergnügen
zu wohnen,
da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen.

3. Rezitativ
Der Beter spricht zwei Bitten aus: Er möchte, solange er noch auf der Welt ist, «ein Kind des Friedens» sein, d. h. ein Leben führen, das vom Frieden Christi bestimmt ist. Und er wünscht, dereinst wie Simeon getrost in Frieden sterben zu können. Die erstaunliche Festigkeit der Singpartie verweist auf die erfolgte Stärkung im Glauben, die bereits im Diesseits ein nicht nur kontemplatives, sondern durch­aus noch friedvoll-tätiges Loslassen ermöglicht. Das abschliessende Arioso nimmt daher bestätigend nochmals zwei Zeilen aus der vorausgegangenen Arie auf, die von der Vorfreude auf den entrückten Schmuck der «himmlischen Kronen» künden.

4. Choral

Hier ist das rechte Osterlamm,
davon Gott hat geboten;
das ist hoch an des Kreuzes Stamm
in heißer Lieb gebraten.
Des Blut zeichnet unsre Tür;
das hält der Glaub dem Tode für;
der Würger kann uns nicht rühren.
Alleluja!

4. Choral
Die 5. Strophe von Luthers Osterlied «Christ lag in Todes Banden» beschliesst die Kantate. Das Passalamm, das die Israeliten vor dem Auszug aus Ägypten schlachten mussten und dessen Blut an den Türpfosten sie vor dem Würgengel schützte (Exodus 12), ist ein Bild für die Erlösungstat des gekreuzigten Christus. Der womöglich erst später hinzugefügte, jedoch ebenfalls Bachsche Choralsatz verhilft der Kantate in ihrer österlichen Verwendung zu einem kraftvoll-archaischen Schluss.

Reflexion

Hans-Rudolf Merz

Den Frieden erjagen

Bachs Kantate «Der Friede sei mit dir» spricht von der Voraussetzung, die Frieden möglich macht: die Verantwortung des Einzelnen für sich selbst und für die Gemeinschaft. In diesem Sinne sind wir alle den Frieden Jagende, die grosse Geduld aufbringen müssen, um zum Ziel zu gelangen. 

Ich frage mich, ob sich die J. S. Bach-Stiftung wohl des Risikos, mich für eine Reflexion hier in der Kirche Trogen einzuladen, bewusst war? Warum? Ich muss achtgeben, nicht sinnesfreudig vom Erleben der damaligen Adoleszenz zu schwärmen. An diesem Ort erfuhr ich nämlich als Schüler meine religiöse Unterweisung. Im genius loci von Trogen befällt mich vor allem und ganz nostalgisch die nahezu ungebundene Freiheit der 50er Jahre in der Kantonsschule. Ich denke zum Beispiel an den Deutschunterricht zurück: Der Professor war ein grossartiger Rhetoriker. Doch wir empfanden seine Stunden mit leichtem Zähneknirschen als das pflichtgemässe Eintrichtern der literarischen Klassiker. Unsere Kür dagegen, das waren Boccaccio, de Beauvoir, de Sade, Brecht, Sartre oder Frisch – und dann natürlich Dürrenmatt. Mitschüler Alexander Malta, der nachmals berühmte Bass-Bariton, spielte nebenan im Kronensaal den Herkules im «Stall des Augias». Er trug ein gemietetes Tierfell. Ich selber inszenierte im Konvikt Dürrenmatts «Abendstunde im Spätherbst» und spielte die Rolle des Fürchtegott Hofer, also den frömmlichen Buchhalter aus Ennetwyl. Am Ende des Stückes musste ich mich durch Fenstersturz umbringen.

Zur Pflicht gehörten auch mittelalterliche Texte sowie althochdeutsche Wort- und Syntaxregeln. Verstaubtes. Für Romantik oder Mythologie waren wir Halbwüchsige zwar durchaus empfänglich, aber diese düstere Welt blieb uns irgendwie fremd. Die vier Abschnitte der heutigen Kantate hätten damals ohne jeden Zweifel zum Pflichtpensum gehört. Noch heute schaudert es mich ein bisschen, wenn ich lese:

«Der Fürste dieser Welt,
der deiner Seele nachgestellt,
ist durch des Lammes Blut
bezwungen und gefällt.» 

Oder:
«Ich will nach dem Himmel zu (…),
da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen.»

Frieden als Illusion?
Aber ich fand in diesem Kantatentext eine Stelle, die mich aufhorchen liess und zum Weiterdenken anregte. Sie lautet:

«Nun, Herr, regiere meinen Sinn,
damit ich auf der Welt,
so lang es dir mich hier
zu lassen noch gefällt,
ein Kind des Friedens bin».

«Ein Kind des Friedens»: Das ist ein kräftiger verbaler Lichtstrahl. Als ich mich unvoreingenommen, fast schon hermeneutisch an den Text machte, dachte ich spontan, dass wir es beim Titel der Kantate «Der Friede sei mit dir» bloss mit einem frommen Wunsch zu tun haben. Mit einer gut gemeinten Illusion. Mehr nicht. In solchem Zweifel fand ich Zuspruch. Zum Beispiel vom angesehenen Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Er schrieb kürzlich in der NZZ, der Traum vom Frieden müsse ein Traum bleiben, weil er die Möglichkeiten menschlichen Handelns übersteige. In der Tat. Während wir hier gemütlich in der feierlichen Wärme einer Kirche sitzen, spielen sich weltweit Krieg, Zerstörung, Elend, Flüchtlingsströme ab. Allein der Syrienkrieg forderte nach UNO-Schätzungen bisher 190’000 Tote. Weltweit sind rund 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Entlang dem mächtigen Landstreifen vom Atlas bis zum Himalaya gibt es kaum ein Land, in dem es nicht jeden Tag zu Anschlägen, Terror, Selbstmordattentaten kommt. Es geht um Territorien und Macht, vor allem aber um Religionen. Von den mittelalterlichen Kreuzzügen, vom 30-jährigen Krieg und den beiden Weltkriegen wollen wir gar nicht reden. Kriegstreiber waren und sind ausgerechnet Politiker und Geistliche. Sie, die den anvertrauten Mitmenschen das Leben, die Würde, vor allem die Freiheit sichern helfen sollten. Nicht genug: statt Weltfrieden in Sicht drohen nun an fernen Horizonten auch noch Rohstoffkriege. Das Zwischenfazit also: Kein Friede mit uns.

Vergebliches Streben nach Effizienz und Harmonie
Es gibt freilich in der heutigen Zeit auch von viel Friedfertigem zu berichten. Ich denke an die modernen demokratischen, republikanischen Ordnungen der westlichen Zivilisation. Sie ermöglichen am ehesten politische Vernunft und friedliche Koexistenz. Gegen Gewalt sind aber auch sie nicht gewappnet. Und internationale Organisationen sind meist zu schwach, um selbst für die Stabilität ihrer inneren Gleichgewichte zu sorgen. Ich habe während 7 Jahren in Washington eine Stimmrechtsgruppe des Währungsfonds präsidiert. Vor den Meetings gehörte die Sitzordnung zu meinen Hauptsorgen, nach den Sitzungen strömten die Minister und Bankgouverneure wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Dazwischen hat es oft geknackst und geknistert. Alte Fehden, Rankünen, Begriffsverwirrungen, Prestige usw. bildeten beim Verhandeln oft einen Parcours fast wie beim Agility-Training von Rassehunden. In globalen Institutionen wie der UNO ist es nicht wesentlich anders. Sie vermögen meist das Ärgste zu verhindern, streben jedoch vergeblich nach Effizienz und Harmonie.
Wir wissen, dass das alles aber nicht etwa neuer Zeitgeist ist. Das Alte Testament illustriert Gewalt und Krieg in Opposition zu Harmonie und Frieden auf das Mannigfaltigste. Selbst Gott wird als gelegentlich strafende, sanktionierende Instanz gebrandmarkt. Er zürnte bisweilen und verhiess ganzen Völkern Vertreibung und Untergang. Darauf hat sich Mose immer wieder berufen. Auf dem Weg zum verheissenen Land hat er etliche Völker zur Seite geräumt.

Die Gewalt ist in uns
Heute ist wissenschaftlich erwiesen, was man lange Zeit nur vermutet hat, nämlich dass der homo sapiens in seinem biologisch-evolutionären Erbe tatsächlich zur Gewaltausübung neigt. Gewaltausübung von Menschen an Menschen ist uns also inhärent. Der an der Universität Basel lehrende Religionswissenschaftler Stephan Peter Bumbacher zieht den Schluss, religiöse Gewalt sei theologisch begründbar. Obwohl die meisten Religionen Gewaltlosigkeit zum Ziel hätten, legitimierten sie religiöse Gewalt zur Stabilisierung der eigenen Macht, zum Gewinn von Territorien und von Ressourcen. Das macht die Sache für den Frieden aber nicht besser. Wir müssen das Thema anders angehen. Vielleicht so: Der Feldprediger des Appenzeller Infanterie-Regiments wählte einmal für die tägliche Morgenandacht vor dem Frührapport einen Vers aus dem Hebräer-Brief. Er lautet: «Jaget nach dem Frieden». Auf den ersten Blick gewahrt man einen Widerspruch einerseits zwischen Jagen, also einem verfolgenden Vorgang mit dem Potential für Gewalt, Vernichtung oder Gefangennahme und andererseits dem Frieden. Dann aber erkennen wir, dass der Friede eben nicht – im wahren Sinne des Wortes – vom Himmel fällt. Der unbekannte Verfasser des Hebräer-Briefes will damit vielmehr zum Ausdruck bringen, dass das Erzielen und das Bewahren von Frieden nur mit Anstrengung möglich sind. Der französische Friedensnobelpreisträger Aristide Briand formulierte es so: «Der Friede erfordert andauernden Dienst, unentwegt und zähe, er verlangt Ausdauer.» Die Prämie, die von Freunden des Friedens an die Feinde des Friedens gezahlt wird, kann also entsprechend hoch sein. Wer nämlich Frieden will, der halte sich kriegsbereit. Deshalb endet der Hebräerbrief ja auch mit den Worten: «Die Gnade (nicht der Friede, H.-R. M.) sei mit Euch allen.»
Folglich und in Weiterführung dieses Gedankens drängt sich der Schluss auf, dass jeder einzelne Mensch, Sie hier in der Kirche, Ich am Mikrophon und alle, die draussen uns nicht zuhören, den Frieden als Voraussetzung zur Lebensführung erjagen müssen. Meine Damen und Herren, darin steckt zutiefst empfundene Verantwortung. Friede beruht auf gutem Willen. Friede muss nämlich in den Herzen der Menschen willentlich entstehen. Willentlich deshalb, weil auch der Unfriede in uns wohnt.

Frieden ist kein Gnadenakt
Wenn die Verheissung der Kantate BWV 158 «Der Friede sei mit dir» nicht bloss frommer Spruch bleiben, sondern Realität werden soll, dann müssen wir diese Verheissung als eine persönliche Aufforderung annehmen und nicht als sich selbst erfüllenden Wunsch, als Geschenk oder als Gnade. Wir sollen den Frieden erjagen. Wir sollen für den Frieden Verantwortung übernehmen. So verstanden ist der Friede eine liberale Botschaft. Der Liberalismus ist bekanntlich die jüngste Errungenschaft in der langen Geschichte der Staatsphilosophie. Er hält Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und Freiheiten in einem Bündel zusammen. Seine Kardinaltugend ist die Eigenverantwortung. Nur wer zuerst für sich selbst Verantwortung trägt, ist stark genug, um alsbald auch für Mitmenschen und ihre Werte Verantwortung zu übernehmen. Zum Beispiel für jene, die unverschuldet in Not und Bedrängnis geraten. Oder eben für den Frieden. Wie entscheidend das Tragen von Verantwortung ist, um Böses nicht mit Frieden zu tarnen, das erfuhr ich in den Gesprächen und in den politischen Erlebnissen mit seinerzeitigen iranischen und libyschen Machthabern.
Daraus ergibt sich jetzt das Fazit unserer Reflexion: Der Friede sei mit dir, ja, einverstanden, aber du musst mit dem Frieden auch sein wollen. Du musst ihn erjagen.

Rudolf Lutz' Ergänzung einer choralbezogenen Sinfonia

Rudolf Lutz‘ Ergänzung einer choralbezogenen Sinfonia zieht insofern die Konsequenz aus einer musikalisch unbefriedigenden Konstellation, indem sie die Osterbindung der Kantate in einer von den zeitgenössischen Bearbeitern nicht geleisteten Weise klarstellt und abrundet.

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Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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