Nur jedem das Seine
BWV 163 // zum 23. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Violine I+II, Viola, Violoncello I+II, Basso continuo
Die Kantate «Nur jedem das Seine» BWV 163 wirkt wie ein kammermusikalisches Gegenstück zur Festkantate BWV 119. Dies hat nicht nur mit ihrer auf 1715 anzusetzenden Weimarer Entstehungszeit zu tun, sondern vor allem mit ihrer umgekehrten Blickrichtung. Werden doch in Salomo Francks Libretto die irdischen Autoritäten nicht als weise Obrigkeit gepriesen, sondern als unabänderliches Übel dargestellt, mit dem es in einer Welt der Auskunftspflichten und Rechnungslegungen zu leben gilt. Dabei wird das biblische Gleichnis vom Zinsgroschen im Sinne der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre so interpretiert, dass das «Herze» weiterhin dem «Höchsten» vorbehalten bleibt und somit Staat und Herrschaftsrecht ihre Grenze an einem Bereich der inneren (Glaubens-)Freiheit finden.
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Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Miriam Feuersinger
Alt/Altus
Markus Forster
Tenor
Johannes Kaleschke
Bass
Markus Volpert
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Dorothee Mühleisen
Viola
Susanna Hefti
Violoncello
Maya Amrein, Käthi Gohl Moser
Violone
Iris Finkbeiner
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Roland Moser
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
16.11.2012
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Salomo Franck (1659-1725)
Textdichter Nr. 6
Johann Heermann (1585-1647)
Erste Aufführung
23. Sonntag nach Trinitatis,
24. November 1715
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Entsprechend ist die klangschöne Eingangsarie überaus ökonomisch aufgebaut. Die prägnante Devise «Nur jedem das Seine» inspiriert den kompakten Streichersatz allerorten, wobei sich den Fortspinnungen eine gewisse Freudlosigkeit der Pflichterfüllung abhören lässt.
Das Bassrezitativ folgt musikalisch dem Argumentationsbogen des Textdichters. Aus einem demütigen Schöpferlob leitet er ab, dass alles irdische Vermögen von Gott gegeben und gewissermassen nur erborgt ist. Wenn Franck dann das ungetreue Herz als «schlechte Münze» bezeichnet, die abgesetzt werden müsse, also nicht mehr gültig sei, dann überträgt er das erprobte Verfahren der jährlichen Widerrufung abgelaufener Münzen, das neben dem Entzug von Falschgeld auch als verdeckte Steuer diente, auf das Gebiet der Seelenerforschung. Die bittere und eifernde Musik dieses Rezitativs zeigt, dass auch die geistliche «Münze» des Herzensopfers falsch werden kann, wenn darauf ein satanisches Götzenbild prangt.
Diese Bildwelt des Münzmachens und der monetären Zirkulation wird in der Bassarie weiter ausgesponnen. Singulär in Bachs Kantatenschaffen, wird die Singstimme von zwei obligaten Violoncelli begleitet. Diese erzeugen über einem emsig laufenden Bass eine Atmosphäre arbeitsamer Bewegung, die den Vorgang des «Schmelzens» und «Prägens» auf pittoreske Weise hörbar macht, wobei die tiefe Lage sämtlicher Stimmen auf den inwendigen Charakter dieses Vorgangs im «Bergwerk» der eigenen Seele verweist.
Einen ähnlich experimentellen Status besitzt das folgende Rezitativ, das als Duett von Sopran und Alt in kanonischer Form angelegt ist und mit seiner Dramatik weit in die Welt der frühdeutschen Oper eines Stölzel oder Keiser ausgreift. Das geschwinde Nachspiel geht so organisch in das Arienduett über, dass von einer Doppelform gesprochen werden kann. Die mittels kurzer Motive realisierte intensive Zuwendung der beiden Singstimmen zueinander verleiht dem Satz wie schon dem vorhergehenden Rezitativ Züge sowohl eines Liebesduetts wie einer geistlichen Motette im französischen Stil der «petit motet», die durch die instrumental hinzutretende Choralmelodie «Meinen Jesum lass ich nicht» eine deutsch-lutherische Färbung erhält.
Für den Schlusssatz hat Bach in der Partitur nur die knappe Angabe «Choral. Simplice stylo» notiert, die in Aufführungen und Notenausgaben ergänzt werden muss. Er beschliesst eine Kantate, in der Dichter und Komponist eine bemerkenswert unkonventionelle und klanglich erstaunlich süffige Annäherung an das ewige Thema der Gültigkeit von Werten und Bindungen vorgelegt haben.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Der Text dieser Kantate entstammt Salomon Francks Jahrgang «Evangelisches Andachts-Opfer» von 1715 und nimmt Bezug auf das Evangelium, Matthäus 22, 14–22: Auf die Fangfrage der Pharisäer, ob es rechtens sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen, antwortete Jesus: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!»
1. Arie (Tenor)
Nur jedem das Seine!
Muß Obrigkeit haben
Zoll, Steuern und Gaben,
man weigre sich nicht
der schuldigen Pflicht!
Doch bleibet das Herze dem Höchsten alleine.
1. Arie
«Suum cuique» (jedem das Seine) ist alter römischer Rechtsgrundsatz. Der Staat benötigt Steuern, um seine Aufgaben erfüllen zu können, und es ist daher Pflicht, ihm die geschuldeten Abgaben zu entrichten. Aber das Herz soll Gott allein gehören. Das musikalische Motiv zum Text «Nur jedem das Seine» durchdringt den ganzen Satz, wird von den Streichern immer wieder bekräftigt und prägt sich so unwiderstehlich dem Hörer ein.
2. Rezitativ (Bass)
Du bist, mein Gott, der Geber aller Gaben;
wir haben, was wir haben,
allein von deiner Hand.
Du, du hast uns gegeben
Geist, Seele, Leib und Leben
und Hab und Gut und Ehr und Stand!
Was sollen wir denn dir
zur Dankbarkeit dafür erlegen,
da unser ganz Vermögen
nur dein und gar nicht unser ist?
Doch ist noch eins, das dir, Gott, wohlgefällt:
Das Herze soll allein,
Herr, deine Zinsemünze sein.
Ach! aber ach! ist das nicht schlechtes Geld?
Der Satan hat dein Bild daran verletzet,
die falsche Münz ist abgesetzet.
2. Rezitativ
Nach biblischem Verständnis ist alles, was wir sind und haben, Gabe Gottes, uns als Lehen zu treuer Verwaltung übergeben. So fragt sich der Dichter, was der Mensch denn Gott geben könne, da ihm bereits alles gehöre. Das Herz könnte die «Zinsemünze» sein. Doch das menschliche Herz, das die Ebenbildlichkeit Gottes in sich trug, ist durch die Sünde verdunkelt.
3. Arie (Bass)
Laß mein Herz die Münze sein,
die ich dir, mein Jesu, steure!
Ist sie gleich nicht allzu rein,
ach, so komm doch und erneure,
Herr, den schönen Glanz bei ihr!
Komm, arbeite, schmelz und präge,
daß dein Ebenbild bei mir
ganz erneuert glänzen möge!
3. Arie
Wenn das Herz eine würdige Gabe für Gott sein soll, muss es neu werden. Wie alte Münzen eingeschmolzen und neu geprägt werden, so möge durch Christus der neue Mensch entstehen «nach dem Bilde seines Schöpfers» (Kolosser 3, 10). Dass der Dichter dieses Bild verwendete, erstaunt nicht, denn Salomon Franck, Sekretär des Oberkonsistoriums, war auch verantwortlich für das herzogliche Münzkabinett.
Bach legt ein ganz ungewöhnliches Quartett in Basslage vor: Bass (Singstimme), zwei Violoncelli und Basso Continuo. In den emsigen Bewegungen der beiden Violoncelli könnte man sowohl das «komm, arbeite, münz und präge» des Textes wiedererkennen als auch ein klingendes Bild für die Zirkulation des Geldes sehen. Immerhin hat Bach eine ähnliche Begleitfigur bereits für das Wort «Zinsemünze» des Rezitativs Nr. 2 komponiert.
4. Rezitativ (Duett Sopran, Alt)
Ich wollte dir,
o Gott, das Herze gerne geben;
der Will ist zwar bei mir,
doch Fleisch und Blut will immer widerstreben.
Dieweil die Welt
das Herz gefangen hält,
so will sie sich den Raub nicht nehmen lassen;
jedoch ich muß sie hassen,
wenn ich dich lieben soll.
So mache doch mein Herz
mit deiner Gnade voll;
leer es ganz aus von Welt und allen Lüsten,
und mache mich zu einem rechten Christen.
4. Rezitativ
Sopran- und Altstimme singen – für ein freies Rezitativ überraschend – in einem streng imitatorischen Duett davon, «Gott das Herz zu geben». Der Wille dazu ist vorhanden, aber die Kraft zum Vollbringen fehlt. Dass es gelte, die Welt zu hassen, ist zu verstehen im Sinn des Wortes Jesu, dass kein Mensch zwei Herren dienen könne, «denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon» (Matthäus 6, 24). Bach komponiert für diese inhaltsreiche Textpassage eine mehrteilige Form, die immer wieder vom Rezitativ in ein Arioso mit laufendem Bass übergeht und zahlrieche Koloraturen aufweist.
5. Arie (Duett Sopran, Alt)
Nimm mich mir und gib mich dir!
Nimm mich mir und meinem Willen,
deinen Willen zu erfüllen;
gib dich mir mit deiner Güte,
daß mein Herz und mein Gemüte
in dir bleibe für und für,
nimm mich mir und gib mich dir!
5. Arie
Die Bitte «Dein Wille geschehe» paraphrasierend bitten die Stimmen von Sopran und Alt gemeinsam um die Kraft, den Willen Jesu zu erfüllen und das Herz für immer ihm zu schenken. Was ein solches Herz singen kann, erklingt dazu unisono in den Streichern: Es ist die Melodie des Liedes «Meinen Jesum lass ich nicht.»
6. Choral
Führ auch mein Herz und Sinn
durch deinen Geist dahin,
daß ich mög alles meiden,
was mich und dich kann scheiden,
und ich an deinem Leibe
ein Gliedmaß ewig bleibe.
6. Choral
Die letzte Strophe aus Johannes Heermanns Choral «Wo soll ich fliehen hin» fasst den Gedankengang in einem Gebet zusammen. Im Neuen Testament wird die Kirche als der Leib Christi bezeichnet und die Glaubenden als Glieder an seinem Leib (Epheser 5, 30).
Während der Textdruck des Kantatenlibrettos zumindest die beiden ersten Choralzeilen verzeichnet, enthält Bachs autographe Partitur neben der bezifferten Continuostimme nur noch den Hinweis «Choral. Simplice stylo», was als Anweisung für eine schlichte Ergänzung des vierstimmigen Satzes zu verstehen ist.
Roland Moser
Vor-Bemerkung
Ach! aber ach! Sprachlaut als reiner Ausdruck, ohne «Bedeutung», Ausdruck ratloser Betroffenheit, sprachliches Innehalten, tönende Pause.
– Ach! aber ach! wie leicht nimmt ihn der Schwindel ein (Gryphius)
– Ach! aber ach! die Pein der Ewigkeit hat uns kein Ziel (Kantate 20, O Ewigkeit,
du Donnerwort)
– Ach! aber ach! mir graut, wenn ich in mein Gewissen gehe (S. Franck, Kantate 168)
– Ach! aber ach! das Mädchen kam/und nicht in acht das Veilchen nahm (Goethe)
– Ach! (letztes Wort in Kleists Amphitryon, von Alkmene gesprochen)
Nach-Denken, ein Versuch mit Musik an diesem Punkt der Ratlosigkeit einzusetzen. Sprache wird zunächst nur instrumental artikuliert, mit unterlegten Texten zwar, aber bloss in musikalischem Ausdruck fassbar. Die Bass-Stimme gelangt erst über einsilbige Sprachlaute allmählich zu einem Text, aus dem sie aber – im langen Rezitativ mit dem schattenhaft «sprechenden Orgelpedal» – wieder zurückgeworfen wird.
Nach-Denken über den Titel von Bachs Kantate Nur jedem das Seine.
Ein scheinbar ganz harmloses Wort, aber bereits vor zweieinhalbtausend Jahren von Sokrates im ersten Dialog von Platons «Staat» zerzaust, später im römischen Recht (suum cuique) festgeschrieben, ist in der eisernen Inschrift am Eingangstor zum Konzentrationslager Buchenwald zum unauslöschbaren Skandal geworden.
Bach interpretiert die Formel in der eröffnenden Tenor-Arie anders als sein Textdichter Salomo Franck. Jeder, wer ist das? Auf den Evangelientext bezogen (Matth 22, 15–22, … so gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist…) können hier nur zwei gemeint sein: die Obrigkeit (der Kaiser) und der Höchste (Gott). Dem ersten gebührt die Steuer, dem zweiten soll das Herz gehören. Es mag theologisch schon etwas unpassend anmuten, dass auch Gott dergestalt unter «Jedem» subsumiert wird… Bach ignoriert dieses Problem und komponiert klar einen Appell an das Volk, an jeden, indem er die ganze Formel in unablässigen Wiederholungen (da capo inklusive) vierundzwanzigmal vom Tenor und um ein mehrfaches von den Instrumenten artikulieren lässt.
Das Seine ist nach diesem Verständnis, was jedem gebührt: dem Guten das Gute, dem Bösen das Böse. Weder der Kaiser noch Gott sind hier gemeint, sondern jeder schuldbeladene Christ. Die platte Gerechtigkeitsformel ist allerdings kaum «christlich» zu nennen, und schon Sokrates hat früh ihre Absurdität durchschaut.
Die Komposition Ach! aber ach! in Form eines Rezitativs mit Choral bezieht sich denn auch nicht auf den Titel der Kantate, sondern auf deren erstes Rezitativ mit Bassstimme: … Ach! aber ach! ist das nicht schlechtes Geld? Der Satan hat dein Bild daran verletzet, die falsche Münz ist abgesetzet. Sie geht aus von Verzagtheit angesichts eines «Geschäfts», das wohl nimmer der Logik folgend aufgehen wird. So ist der Gnadenwunsch, der im Choral steckt – in dieser Version eher zögernd als selbstbewusst vorgebracht – wohl das was hoffentlich… bleibe.