Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust
BWV 170 // zum 6. Sonntag nach Trinitatis
für Alt, Oboe d’amore, Flauto traverso, Organo obbligato, Streicher und Continuo
Die über das Erbteil seines Sohnes Carl Philipp Emanuel überlieferte Kantate BWV 170 gehört trotz ihrer Besetzung nur für Alt solo zu den besonders kontrastreichen Entwürfen Bachs. Ihre zu Beginn kaum vorhersehbare Wendung von elysischer Geborgenheit über schmerzliches Mitleiden bis hin zur heftigen Weltablehnung erklärt sich aus den inhaltlichen Spannungen des Librettos. Als Meditation über das Thema der Vergebung angelegt, schiebt sich das Stichwort der allgegenwärtigen Rachsucht immer mehr in den Vordergrund. Wie ein desillusionierter Sarastro verzweifeln der Beter und mit ihm der aufgeklärte Absolutist Gott an der Unvernunft der Menschen, die sich als unfähig erweisen, die geschenkte Freiheit verantwortlich zu nutzen – eine Situation, die wenig mehr als die distanzierte Flucht in Jesu‘ entrücktes «Wohnhaus» zulässt.
Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...
Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Alt/Altus
Andreas Scholl
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Plamena Nikitassova, Dorothee Mühleisen, Christine Baumann, Yuko Ishikawa, Christoph Rudolf, Ildiko Sajgo
Viola
Martina Bischof, Sarah Krone
Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe d’amore
Katharina Arfken
Fagott
Susann Landert
Flauto Traverso/Traversflöte
Anne Freitag
Organo Obbligato
Nicolas Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Juerg Kesselring
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
21.06.2013
Aufnahmeort
Teufen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Georg Christian Lehms (1684-1717)
Erste Aufführung
6. Sonntag nach Trinitatis,
28. Juli 1726
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die Eingangsarie entwirft im zartesten Siciliano-Rhythmus über getupften Bässen zunächst eine friedvolle Perspektive. Umhüllt vom pastoralen Klang der Streicher und der Oboe d’amore kann die Singstimme sich dem Ideal von Tugendhaftigkeit und Seelenlust hingeben, das wie eine Erinnerung an ein (verlorenes) Goldenes Zeitalter unschuldiger Gottesgeborgenheit in den intriganten Alltag und banalen Schmutz des frühneuzeitlichen Leipzig hineinleuchtet. Den Umschlag in das folgende Rezitativ erlebt der Hörer als regelrechte Vertreibung aus diesem paradies, dessen Traumwelt brutal dekonstruiert wird. Gottes Liebe bleibt dabei nicht nur unerwidert, sondern wird im «Sünden-Haus» der Welt zum Getöse von «Höllenliedern» gar mit «Füssen getreten».
Dass darauf in der anschliessenden Arie keine donnernde Strafpredigt, sondern eine Trauerklage des Mitleids und der Scham folgt, setzt eine der erstaunlichsten Eingebungen Bachs frei. Über einer bis zum Äussersten ausgedünnten Unisonobegleitung der Violinen und Violen weben zwei expressive Oberstimmen ihr an die langsamen Mittelsätze der Bachschen Orgeltrios gemahnendes Netz. Im Original zwei Manualen der grossen Orgel übertragen, werden sie in unserer Einspielung von Orgelpositiv und Traversflöte ausgeführt. Dazu tritt die Singstimme, die im schwärzesten Passionston ihr Lamento vorträgt. Dass der fast reglose Adagio-Gestus dennoch Raum für eine differenzierte Textdeutung lässt (das «freche Verlachen» im kapriziösen Duett der Oberstimmen), gehört ebenso zur Meisterschaft dieser Arie wie die textlich und musikalisch gekonnt eingeführte Reprise.
Die Instrumente verleihen im folgenden Accompagnato-Rezitativ dem Entschluss, alle niedrigen Regungen zu fliehen und den Abruf des Höchsten sehnsuchtsvoll zu erwarten, jenen Nachdruck, von dem die Schlussarie kündet. Deren tanzartiger Gestus verkörpert nicht weltliche Gesinnung, sondern die gegenüber allen Anfechtungen wiedergewonnene Festigkeit. Der heftige Tritonussprung «mir ekelt» bringt die Ablehnung der unreinen Welt mit schmerzlicher Deutlichkeit zum Ausdruck. Entsprechend haben die Tonwiederholungen des Continuo gegenüber der schwebenden Eingangsarie einen kämpferisch-ruppigen Charakter angenommen, während die Ausschmückung des Wortes «Ruhe» im Mittelteil die pastorale Traumwelt nochmals in Erinnerung ruft. Die Zwischenspiele der solistischen Orgel hat Bach in einer um 1746/47 anzusetzenden Neufassung der Traversflöte übertragen. Da der Quellenbefund darauf hindeutet, dass dies bereits Bachs ursprünglicher Intention entsprach, der 1726 das Fehlen eines virtuosen Flötisten womöglich eigenhändig an der Orgel kompensierte, haben wir die reizvolle Fassung für Flöte im Anhang dieser CD mit eingespielt.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Der Text von Georg Christian Lehms bezieht sich auf das Sonntagsevangelium, einen Abschnitt aus der Bergpredigt: «Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist ‹Du sollst nicht töten›; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! (Du Nichtsnutz!), der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig» (Matthäus 5, 20–22). Lehms’ sprachgewandte wie drastische Dichtungen haben Bach stets zu besonders sensiblen Entwürfen inspiriert. Die von ihm selten gewählte Bezeichnung Cantata entspricht dem Stilbefund einer radikal am Text orientierten solistischen Vertonung, die von der Seligkeit der Eingangsarie bis zur Weltverachtung des Schlusssatzes einen ungewöhnlich weiten Affektbogen beschreibt.
1. Arie (Altus)
Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust!
Dich kann man nicht bei Höllensünden,
wohl aber Himmelseintracht finden,
du stärkst allein die schwache Brust.
Drum sollen lauter Tugendgaben
in meinem Herzen Wohnung haben.
1. Arie
«Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen» verspricht Jesus denen, die bereit sind, von ihm zu lernen (Matthäus 11, 29). Wer zur Versöhnung bereit ist und die Weisungen Jesu beherzigt, kann diese «Seelenlust» finden. Bach hat dafür eine unnachahmlich zarte Pastorale komponiert, die im schwebenden 12/8-Takt und begleitet vom warmen Klang der getupften Streicher und der Oboe d’amore ein Bild kindlichen Vertrauens und beseelter Geborgenheit entwirft.
2. Rezitativ (Alt)
Die Welt, das Sündenhaus,
bricht nur in Höllenlieder aus
und sucht durch Hass und Neid
des Satans Bild an sich zu tragen.
Ihr Mund ist voller Ottergift,
der oft die Unschuld tödlich trifft,
und will allein von Racha, Racha sagen.
Gerechter Gott, wie weit
ist doch der Mensch von dir entfernet;
du liebst, jedoch sein Mund
macht Fluch und Feindschaft kund
und will den Nächsten nur mit Füssen treten.
Ach! diese Schuld ist schwerlich zu verbeten.
2. Rezitativ
Der Dichter schildert die Welt als «Sündenhaus» und beruft sich auf viel Hass und Neid, Lüge und Rachsucht, die man allenthalben antrifft, ein Zeichen dafür, dass der Mensch sich von Gott entfernt hat. Der Komponist hat sein eindringliches Rezitativ mit weiten Sprüngen und dissonierenden Klängen auf Schlüsselworten wie «Racha» und «Schuld» gewürzt.
3. Arie (Alt)
Wie jammern mich doch
die verkehrten Herzen,
die dir, mein Gott, so sehr zuwider sein:
Ich zittre recht und fühle tausend Schmerzen,
wenn sie sich nur an Rach und Hass erfreun.
Gerechter Gott,
was magst du doch gedenken,
wenn sie allein mit rechten Satansränken
dein scharfes Strafgebot so frech verlacht!
Ach! ohne Zweifel hast du so gedacht:
Wie jammern mich doch
die verkehrten Herzen!
3. Rezitativ
Menschen, die sich frech über Gottes Gebote hinwegsetzen und sich «nur an Rach und Hass erfreun», kann der Glaubende nur bedauern. Spricht doch auch Gott selber: «Mich jammert herzlich, dass mein Volk so verderbt ist» (Jeremia 8, 21). Bach hat für diese zwischen Mitleid und Verdammung changierende Betrachtung ein in seinem Werk nahezu singuläres Arrangement entworfen. Über einer hochliegenden Grundstimme der Unisonostreicher – das Aussparen der Basslage symbolisiert die Haltlosigkeit der «verkehrten Herzen» und die markanten Seufzerfiguren lassen den ob der menschlichen Verderbtheit verzweifelnden Propheten hörbar werden – erklingt eine von vertrackten Intervallen strotzende und auf zwei Klaviaturen verteilte Orgelpartie. Sie verbindet sich mit dem gewichtigen Soloalt zu einem besonders dichten und eigentümlich fahlen Tonsatz.
4. Rezitativ (Alt)
Wer sollte sich demnach
wohl hier zu leben wünschen,
wenn man nur Hass und Ungemach
vor seine Liebe sieht?
Doch, weil ich auch den Feind
wie meinen besten Freund
nach Gottes Vorschrift lieben soll,
so flieht mein Herze Zorn und Groll
und wünscht allein bei Gott zu leben,
der selbst die Liebe heisst.
Ach! eintrachtsvoller Geist,
wenn wird er dir doch nur
sein Himmelszion geben?
4. Rezitativ
Wer wollte nicht aus einer Welt fliehen, in der Gottes Liebe nur mit Hass und Ungemach vergolten wird. Jesus aber hat geboten, dass die Nächstenliebe auch unsern Feinden gelten müsse. So wünscht das Herz des Glaubenden, nahe bei Gott zu sein, der selber die Liebe ist (1. Johannesbrief 4, 8. 16). Der Glaube hofft, dass Gottes guter Geist in einem neuen Herzen wohnen werde wie im «Himmelszion», der neuen Stadt Gottes, von der die Offenbarung des Johannes spricht (Kap. 21), wo Gott bei den Menschen wohnen wird. Im Sinne der klanglichen Abwechselung ist dieses zweite Rezitativ als streicherbegleitetes Accompagnato gestaltet, das dennoch Raum für feinsinnige Textausdeutungen gewährt («flieht», «Liebe»).
5. Arie (Alt) mit Orgelsolo
Mir ekelt mehr zu leben,
drum nimm mich, Jesu, hin.
Mir graut vor allen Sünden,
lass mich dies Wohnhaus finden,
woselbst ich ruhig bin.
5. Arie
Die beiden ersten Zeilen erinnern an die Bitten des leidenden Hiob und des verzweifelten Propheten Elia. Gott erhörte sie nicht, sondern gab ihnen eine Zukunft und einen neuen Auftrag. So möchte auch der Glaubende einen Ort finden, wo er in der Ruhe, von welcher in Arie 1 die Rede war, leben und wirken kann. Bach hat sich zum Ausdruck leidenschaftlicher Weltabwendung an die Form einer Bourreé angelehnt, was dem vom giftigen Tritonussprung («Mir ekelt») geprägten Satz Züge eines grimmigen Totentanzes verleiht.
6. Bonustrack: Arie (Alt) mit Traversflöte
Jürg Kesselring
«Wie das Verstehen uns zu dem macht, was wir sind»
In der Kantate «Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust» vereinigen sich Text und Musik zu einem einzigartigen Plädoyer für Gleichgewicht und Besonnenheit, für Engagement und Gemeinschaft. Für den Neurologen Jürg Kesselring ist das Bemühen jedes Einzelnen, die Welt, in der er lebt, zu verstehen, sich physisch und mental von ihr gleichsam durchdringen zu lassen, die Voraussetzung für das Gelingen menschlicher Gemeinschaft. Die Welt ist wie eine Partitur, wie ein grosses musikalisches Werk, in der jeder Mensch seine Stimme hat. Um dieser Vorstellung einerseits gerecht zu werden, sie andererseits aber auch zu veranschaulichen, hat Jürg Kesselring seiner Reflexion die Form eines Gedichts gegeben.
Lass’ Dir nicht
entgehen,
zu verstehen,
dass Töne im Vergehen
entstehen
und schon im Entstehen
vergehen
und drum dem Verstehen
entgehen.
Eine Reflexion bedingt schon auch, dass wir etwas verstehen und als Neurologen verstehen wir vielleicht auch etwas von Musik, denn sie geht ja durch & durch zu uns und in uns herein, und sie geht durch uns hindurch. Das Gehirn, mit dem wir uns beschäftigen, ist als Organ der Ort, in dem der Eingang der Eindrücke aus der Welt und der Ausgang unserer Aktionen in die Welt organisiert sind. In unserer Vorstellung geht der Eingang über die Sinnesorgane, der Ausgang aber – immer! – über eine Art von Muskelaktivität. Ob ein Gehirn Aktivität auch direkt, d.h. ohne Vermittlung irgendeiner Muskelaktivität auf ein anderes übertragen kann, würde mich immer interessieren – ich wäre aber noch auf überzeugende Beispiele angewiesen, bis ich’s glauben würde. Das Bild, das ich liebe, heisst «Person» – von per-sonare: das, was hindurch tönt. Und wenn wir dieses Bild als dynamisches Gleichgewicht betrachten – und praktizieren! – so können wir auch den zunächst etwas fremd klingenden Kantatentext besser verstehen und über mein Lieblingswort der «Besonnenheit» aus dem Titel der Kantate ein Lebensmotto gestalten: «Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust»!
Musik ist doch, wie etwa jeder Blumenduft,
zunächst nur einfach unsichtbar bewegte Luft.
Als ob sie noch vom fernen Meere käme
und von dem Duft der weiten Welt noch etwas mit sich nähme,
so lenkt des Ohres Muschel sie zum Trommelfell.
Dort wird der Trommelrhythmus rasch zum Quell’
der Klopfsignale, welche Hammer, Amboss, Stapes weiterreichen
und noch einmal verwandelnd die Geheimniszeichen.
Sie klopfen leise ans ovale Fensterlein
und dieses lässt die Stimme und die Stimmung nun herein.
Herein zu wem?
Zunächst zur Schnecke nur mit ihrer feuchten Windung,
in der Membranen hängen gleichsam als Erfindung
der Saiten, die wir von den Instrumenten kennen,
auf denen Orte sich nach den Frequenzen trennen:
ganz vorne hohe, weiter oben tiefe,
als ob ein Geigenspieler tief im Innern schliefe.
Und wie auf Saiten nimmt ein Haar
die Schwingung dieser Flüssigkeiten wahr
und sendet die Impulse, die sich dort entwirr’n,
dann wohlgeordnet weiter ins Gehirn.
Doch wer ist dort
an jenem Ort?
Ich glaub’: ich bin’s!
Ich jedenfalls, ich werd’ von all’ dem so betört,
dass ich es bin, der plötzlich ganze Klänge hört
und denkt, vergleicht und sucht nach einem Sinn,
der mich als Hörender erfahren lässt: Ich bin.
Wie wird Musik denn mehr als leise Laute?
Erst wenn sie sich behutsam in vertraute
halb- und schon gewusste Klang- & Sinnbezüge fügen,
die aber, weil sie zukunftsoffen sind, noch nicht genügen.
Ich suche also Klänge, die mich dadurch nähren,
dass sie mir in der Welterkundung Sinn gewähren,
als könnte rechte Logos-Übersetzung heissen,
dass Worte und Musik mir einen Zukunftssinn verheissen.
Obwohl ich wohl baumweise Blätter gelesen,
so ist doch von Anfang die Frage gewesen,
ob es mir genügt, nur das Schwarze zu kennen,
mit dem sich die Noten vom Hintergrund trennen,
ob nicht diese weissen, dazwischenen Flocken,
die sich in die Striche und Bögen verschneien,
viel eher als Hintergrund Grundlage seien
und mehr als das Starre zum Träumen verlocken.
Wie Fische ihr Fleisch in den Gräten vernetzen
und Rinder das Beste ins Rippenstück setzen,
so sind in den Mauern der Kirchen die Fenster
nicht hohläugig drohende, leere Gespenster,
vielmehr wie die Augen ein Tor in die Welt,
durch das erst im Schauen ein Sinn sich erhellt.
Als ob in den Schatten an weiss-leeren Wänden
von fernher betrachtet wir eigentlich fänden,
dass Leute und Häuser und Kirchen doch nur
als Noten im Licht der Gesamtpartitur
wie Pausen und Takte exakt durch die Zeiten
den inneren Rhythmus als Spiegel begleiten.
Und klopft an mein Fenster der Schnee in Kristallen –
so seh’ ich als Grundform das Sechseck in allen,
wie kühl beim Betasten, wie schroff sie auch seien,
sie können im Sonnenlicht Feuer verspeien –
doch ebenso öffnen dazwischen sich Lücken,
die sich aus dem Dunkel des Himmels bestücken –
wie wir durch die Spitzen der Wäsche von Frauen
gespannt auf das heimlich Verborgene schauen.
«Wo warst Du, Adam?» fragte Böll.
«Ich war im Krieg!» kam dann die Antwort schnell.
Wenn einmal jemand mir, nach Jahr’ und Tagen
dieselbe Frage stellen tät’
und ich gerad’ noch Zeit hätt’, eh’s zu spät,
was würde ich denn wohl als Antwort sagen?
Zwar war auch ich im Krieg,
doch ging’s mir nie um Niederlage, nie um Sieg.
Im Libanon, Iran, Irak und Pakistan
war ich als Delegierter, als «Kannitverstan»
und lernte doch im Leid der andern viel verstehen,
durch ihre Augen neu die Welt zu sehen.
Ich wollte helfen, beider Seiten Not zu lindern,
den Frauen, Männern und besonders auch den Kindern
selbst in den schwersten Zeiten Sinn zu stiften,
die nur aus Missverständnis auseinanderdriften
damit Gemeinsamkeiten nicht der Einigung entbehren,
dank der sie sich durch die Geschichte zugehören.
Gemeinsamkeit war immer eines von den Zielen,
die meiner Meinung nach bei gar so Vielen
als eine Sehnsucht in den Herzen brennt,
die sucht, was eint und nicht nur das, was trennt.
Das Trennende ist immer destruktiv.
Gemeinsamkeit jedoch ist Grundmotiv,
mit der wir unser Weltbild bauen.
Die Kraft der Zukunft heisst: Vertrauen.
Sie übersteigt die Angst vor eigenem Versagen,
die wir so oft als Hemmnis in uns tragen.
Ein Zyniker vermag hier vielleicht einzuwenden,
ich liesse mich noch immer von der Hoffnung blenden.
Grad‘ wer so viel an Leiden hätt’ geseh’n
und fände diese Welt nur gut & schön,
der hätte von dem Ganzen nichts verstanden
und müsst’ im Irrenhause landen.
Ich aber seh’ den Weltenplan als Partitur
und mich als einen kleinen Spieler nur.
Ich will die zugedachte Stimme üben,
um sie mit Eifer, nach Belieben,
in den Gesamtklang einzufügen –
es wird wohl wenig sein – mir soll’s genügen.
Das Üben meiner Stimme macht mir Mut,
dass jeder andere, an seiner Stelle, Ebensolches tut.
Vielleicht wird einmal einer überfordert sein,
den Komponisten gleich als Null verschrei’n;
doch wird es recht gespielt, entstehen Harmonien
und schnell wird dann das Aufbegehr’n verzieh’n.
Das Leid ist nicht als Grundsatz in die Welt gestellt –
es bildet sich, sobald Gemeinsamkeit zerfällt.
Doch liegt’s an uns, ob unentwegt wir an ihr bauen,
und dies gelingt im Wechselspiel: Vertrauen.
Wer aber fürchtet, hier zu investieren, wird letzten Endes alles ganz verlieren.
Was ist denn wohl die schönste aller Gaben,
die wir – zumindest seit Geburt – schon immer in uns haben?
die mehr als alle andern der Gemeinschaft nützt,
mit der sie wiederum ein jedes ihrer Glieder schützt?
Der Grieche nennt sie Enthusiasmus,
die stärkste Waffe gegen den Sarkasmus,
der so viel Leid in diese Welt schon brachte.
Begeisterung jedoch, sie lässt ganz sachte
zunächst aus kleinen Tropfen von Ideen
mit Spinnenfäden Netze uns entsteh’n.
Die dienen einer Raupe wohl als Trampolin
und federn sie als Schmetterling zum Himmel hin.
Im «Enthusiamus» ist der Gott verborgen,
der uns erlöst von unsern Sorgen;
die Kraft, die selbst die Macht des Bösen
zu höher’m Guten kann erlösen
Doch nicht nur Gott steckt in dem Worte drin,
vielmehr ist’s noch ein tief ’rer Sinn:
das «en-» sagt nämlich, dass er in uns wohne,
dass jenes weltbewegende Gedicht vom Sohne
in unserm Leben die Erfüllung finde,
in jedem Menschen, jedem Kinde.
Wir brauchen’s nur in Taten zu entfalten,
dann werden wir gerechten Lohn erhalten.
Als Antwort auf die Frage: wer ich bin,
ergibt sich wie von selbst der Sinn:
Ich bin ein Teil von jener Kraft,
die nach der Partitur Gemeinsamkeiten schafft.
Versuch’ es mit Begeisterung –
denn ohne sie bleibt Leben nur ein Alibi.
Drum:
Lass’ Dir nicht entgehen,
zu verstehen,
dass Klänge im Vergehen
entstehen
und schon im Entstehen
vergehen
und drum dem Verstehen
entgehen.
Jürg Kesselring, Gedichte:
Leise Laute, 2010
Mit anderen Worten, 2012