Sie werden euch in den Bann tun
BWV 183 // Exaudi
Livestreaming
Nach den zwei pandemiebedingten Absagen der Kantatenkonzerte in den Monaten März und April müssen wir heute auch das Konzert von Freitag, 15. Mai 2020, absagen. Die epidemiologischen Verhältnisse haben sich in der Zwischenzeit zwar verbessert. An eine reguläre Durchführung eines Konzerts kann aber noch nicht gedacht werden. Die Kantate BWV 183 «Sie werden euch in den Bann tun» wird, ähnlich wie die beiden vorangegangenen Kantaten, wiederum als Konzert des 1-Mann-Ensembles Rudolf Lutz am Abend des 15. Mai aus der Kirche in Stein über ein Videostreaming erklingen.
Die auf ein Libretto der Leipziger Patriziertochter Mariane von Ziegler zurückgehende Kantate BWV 183 beginnt mit einem düsteren Johanniswort, das Bach bereits im Vorjahr 1724 im Rahmen der Kantate BWV 44 vertont hatte. An die Stelle der dortigen Aria-Chor-Form rückt in unserer Kantate ein Bassrezitativ, dessen exquisite Instrumentierung mit vier Holzbläsern einen entrückten Tonfall formuliert, der sich in der gesamten Kantate fortsetzt. In aller Entschlossenheit, für Glaube und Wahrheit notfalls sein Blut und Leben hinzugeben, scheint dennoch eine Zartheit auf, die sich in der von einem Violoncello piccolo begleiteten Arie «Ich fürchte nicht des Todes Schrecken» zu einem ergreifenden Tombeau steigert und später dem Heiligen Geist als Tröster tänzerische Verbindlichkeit und klangliche Wärme zuspricht.
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
15.05.2020
Aufnahmeort
Stein AR (AR) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen (Schweiz)
Textdichter
Erstmalige Aufführung
13. Mai 1725 ‒ Leipzig
Textdichter
Johannes 16, 2 (Satz 1); Paul Gerhardt (Satz 5); Christiane Mariane von Ziegler (Sätze 2‒4)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Rezitativ ‒ Bass
«Sie werden euch in den Bann tun, es kömmt aber die Zeit, daß, wer euch tötet, wird meinen, er tue Gott einen Dienst daran.»
1. Rezitativ
Das Johannesevangelium spiegelt die wachsenden Konflikte zwischen der jungen christlichen Gemeinde und der Synagoge, Sätze mit einer problematischen Wirkungsgeschichte. Bach bringt das eröffnende Bibelwort in die Form einer über stabilem Akkordfundament schnörkellos vorangetriebenen Rezitation, die durch den ungewöhnlichen Bläsersatz von je zwei Oboen d‘amore und da caccia jedoch eine fremdartige Sonorität und einen düster verkündenden Glanz erhält.
2. Arie ‒ Tenor
Ich fürchte nicht des Todes Schrecken,
ich scheue ganz kein Ungemach.
Denn Jesus’ Schutzarm wird mich decken,
ich folge gern und willig nach;
wollt ihr nicht meines Lebens schonen
und glaubt, Gott einen Dienst zu tun,
er soll euch selben noch belohnen,
wohlan, es mag dabei beruhn.
2. Aria
Umso eindrücklicher wirkt der folgende Arienbeginn, der in mehrfacher Hinsicht gegen alle Hörerwartung gesetzt ist. Folgt doch auf die rezitativische Kantateneröffnung kein kraftvoller Tuttisatz, sondern eine fragile Triokonstruktion aus spartanischer Continuo-Stütze, sanfter Tenorkantilene sowie einer Solostimme für Violoncello piccolo. Dessen zugleich durchdringender wie beseelter Ton verleiht dem ausgedehnten Satz den Charakter edler Klage und philosophischer Reflexion. Die einsichtsvoll vorgetragene Nachfolgeabsicht durch Ungemach und Tod hindurch ist so mit Anmutungen eines trauervollen Tombeaus durchzogen. Treue und Glaubensstärke gegen alle Anfechtung der Welt können hörbar einsam machen; Bach gelingt so eine besondere tönende Auslegung der johanneischen Voraussage, die ohne äusserliche Drohkulisse auskommt.
3. Rezitativ ‒ Alt
Ich bin bereit, mein Blut und armes Leben
vor dich, mein Heiland, hinzugeben,
mein ganzer Mensch soll dir gewidmet sein;
ich tröste mich, dein Geist wird bei mir stehen,
gesetzt, es sollte mir vielleicht zu viel geschehen.
3. Rezitativ
Die Bereitschaft, mit dem eigenen Leben einzustehen, war eine Grundstimmung des frühen Christentums. Hier ist der Horizont ausgeweitet: Unsere ganze Existenz «soll dir gewidmet sein». Bach setzt für dieses zweite Accompagnato – vielleicht eines der reichbesetztesten Beispiele dieses Satztypus bei ihm – neben den Streicherstimmen erneut auf den Mischklang der vier tiefen Oboen. Aber wie haben sich Klangwelt und Anmutung gegenüber dem Eingangssatz verwandelt – über liegenden Streicherakkorden strahlen die Holzbläser mit ihren paarigen Viertonfiguren Zutrauen und Geborgenheit aus, was dem entschlossen vom Alt vorgetragenen Bekenntnis innere Kraft, aber auch einen Hauch passionsartiger Zielstrebigkeit hin zu Lebensende und vielleicht Martyrium verleiht.
4. Arie ‒ Sopran
Höchster Tröster, Heilger Geist,
der du mir die Wege weist,
darauf ich wandeln soll,
hilf meine Schwachheit mit vertreten,
denn von mir selber kann ich nicht beten,
ich weiß, du sorgest vor mein Wohl!
4. Aria
Der Heilige Geist nicht nur als Schöpfer und Inspirator des Neuen, sondern auch als Tröster und Wegweiser: Wie oft bei Bach wird gewonnene Sicherheit auch hier in einem schwungvollen Tanzmetrum ausgedrückt, wobei alle Aura des Triumphs durch die erneut aparte Instrumentierung mit Streichern und unisono geführtem Solopaar der Oboen da caccia hinweggenommen wird. In deren eindringlich gedämpften Tongirlanden wird so die Stimme des Heiligen Geistes in seiner die kindlich vertrauende Sopranstimme sensibel kräftigenden Dimension unmittelbar wahrgenommen.
5. Choral
Du bist ein Geist, der lehret,
wie man recht beten soll;
dein Beten wird erhöret,
dein Singen klinget wohl.
Es steigt zum Himmel an,
es steigt und läßt nicht abe,
bis der geholfen habe,
der allein helfen kann.
5. Choral
Die Paul Gerhardts Lied «Zeuch ein zu deinen Toren» von 1653 entnommene Choralstrophe «Du bist ein Geist, der lehret» passt textlich wunderbar zur Absicht des Kantatenlibrettos. Nach den exquisiten Klangwelten der frei gedichteten Sätze wirkt die Choralmelodik zunächst steif und antiquiert, ja mit den einkomponierten Verzierungen fast ein wenig wie die Karikatur eines formelhaften Predigers. Doch vermag gerade die reiche Orchestereinkleidung dem ernsten Satz und seiner verbindlichen Lehraussage die nötige Fülle und Erdenschwere und stellenweise sogar Wärme zu verleihen.