Es erhub sich ein Streit

BWV 019 // Michaelisfest

für Sopran, Tenor und Bass, Vokalensemble, Trompete I–III, Pauke, Oboe I + II, Streicher und Basso continuo

Der Michaelistag war im alteuropäischen Jahreskalender ein wichtiges Datum, das den Übergang zum Winterhalbjahr markierte; sein kämpferischer Lesetext vom grossen Engelskampf im Himmel hat die Tonsetzer des Barock zu besonders schlagkräftigen Vertonungen angeregt. Dazu gehört Bachs Michaeliskantate BWV 19, deren Eingangssatz ohne jedes Orchestervorspiel mit einer turbulenten Vokalfuge anhebt und diesen wuchtigen Duktus bis zum Schluss beibehält. Dass Gottes Engel auch tröstende Gewissheit schenken und durch Tod und Leben hindurchtragen können, machen die mit lieblichen Oboen d’amore sowie dem kantablen Trompetenchoral «Ach Herr, lass dein lieb Engelein» begleiteten Arien klangsinnlich erlebbar, ehe der von obligaten Bläserstimmen überwölbte Schlusschoral wie eine Einladung zur persönlichen Himmelsreise anmutet.

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Julia Doyle

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Daniel Pérez

Chor

Sopran
Lia Andres, Guro Hjemli, Linda Loosli, Stephanie Pfeffer, Mirjam Wernli, Ulla Westvik

Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Lea Pfister-Scherer, Simon Savoy, Lisa Weiss

Tenor
Clemens Flämig, Manuel Gerber, Tiago Oliveira, Sören Richter

Bass
Jan Börner, Jean-Christophe Groffe, Valentin Parli, Daniel Pérez, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Yuko Ishikawa, Petra Melicharek, Ildikó Sajgó, Rahel Wittling, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti,  Matthias Jäggi, Claire Foltzer

Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt

Violone
Markus Bernhard

Trompete
Patrick Henrichs, Benedikt Neumann, Pavel Janeček

Pauke
Martin Homann

Oboe/Oboe d’amore
Andreas Helm, Thomas Meraner

Taille
Laura Alvarado

Fagott
Susann Landert

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Philipp Theisohn

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
19.08.2022

Aufnahmeort
Teufen (AR) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
29. September 1726, Leipzig

Textdichter
Christian Friedrich Henrici (Picander, Sätze 1–6), Unbekannt (Satz 7)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Der Michaelistag war im alteuropäischen Jahreskalender ein wichtiges Datum, das auch im Wirtschaftskreislauf den Übergang zum Winterhalbjahr markierte. Sein dramatischer Lesetext vom siegreichen Kampf des Erzengels Michael gegen den höllischen Drachen (Offenbarung 12, 7–12) hat die Komponisten des Barock zu besonders schlagkräftigen Vertonungen angeregt. Dazu gehört Johann Sebastian Bachs Michaeliskantate BWV 19, die am 29. September 1726 erstmals aufgeführt wurde. Das Libretto des unbekannten Textdichters, hinter dem man den späteren Nürnberger Pfarrer Christoph Birkmann (1703–1771) vermutet, stellt die Bearbeitung einer Michaelis-Dichtung von Bachs langjährigem Vorlagenschreiber Christian Friedrich Henrici (Picander) dar. Der wuchtige Eingangssatz ist ganz von der Atmosphäre des heilsentscheidenden Kampfes geprägt. Dass Gottes Engel auch tröstende Gewissheit schenken und durch Tod und Leben hindurchtragen können, machen hingegen die beiden Arien der Kantate klangsinnlich erlebbar, ehe der von obligaten Bläserstimmen überwölbte Schlusschoral wie eine Einladung zur persönlichen Himmelsreise anmutet. Dem im alten Leipzig zu Michaelis typischen Messetrubel stellt diese Kantate die Aufforderung zur inneren Einkehr und Rückbesinnung entgegen. Ihr Eingangschor erklang übrigens bereits 1819 und damit lange vor der Bach-Renaissance der Ära Mendelssohn nochmals als Sonntagsmusik in beiden Leipziger Hauptkirchen St. Nikolai und St. Thomas. Die Thematik des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Himmels und der Finsternis, passt gut zum inhaltlichen Bogen der Appenzeller Bachtage 2022 «licht und dunkel».

1. Chor

Es erhub sich ein Streit.
Die rasende Schlange, der höllische Drache
stürmt wider den Himmel mit wütender Rache.
Aber Michael bezwingt,
und die Schar, die ihn umringt,
stürzt des Satans Grausamkeit.

1. Chor – Der Eingangschor des unbekannten Textdichters paraphrasiert die Epistel des Michaelistages

«Und es erhub sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, und siegeten nicht, auch ward ihre Stete nicht mehr funden im Himmel. Und es ward ausgeworffen der grosse Drach, die alte Schlange, die da heisset der Teufel und Satanas» (Offenbarung 12, 7–9, Olearius-Bibel).

Bach hätte in seiner Vertonung dem Beispiel der Parallelvertonung seines Eisenacher Onkels Johann Christoph Bach folgen können, die mit einer geheimnisvollen Sinfonia samt nachfolgenden Trompetenfanfaren beginnt. Stattdessen löst er ohne Vorspiel eine dreiteilige Vokalfuge von dramatischer Atemlosigkeit aus, die die Zuhörenden förmlich in das endzeitliche Ringen hineinreisst.

2. Rezitativ — Bass

Gottlob! der Drache liegt.
Der unerschaffne Michael
und seiner Engel Heer
hat ihn besiegt.
Dort liegt er in der Finsternis
mit Ketten angebunden,
und seine Stätte wird nicht mehr
im Himmelreich gefunden.
Wir stehen sicher und gewiß,
und wenn uns gleich sein Brüllen schrecket,
so wird doch unser Leib und Seel
mit Engeln zugedecket.

2. Rezitativ

Auch das Bassrezitativ folgt dem Text aus Off. 12 und 20. Es erzählt vom Sieg Michaels über den Satan, knüpft dann an Picanders Dichtung an: «Uns kann kein einige Gefahr/in dem Beruff erschrecken/Weil uns die Engel immerdar/Mit ihrem Schutz bedecken.» Der statuarische Duktus der Rezitation macht deutlich, dass dieses Kapitel der Heilsgeschichte abgeschlossen ist und alles Weitere von der Präsenz der Engel in der Gegenwart redet.

3. Arie — Sopran

Gott schickt uns Mahanaim zu;
wir stehen oder gehen,
so können wir in sichrer Ruh
vor unsern Feinden stehen.
Es lagert sich so nah als fern,
um uns der Engel unsers Herrn
mit Feuer, Roß und Wagen.

3. Arie

In der Sopranarie hören wir ein wörtliches Zitat aus Picanders Dichtung: Weil Gott «Mahanaim» (=Engelsheere) schicke, könne man ruhig vor Feinden stehen, denn der Erzengel Michael lagere sich «so nah als fern» «mit Feuer, Roß und Wagen». Im entspannten G-Dur strahlen die warmen Klänge der über dem Continuo duettierenden Oboen d’amore ebenso wie die davon merklich beflügelte Sopranpartie eine Zutraulichkeit aus, der man sich im Sinne eines kontinuierlichen «englischen» Schutzes gern überlässt.

4. Rezitativ — Tenor

Was ist der schnöde Mensch, das Erdenkind?
Ein Wurm, ein armer Sünder.
Schaut, wie ihn selbst der Herr so liebgewinnt,
daß er ihn nicht zu niedrig schätzet
und ihm die Himmelskinder,
der Seraphinen Heer,
zu seiner Wacht und Gegenwehr,
zu seinem Schutze setzet.

4. Rezitativ

Am Tenorrezitativ liesse sich zeigen, dass Picander seinerseits auf eine ältere Liedstrophe von Justus Gesenius zurückgegriffen hatte: Eine Reflexion auf des Menschen Schwäche und Sünde, aber auch auf die «Wacht und Gegenwehr» der Schutzengel. Durch die beigefügte Streicherbegleitung kann dieser als so fehlbar beschriebene Mensch hörbar am Glanz der Engel teilhaben.

5. Arie — Tenor

Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir!
Führet mich auf beiden Seiten,
daß mein Fuß nicht möge gleiten!
Aber lernt mich auch allhier
euer großes Heilig singen
und dem Höchsten Dank zu singen!

5. Arie

Die Tenorarie formuliert eine Bitte an die Engel um Beistand sowie den Wunsch, «euer großes Heilig» (das Trisgagion aus Jes. 6 und Off. 4) von ihnen singen zu lernen. In schwebendem 6∕8-Duktus gehalten, entwickelt dieses Gebet um Schutz und Begleitung eine zu Herzen gehende Inbrunst. Dass Bach dieses zarte Gebilde noch um einen wortlos vorgetragenen Sterbechoral ergänzt und er diesen ausgerechnet der sonst lärmenden Tromba überträgt, zeigt ihn als souveränen Meister einer deutenden Klangregie: «Ach Herr, laß dein lieb Engelein, am letzten End die Seele mein, in Abrahams Schoß tragen.»

6. Rezitativ — Sopran

Laßt uns das Angesicht
der frommen Engel lieben
und sie mit unsern Sünden nicht
vertreiben oder auch betrüben.
So sein sie, wenn der Herr gebeut,
der Welt Valet zu sagen,
zu unsrer Seligkeit
auch unser Himmelswagen.

6. Rezitativ

Das Rezitativ folgt wieder dem Picandertext mit seiner Aufforderung, die Engel zu lieben, sie nicht mit Sünden zu vertreiben, damit sie – wenn man der Welt «Valet» sagen und sterben müsse, auch unsere «Himmelswagen» seien.

7. Choral

Laß dein Engel mit mir fahren
auf Elias Wagen rot
und mein Seele wohl bewahren,
wie Lazrum nach seinem Tod.
Laß sie ruhn in deinem Schoß,
erfüll sie mit Freud und Trost,
bis der Leib kommt aus der Erde
und mit ihr vereinigt werde.

7. Choral

Die Kantate schliesst mit der neunten Strophe aus dem Lied «Freu dich sehr, o meine Seele», welche das Bild vom Himmelswagen aufgreift: im Wunsch nämlich, dereinst mit den Engeln auf Elias Feuerwagen in den Himmel zu schweben, jedenfalls bis zur Auferstehung mit der Wiedervereinigung von Seele und Körper… Eigenständig geführte Trompeten und Pauken verleihen dem innigen Liedvortrag Glanz und Tiefe.

Reflexion

Reflexion Philipp Theisohn

Die Kantate, die wir gehört haben und nochmals hören, Bachwerkverzeichnis Nr. 19, nimmt ihren Ausgang bei einer ganz konkreten Stelle aus dem Neuen Testament, nämlich Offenbarung des Johannes 12, 7. Geschildert wird dort der Kampf des Erzengels Michael und seiner Engel mit dem Drachen, Teufel, Satanas, ein Kampf, der in der Bibel in drei Versen entschieden ist. Ich zitiere nach Luther:

Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel, 8 und siegten nicht, auch ward ihre Stätte nicht mehr gefunden im Himmel. 9 Und es ward ausgeworfen der grosse Drache, die alte Schlange, die da heisst der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen.

Das Echo dieser Verse hören Sie im Chor und im Rezitativ, es handelt sich um eine Nachdichtung der resp. mit der Lutherübersetzung. Die sich daran anschliessenden Arien und Rezitative entstammen in ihrer Vorform der Sammlung erbaulicher Gedancken (1725) Christian Friedrich Henricis (dort 434 ff.), der vermutlich auch für den Gesamtkantatentext verantwortlich zeichnet und dann wohl auch den Schlusschoral verfasst hat, in dem es um den Himmelswagen, Elias und Lazarus geht. So weit das Philologische, das man an dieser Stelle nicht zu weit treiben muss, das uns aber gleichwohl etwas weiterhilft, denn es hilft, diesen Kantatentext etwas zu untergliedern: Chor und erstes Rezitativ sind Adaption eines biblischen Textes, es folgt die Auslegung – allegorisch, moralisch, im Schlusschoral anagogisch. Also vierfacher Schriftsinn. Wir bleiben aber zunächst beim litteralen Sinn, also dem, was dasteht. Und wir bemerken zweierlei. Erstens: Im Gegensatz zur Bibelstelle verbringt der Kantatentext deutlich mehr Zeit mit dem Verlierer des Kampfes, dem Drachen, der Finsternis, in der er angeschmiedet ist, seinem Brüllen. Das geschieht nicht zwingend aus Empathie, auch wenn man voraussetzen darf, dass der Dichter des Kantatentextes Miltons Paradise Lostkannte und auch mit dem luziferischen Schicksal dementsprechend vertraut war. Im Licht der Kantate dient die anwährende Präsenz des Satans natürlich auch der Aktualisierung: Der Kampf in den Himmeln mag weit fort sein, lange vor uns, lange nach uns, aber der Teufel und seine Diener sind hier unten, leben mit uns, ihre Stimme ist stets vernehmbar. Wir müssen damit umgehen und wie wir das tun sollen, erfahren wir, wenn wir genau zuhören.

Zum Zweiten – und das ist das Eigentliche, worüber zu sprechen ist: Michael. Eine Lichtgestalt. Eine ungeheure Gottesgewalt, Erzengel, also der Herrscher aller Engel, er bedarf im Grunde keiner Einführung, er ist einfach da, besiegt den Drachen, das ist das, was er tut, das ist das, was er ist. Ihm untersteht auch die Kantate, die ja eben die Michaeliskantate ist, unterstehen die Stimmen – und zugleich weckt diese Figur auch unser Misstrauen, wie das für alle Lichtgestalten gilt. Warum ist das so? Weil Lichtgestalten bestimmten Produktionsbedingungen unterstehen, die uns hier sehr deutlich vor Augen geführt werden. Michael ist, wie das erste Rezitativ uns erinnert, «der Unerschaffne», und «unerschaffen» ist er in mehr als einer Hinsicht. Er, der von allen Heiligen der Kirche Meistverehrte, ist zugleich der einzige Heilige ohne eigene Geschichte. Natürlich gibt es Michaelslegenden, aber die bringen uns die Figur nicht näher, es sind Kämpfer- und Siegerlegenden, sie lassen keine Einfühlung zu, kein Mitleiden. Diese Figur besitzt keine Psychologie. Sie ist «unerschaffen», hat weder Geburtstag noch Geburtsort, sterben kann sie auch nicht, nicht einmal leiden. Nur siegen. Sie blendet.

Das ist durchaus problematisch. Unverkennbar ist der Gegenengel, der Drache, in seinem Sturz, in seiner Marter dem Menschen unvergleichlich näher als Michael. Doch was zunächst skandalös klingen mag, besitzt doch eine Wahrheit für sich: Das unbestreitbar Gute liegt uns fern, es ist Abstraktum, und das gilt auch für das Offenbarungsgeschehen, für den Kampf zwischen den letzten Mächten, in dem die Michael-Figur verortet wird. Wenn wir ehrlich sind, ist das kein Kampf, der uns zugänglich wird, der menschlich ist, es ist nicht Achill gegen Hector. Der Dichter des Kantatentextes weiss das – und gerade deswegen übernimmt er die trockene Diktion der Lutherübersetzung. «Es erhub sich ein Streit» ‒ Καὶ ἐγένετο πόλεμος ἐν τῷ οὐρανῷ ‒ und im Griechischen besitzt dieser Satz keineswegs mehr Passion als im Deutschen. Dieser Streit «ereignet sich» und, auch wenn Nietzsche nicht ganz zu Unrecht sagt, dass Gott sich keinen guten Griechen genommen habe, ist in dieser unpersönlichen Verbform doch vieles gesagt: Wir glauben ja zu wissen, was ein Streit ist, nämlich eine Entzweiung, eine Entgegensetzung zweier Parteien; und wenn wir an Streit denken, dann ist unsere Vorstellung dessen ganz auf die Gründe dieser Entzweiung gerichtet: Kollidierende Ansprüche, Missverständnisse, Reizbarkeiten. All das aber fällt hier weg: Der Streit zwischen Michael und dem Drachen braucht keine Begründung – und nur der Verlierer entwickelt ein emotionales Profil. Für den Sieger Michael bleibt nichts. Und deswegen darf der Text dann auch nicht nach dem ersten Rezitativ enden, sondern muss der Zuhörerschaft doch noch vermitteln, was sie mit Michael verbindet.

Das Eigentümliche an diesem Text ist sein Perspektivwechsel. Am Ende des ersten Rezitativs ist dem «wir» noch eine recht passive Position zugewiesen: Wir werden durch den brüllenden Drachen zwar geschreckt, doch dann eben «mit Engeln zugedecket», also vor dem Bösen geschützt. Das ändert sich aber nun. Mit dem Einsatz der Arie beginnt eine Reise: «Gott schickt uns Mahanaim zu», heisst es da, und das bedeutet nicht, dass Gott den Menschen etwas zukommen lässt, sondern dass er ihn an einen ganz bestimmten Ort schickt, nämlich an jenen Ort, an dem Jakob in Genesis 32, 2 die Engel Gottes trifft; er versteht, dass dies das «Heerlager Gottes» ist:

 כַּאֲשֶׁ֣ר רָאָ֔ם מַחֲנֵ֥ה אֱלֹהִ֖ים.

Und weil das Heerlager im Hebräischen eben «Machaneh« heisst, benennt er den Ort «Machanajim», das ist der hebräische Dual und bedeutet dementsprechend «zwei Lager». An diesen Ort also werden wir geschickt, und wenn es sich zunächst so liest, als ob es nur darum gehe, dass man dorthin gelange, um fortan eben von den Engeln beschützt zu werden, im «Stehen oder Gehen», so darf man nicht ganz naiv sein: «Wir» stehen «vor unseren Feinden» mit im Heer, um uns «Feuer, Ross und Wagen», inmitten einer sich innerweltlich fortsetzenden Schlacht, eines Kampfes um die Seele. Es hat schon seinen Hintersinn, dass «Machaneh» eben zu «Machanajim» wird: weil es um genau diese Doppelung geht. Himmel und Erde, aber auch Engel und Menschen, jedem ein Lager, gemeinsames Heer. Henricis Text spiegelt das: Die Engel schützen, sie sind aber auch Kampfgefährten – und die Doppelung geht sogar noch weiter.

Vordergründig bleibt der Mensch «ein Wurm, ein armer Sünder», der im Grunde dem Teufel nur entgehen kann, weil Gott so gnädig ist, ihm «der Seraphinen» Heer zum Schutze zu schicken. Allerdings: Derjenige, den die Seraphim umlagern, ist tatsächlich Michael, der Herr der Seraphim, jene Gestalt mithin, von der wir eben noch behauptet hatten, dass sie unnahbar, unprofiliert, ungebrochenes Licht sei. Tatsächlich ist sie das nicht, wenn man nur die Kantate durchschreitet: Das Niedere und das Hohe, der Wurm und der Erzengel spiegeln sich ineinander, komplementieren sich. Die Lichtgestalt leiht dem Menschen den zuverlässigen Schutz, so dieser sich auf ins Heereslager macht, sich wappnet; umgekehrt erhält Michael in den für sich Schutzlosen, stets Angefochtenen, Versuchbaren eine Vita, ein Profil, Geschichte. Diese Dialektik beruft die Kantate und betont zugleich ihre Brüchigkeit, die man dort suchen muss, wo die Geschichte und die Geschichten an ihr Ende kommen, die Heereslager gewechselt werden müssen: im Tod.

Hier könnte man sich nun gesondert den Schlusschoral betrachten, wo es dann ja um das Geleit der Streitwagen der Seele über den Tod hinaus und um die Auferstehung geht. Das versteht man rasch. Mir scheint es wichtiger, die grundlegende Reflexion dieses Textes noch einmal vorzunehmen: Seine Aufgabenstellung besteht, wie bereits ausgeführt, in dem schwierigen Unterfangen, eine Figur zu besingen, an der nichts haften bleibt, die im Grunde unerzählbar ist und die im Übrigen auch ausserhalb des Offenbarungsgeschehens, in der Henoch-Literatur, also in den Apokryphen, einfach nur eine unbezwingbare Kriegergestalt bleibt, ohne – wie man das heute nennt – «Backwoundstory», untraumatisiert.

Wir haben gesehen, dass der Text die Lösung darin sucht, dass er den von Engelsscharen umgebenen Michael sich in dem von Engelsscharen umgebenen Menschen spiegeln lässt, sodass dieser einen irdischen Wiedergänger im «anderen Lager» bekommt. Das beantwortet allerdings noch längst nicht die Frage, woher solch eine Figur wie der Erzengel Michael überhaupt stammt, wozu sie benötigt wird, was mit ihr «gesagt werden soll». Ich werde an dieser Stelle diese Frage sicherlich nicht hinreichend beantworten können, aber dann doch einen Hinweis geben. Eine «unerschaffne» Figur, von der es heisst, ihre Funktion bestehe unter anderem darin, den göttlichen Glanz abzumildern, damit die Schöpfung überhaupt in Kontakt mit dem Schöpfer treten könne: Eine solche Figur ist tatsächlich «Lichtgestalt», also ein Medium. Michael tritt weniger in Erscheinung, als dass er andere und anderes in Erscheinung treten lässt, zum Vorschein bringt. Das kann und wird in der jüdisch-christlichen Tradition erst einmal Gott sein, den er nicht nur vertritt, sondern dessen Anwesenheit Michael überhaupt erst markiert. Aber das ist keineswegs seine einzige Funktion.

Der Erzengel lässt die Dinge sichtbar werden, sein Triumph über seine Nemesis Luzifer besteht darin, dass dieser am Ende in seinem Licht erscheinen muss, wie auch überhaupt die Konturen all dessen, das sich hier unten ereignet, nur in diesem Licht zu erkennen sind. So weist uns der Kantatentext noch auf eine andere Spur: Wir erkennen uns als das, was wir sind, nur im Schein des «Drachenbezwingers», die Geschichte der Menschheit kann nur auf der Folie des Geschichtslosen verstanden werden, die Sündhaftigkeit nur unter den Auspizien dessen, der keine Anfechtung kennt. Zugleich aber ist offenkundig: Diese Gestalt ist keine Gestalt, der man nacheifern kann, eine Imitatio Michaelis kann es nicht geben. Michael bleibt eine Gestalt, die für uns nur vorstellbar ist, indem sie sich an uns und an der Welt bricht, die ohne den Widerstand unsichtbar bleibt. Sie braucht den Streit, der sich jetzt erheben wird.

Philipp Theisohn

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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