Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl
BWV 198 // Trauerfestakt
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto traverso I + II, Oboe d’amore I + II, Viola da gamba I + II, Liuto I + II, Streicher und Basso Continuo
Die Aufführung der Trauerode «Lass Fürstin, lass noch einen Strahl» BWV 198 am 18. Oktober 1727 in der Leipziger Paulinerkirche gehörte zu den grössten gesellschaftlichen Erfolgen, die Bach während seiner gesamten Laufbahn feiern konnte. Einer zeitgenössischen Zeitungsnotiz zufolge hatten sich «Fürstliche, Gräfliche Personen, hohe Ministris, Cavalliers und andere Fremde … nebst einer grossen Anzahl vornehmer Dames darbey eingestellet».
Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...
Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Sibylla Rubens
Alt/Altus
Annekathrin Laabs
Tenor
Bernhard Berchtold
Bass
Manuel Walser
Chor
Sopran
Lia Andres, Olivia Fündeling, Guro Hjemli, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Maria Weber
Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Liliana Lafranchi, Damaris Rickhaus, Lea Scherer
Tenor
Manuel Gerber, Nicolas Savoy, Walter Siegel, Jonathan Spicher
Bass
Daniel Pérez, Philippe Rayot, Oliver Rudin, Will Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Dorothee Mühleisen, Claire Foltzer, Sabine Hochstrasser, Yuko Ishikawa, Anita Zeller
Viola
Susanna Hefti, Martina Zimmermann, Matthias Jäggi
Violoncello
Martin Zeller
Violone
Iris Finkbeiner
Oboe d’amore
Dominik Melicharek, Philipp Wagner
Fagott
Susann Landert
Flauto Traverso/Traversflöte
Claire Genewein, Renate Sudhaus
Viola da gamba
Paolo Pandolfo, Amélie Chemin
Laute
Maria Ferré, Vincent Flückiger
Cembalo
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Andreas Urweider
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
20.03.2015
Aufnahmeort
Trogen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Johann Christoph Gottsched, 1727
Erste Aufführung
Trauerfeier für die Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, Christiane Eberhardine,
17. Oktober 1727, Leipzig
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Der Weg zu dieser grossangelegten Trauerkomposition für die am 4. September verstorbene Königin Christiane Eberhardine war lang und voller religionspolitischer Fallstricke. Lebte doch die aus dem Hause Brandenburg-Bayreuth stammende Herrscherin, die anders als ihr zum Katholizismus konvertierter Mann August der Starke dem lutherischen Glauben treu geblieben war, seit Jahren von ihrem Mann verstossen auf Schloss Pretzsch. Während die vom Hof verordnete Landestrauer insofern politischer Konvention entsprach, trauerten die protestantischen Untertanen aufrichtig um ihre tapfere Glaubensgenossin. Der Festakt der Universität Leipzig entsprang daher der Initiative des Studenten Hans Carl von Kirchbach, der für sein aufwendiges Prestigeprojekt mit dem Dichterfürsten Gottsched und dem Thomaskantor Bach die führenden Künstler der Stadt verpflichtete. Allerdings führte dies zu einem heftigen Streit mit dem für die reguläre Universitätsmusik zuständigen Nikolaiorganisten Görner, dem Kirchbach sein angestammtes Aufführungsprivileg nachgerade abkaufen musste. Gottscheds zehnstrophige gelehrte Ode wiederum musste noch in ein Kantatenlibretto «nach Italiänischer Art» mit Rezitativen und Arien umgewandelt werden. Bach – der die Aufführung vom Cembalo aus leitete – entwarf dafür eine besonders kunsthafte Komposition, deren exquisite Instrumentierung und nobler Tonfall in der mitsamt der Orgel schwarz verhängten Kirche gewiss eine besondere Wirkung entfaltete.
Mit der tragischen Tonart h-Moll, den eleganten Punktierungen, dem farbigen Mischklang aus Flöten, Oboen d‘amore, Streichern, Gamben und Lauten sowie dem unablässigen «Läuten» der Continuostimme erfüllt der Eingangschor die Anforderungen an eine höfische Trauermusik in perfekter Weise. Der intensiv deklamierende Chorsatz vermag es dann, zum Herzen der Zuhörer zu sprechen und Gottscheds elaborierte Poesie von «Salems Sterngewölben» nachdrücklich auf die Erde zurückzuholen. Zwei weitere Chorsätze – die vor der Trauerrede stehende zweiteilige Fuge «An dir, du Fürbild grosser Frauen» sowie der Schlusschor «Doch Königin, du stirbest nicht» – beziehen sich mit der Vorbildwirkung der königlichen «Glaubenspflegerin» und der daraus resultierenden Verpflichtung zu ewigem Gedenken auf die Zwecke der Trauerfeier und fungieren zugleich als haltgebende Pfeiler der Komposition. Die wirbelnde Gigue des Schlusschores wirkt dabei wie eine musikalische Chiffre der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Daseins; dass der vom lebendigen Nachruhm redende Text dagegen unverdrossen ansingt, verleiht dem Satz eine eigentümliche Spannung.
Dem königlichen Rang entsprechend sind sämtliche Rezitative als Accompagnati mit wechselnden Obligatinstrumenten vertont. Das Sopranrezitativ Nr. 2 («Dein Sachsen, dein betrübtes Meissen») und das Altrezitativ Nr. 4 («Der Glocken bebendes Getön») legen von Bachs Fähigkeit Zeugnis ab, auch längst abgenutzte kompositorische Topoi wie das «Trauerläuten» oder das klagende «Lamento» nochmals zu einer für alle Zeit gültigen Meisterschaft zu führen. Die über einem festgehaltenen Continuomotiv kreisenden Bläser-Seufzer des Tenorrezitativs Nr. 6 und die fein proportionierte dreiteilige Form des Bassrezitativs Nr. 9 verleihen dann jenseits aller Etikette anrührender Trauer Ausdruck.
In den Arien gelingt es Bach, der bildverliebten Sprache seiner Vorlage nachzugehen, ohne die stets weitgespannte Linie zu verlieren. Ob er das «Verstummen der Saiten» im pausendurchwirkten Streichersatz der Sopranarie erfasst, in der Altarie das gottgefällige «vergnügte Sterben» seiner «Heldin» mit elegischem Gambenspiel umhüllt oder in der erlesenen dreichörigen Klangschichtung der Tenorarie aus Traversflöte und Oboe d‘amore, Streichern plus Continuo sowie Gamben und Lauten «der Ewigkeit saphirnes Haus» erbaut – durchgängig werden zugleich das Herz, das Ohr sowie der Geist und Geschmack der Hörer angesprochen. Wenn der Leipziger Stadtchronist Vogel Bachs Komposition als eine «vortreffliche Music» bezeichnete, so darf man das als ein in dieser Form rares Kompliment werten. Dass Bach Teile seiner Trauermusik für seine heute nur noch in zwei Textbuchfassungen erhaltene «Markuspassion» wieder verwendete, lag angesichts der verwandten Sujets und Affekte hingegen nahe.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Die Kurfürstin Christiane Eberhardine, Gemahlin Augusts des Starken, hatte in Sachsen grosse Verehrung genossen, weil sie den Übertritt ihres Gemahls zum Katholizismus (zur Erlangung der polnischen Königskrone) nicht mitvollzogen hatte. Sie lebte von ihrem Gatten getrennt und starb am 5. September 1727 auf Schloss Pretzsch bei Torgau. Bald darauf ersuchte der Leipziger Student Carl von Kirchbach die Universität um die Erlaubnis zur Abhaltung einer Lob- und Trauerrede in der Paulinerkirche. Den Text zu einer Trauermusik bestellte er bei dem berühmten Dichter Gottsched und die Komposition dazu bei Bach, der sich gegen den nominell zuständigen Nikolaiorganisten Görner durchsetzte und mit der vielbeachteten Aufführung, die er vom Cembalo aus leitete, den wohl grössten öffentlichen Erfolg seiner Leipziger Zeit erlebte. Gottscheds Ode entspricht nicht der herkömmlichen Form des Kantatenlibrettos, sondern ist ein Strophengedicht. Bach hielt sich jedoch in seiner «nach italiänischer Art»
Erster Teil
1. Chor
Laß, Fürstin, laß noch einen Strahl
aus Salems Sterngewölben schießen,
und sieh, mit wieviel Tränengüssen
umringen wir dein Ehrenmal.
Erster Teil
1. Chor
Es erklingt der Ruf, die Fürstin möchte aus dem Sternenzelt des himmlischen Jerusalem noch einen Lichtstrahl auf die Trauergemeinde senden. Bachs reichbesetzter Eingangschor vermag es im schmerzvollen h-Moll, den gehobenen Ton einer Staatstrauer mit einer persönlich-eindringlichen Klage zu verbinden.
2. Rezitativ (Sopran)
Dein Sachsen, dein bestürztes Meißen
erstarrt bei deiner Königsgruft;
das Auge tränt, die Zunge ruft:
Mein Schmerz kann unbeschreiblich heißen!
Hier klagt August und Prinz und Land,
der Adel ächzt, der Bürger trauert,
wie hat dich nicht das Volk bedauert,
sobald es deinen Fall empfand!
2. Rezitativ
Das Leid ist gross. Volk und Land, Adel und Bürger trauern um die bedauernswerte Fürstin. Seufzer, Pausen und gedrückte Sechzehntelketten verleihen dem gepressten Schmerz Ausdruck.
3. Arie (Sopran)
Verstummt, verstummt, ihr holden Saiten!
Kein Ton vermag der Länder Not
bei ihrer teuren Mutter Tod,
o Schmerzenswort! recht anzudeuten.
Verstummt, verstummt, ihr holden Saiten!
3. Arie
Musikinstrumente sollen jetzt schweigen, denn sie vermögen der Trauer über den Tod der «teuren Mutter» nicht Ausdruck zu verleihen. Das beständige Abbrechen der Streicher-Gesten setzt das «Verstummen» ebenso bildhaft um wie die weiten Sprünge und redenden Pausen des Soprans.
4. Rezitativ (Alt)
Der Glocken bebendes Getön
soll unsrer trüben Seelen Schrecken
durch ihr geschwungnes Erze wecken
und uns durch Mark und Adern gehn.
O, könnte nur dies bange Klingen,
davon das Ohr uns täglich gellt,
der ganzen Europäerwelt
ein Zeugnis unsres Jammers bringen!5
4. Rezitativ
Das «bange Klingen» der Glocken soll «der ganzen Europäerwelt» die Trauer des Volkes kundtun. Bach komponiert dafür ein sukzessiv einsetzendes Orchestergeläut verschieden dimensionierter «Glocken». Dass nach zeitgenössischen Zeugnissen hier Blockflöten anstelle der Traversen eingesetzt wurden, ist angesichts der mit diesen Instrumenten verbundenen Trauer-Semantik vorstellbar.
5. Arie (Alt)
Wie starb die Heldin so vergnügt!
Wie mutig hat ihr Geist gerungen,
da sie des Todes Arm bezwungen,
noch eh er ihre Brust besiegt.
Wie starb die Heldin so vergnügt!
5. Arie
Die Fürstin starb «vergnügt», d. h. zufrieden und getrost. Denn sie hatte mutig die Angst vor dem Tod überwunden. Dazu passt die Besetzung mit zwei obligaten Gamben, die wie auch in Bachs Passionen charakterlichen Edelmut wie verhaltene Trauer repräsentieren. Allerdings verzichtet Bach im Interesse orchestraler Kompaktheit auf typische Facetten des Gambenspiels wie etwa Doppelgriffe.
6. Rezitativ (Tenor)
Ihr Leben ließ die Kunst zu sterben
in unverrückter Übung sehn;
unmöglich konnt es denn geschehn,
sich vor dem Tode zu entfärben.
Ach selig! wessen großer Geist
sich über die Natur erhebet,
vor Gruft und Särgen nicht erbebet,
wenn ihn sein Schöpfer scheiden heißt.
6. Rezitativ
Die Fürstin kannte «die Kunst zu sterben», und musste nicht erbleichen, als der Schöpfer sie hiess, von der Welt zu scheiden. Zwei Oboen d’amore verleihen dem von einer himmel-wärts strebenden Continuofigur getragenen Satz besondere Wärme. Sie könnten sowohl für die huldvolle Figur der gütigen Landesmutter wie für die göttliche Gnade des seligen Sterbens stehen.
7. Chor
An dir, du Fürbild großer Frauen,
an dir, erhabne Königin,
an dir, du Glaubenspflegerin,
war dieser Großmut Bild zu schauen.
7. Chor
Der Chor singt ein Lob auf die erhabene Königin, ein Vorbild, grossmütig und treu im Glauben. Dieser Vorbildfunktion entspricht die strenge altertümliche Fugenform mit ihren beiden kompakten Durchführungen.
Zweiter Teil («Nach gehaltener Trauerrede»)
8. Arie (Tenor)
Der Ewigkeit saphirnes Haus
zieht, Fürstin, deine heitern Blicke
von unsrer Niedrigkeit zurücke
und tilgt der Erden Dreckbild aus.
Ein starker Glanz von hundert Sonnen,
der unsern Tag zur Mitternacht
und unsre Sonne finster macht,
hat dein verklärtes Haupt umsponnen.
Zweiter Teil
8. Arie
«Der Ewigkeit saphirnes Haus» (Offenbarung 21, 19) lässt die Fürstin nun nicht mehr auf die Niederungen der armen Erdenwelt herniederschauen, sondern verklärt sie mit einem «Glanz von hundert Sonnen». Mit Holzbläsern, Streichern, Gamben und Lauten hat Bach dafür einen reichhaltig schimmernden und sanft schwingenden Orchestersatz entworfen, in den sich die Tenorstimme mit ihrer zwischen Liegetönen («Ewigkeit») und Koloraturen abwechselnden Kantilene einpasst.
9. Rezitativ (Bass)
Was Wunder ists? Du bist es wert,
du Fürbild aller Königinnen!
Du mußtest allen Schmuck gewinnen,
der deine Scheitel itzt verklärt.
Nun trägst du vor des Lammes Throne
anstatt des Purpurs Eitelkeit
ein perlenreines Unschuldskleid
und spottest der verlaßnen Krone.
Soweit der volle Weichselstrand,
der Niester und die Warthe fließet,
soweit sich Elb’ und Muld’ ergießet,
erhebt dich beides, Stadt und Land.
Dein Torgau geht im Trauerkleide,
dein Pretzsch wird kraftlos, starr und matt;
denn da es dich verloren hat,
verliert es seiner Augen Weide.
9. Rezitativ
Das «Vorbild aller Königinnen» hat allen irdischen Pomp verlassen und steht nun im weissen Gewand der Seligen vor dem Thron des Lammes (d. h. des Christus, vgl. Offenbarung 3, 5 und 7, 17). Das Land aber versinkt weit und breit in Trauer, denn es hat «seiner Augen Weide» verloren. In diesen mehrteiligen Rezitativsatz haben Textdichter und Komponist geschickt jene Kritik am katholischen Hofprunk eingeschmuggelt, der neben der offiziösen Trauer das Projekt der Gedenkfeier für die kompromisslos lutherische «Glaubenspflegerin» unterschwellig inspirierte.
10. Chor
Doch, Königin! du stirbest nicht,
man weiß, was man an dir besessen;
die Nachwelt wird dich nicht vergessen,
bis dieser Weltbau einst zerbricht.
Ihr Dichter, schreibt! wir wollen’s lesen:
Sie ist der Tugend Eigentum,
der Untertanen Lust und Ruhm,
der Königinnen Preis gewesen.
10. Chor
Der Schlusschor preist nochmals die Königin. Man wird sie nicht vergessen. Dichter werden aufgefordert, der Nachwelt das Andenken an sie zu erhalten. Der kantable Duktus und das ausgedehnte Vor- und Nachspiel verleihen dieser Chorarie höfische Würde und verhaltenen Trost.
Andreas Urweider
Tanz in den Himmel
Die Kantate «Laß Fürstin, laß noch einen Strahl» (BWV 198) besingt die Liebe der Sachsen für die unbestechliche Christiane Eberhardine, Gemahlin August des Starken, die nicht, wie er, zum Katholizismus übertreten wollte. Das Werk bringt Bach auch endlich die lang ersehnte Anerkennung in Leipzig.
Ein Schatten ist über das Land Sachsen gefallen. Christiane Eberhardine ist nicht mehr. Die Sonne hat sich verfinstert. Todesdüster. Vögel und Saitenspiel schweigen.
Jedoch
«Liebe ist starck wie der Tod
vnd Eiuer ist fest wie die Helle
Jr glut ist fewrig
vnd ein flamme des HERRN
Das auch viel Wasser nicht mügen die Liebe auslesschen
noch die ströme sie erseuffen
Wenn einer alles Gut in seinem hause vmb die Liebe geben wolt
so gülte es alles nichts».
So hat Martin Luther die Worte des Hohelieds in «Deudsch» gesetzt. (D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch 1545/Auffs new zugericht. Hohelied VIII, 6 f)
Und jetzt kommen zwei Bäche, der gut situierte, edle Student Carl von Kirchbach und der bescheidene Thomaskantor Johann Sebastian, nur Bach, der als mittelmässige Wahl zum Thomaskantor in Leipzig zugelassen wurde, weil man die damals vermeintlich Besten, Telemann in Hamburg und den ehemaligen Thomaner Christoph Graupner, Kapellmeister in Darmstadt, nicht gewinnen konnte.
«…da man nun die besten nicht bekommen könne, müsse man mittlere nehmen…» steht im Ratsprotokoll.
Telemann benutzte den ruhmvollen Ruf nach Leipzig dazu, sein Gehalt in Hamburg aufzubessern, Graupner wurde von seinem Dienstherrn nicht freigestellt, hatte jedoch die Grösse, Bach zur Wahl zu empfehlen, und die beiden Bäche «erseuffen» nun die Liebe nicht. Sie nehmen die Traurigkeit des Volkes auf und lassen Liebesflammen lodern.
Carl von Kirchbach hatte den Dichter Gottsched beauftragt, eine Hymne für die verstorbene Fürstin zu schreiben. Worte, die Bach dann nach seinem Gusto und mit seinem Temperament teilweise umschrieb, wohl so, dass er sie seiner Musik gefügig machte, vielleicht auch, um den Fürsten August den Starken etwas zu schwächen oder die Behörden in Leipzig zu ärgern, jedenfalls lud er seine Fürstin dazu ein, in den Himmel zu tanzen und dabei einen Strahl ihrer Anmut auf der Erde zu lassen.
Der Barock beschreibt eine listenreiche Epoche. Der in der Renaissance wiederentdeckte trompe-l’œil, die Augentäuschung, der bereits in Pompeji zur Anwendung kam, wurde im Kirchenbau spektakulär eingesetzt. Holz und Gips verwandelten sich malerisch in Marmor. Himmelsfahrten wurden im Kirchenraum vorgegaukelt. August, selber ein barocker, vielleicht auch wegen seiner Leibesfülle der Starke genannt – etwa 110 Kilo bei einer Leibeslänge von 1m76 – pflegte mit geschickter Propaganda die Legende, ein Hufeisen mit nackten Händen zerbrochen zu haben. Verschlagen beförderte er mit Schmiergeldern und Intrigen, die Sachsen nicht nur wirtschaftlich schwer belasteten, seine gezinkte Wahl zum König von Polen.
So war das wohl Brauch.
Augusts Frau, Christiane Eberhardine, die, protestierend, nie einen Fuss nach Polen setzte, Eberhardine, die wie ein Eber dem Winter und der Kälte ihres Gatten trotzte und sich weigerte, katholisch zu werden, zog sich traurig in ihr Schloss nach Pretsch zurück. Ihr Vater, Marktgraeinesf Christian Ernst von Brandenburg Bayreuth, hatte sie nach langem Zögern, jedoch weil sie mit einundzwanzig Jahren schon etwas alt und durchaus mannbar war, aus Gründen der Raison an den flatterhaften August verschachert.
So war das wohl Brauch.
Eine weitere Legende will, dass August mit vielen Mätressen in barocker Weise etwa 354 Kinder gezeugt habe. Eher Tatsache ist, dass ihm, während Christianes Niederkunft zu ihrem einzigen Kind, Friedrich August, von einer Kebse (Konkubine), Aurora von Königsmark, ein weiteres Kind geboren wurde. Mätressen gehörten damals durchaus zur Selbstdarstellung eines Fürsten, und sie begleiteten jenen auf rauschende, prunkvolle Feste, deren August nicht genug haben konnte.
So war das wohl Brauch.
Ein Brief Christianes an ihre Mutter zeigt eine feinfühlige, liebesfähige Frau, die sich nach ihrem Gatten sehnt, sich über «dessen lustparkeiten zu Venisse» also Venedig beklagt, und hofft, dass er «ein anter mahl bei mir verbleibt».
Solche Innigkeit war wohl nicht Brauch.
«Die Betsäule Sachsens» wurde Christiane im Volk genannt, von Protestanten als Lob, von Katholiken als Spott verstanden, aber eine unbewegliche Säule war sie mit Gewissheit nicht. Sie behielt lediglich Rückgrat und war weniger intrigant als es Brauch war. Wahrscheinlich mehr als ihr karnevalbetörter Gatte war sie italienischer Musik und französischem Ballett zugeneigt und vermutlich war sie, vor ihrer beleidigenden Heirat, eine lebensfrohe, anmutige Frau.
Der Student Kirchbach, der Dichter Gottsched und der Musiker Bach werden sie als solche wahrgenommen haben, und sie haben sie ohne trompe-l’œil, aber nicht ganz ohne trompe-l’oreille in faszinierende Sphären erhoben.
Allerdings wirkt die Dichtung auf Heutige etwas schwulstig. Wir leben ja diesbezüglich in etwas abgemagerter Zeit. Aber die Linienführung ist klar, die Aussage strikt: Christiane Eberhardines Anliegen waren für sie rein und August ist eigentlich ein Repräsentant von der «Erden Dreckbild».
Wochenlang liess August, vermutlich heuchlerisch, sicherlich machtbewusst, alle Glocken im Lande läuten. Bach verwandelt das Gedröhne in einen Tanz. In eine Liebeserklärung.
Genügend war er selber ja von Intrigen und Falschheiten betroffen. Wurde verhindert. Musste mit seinem Chor auf der Strasse um Almosen betteln. Die Kantate beschreibt nicht nur die Liebe zu und die Verehrung der verstorbenen Frau, sondern es klingt im Schlusschor auch die Freude auf, dass ihm endlich Recht widerfahren ist.
Eigentlich wollte die Universität ja die Ode von ihrem Musikdirektor Görner schreiben lassen. Sie unterlag, und Bach führte seine Ode vor den Leipziger Honoratioren auf. In der Folge wollte die Universität nichts mehr mit Bach zu tun haben. Jedoch sein Gehalt in Leipzig stieg.
So war das wohl Brauch.
Mein Augenmerk will ich aber jetzt doch auf das Frauenlob richten, das dem «Fürbild grosser Frauen» gilt. Die Kantate zielt nicht nur auf die Kritik am starken August, der Widersacher einkerkerte, anlässlich einer Feier für die Göttin Diana hunderte von Hirschen und Rehen in die Elbe treiben und niedermetzeln liess, nicht nur auf eine wunderliche, «der Music wenig ergebene Obrigkeit» in Leipzig, sondern sie stellt sich ebenso in eine Tradition des Frauenlobs und der Liebesdichtung. Ich denke spontan etwa an das «schir haschirim», das Lied der Lieder Salomons, eine der feinsten und kräftigsten Liebesdichtungen der Weltliteratur, ich denke aber auch an die erste Blüte europäischer Dichtung nach dem Rolandslied, dem Minnesang der Trobadors, der keuschen Verehrung der hohen, für den Dichter und Sänger unerreichbaren Frau, und ich denke seltsamerweise sogar im protestantischen Umfeld Leipzigs bei dieser Kantate an Mariendichtungen und Marienlieder.
Sänger, Dichter, Maler und gestaltende Künstler konnten nie sein ohne das Betrachten und Verinnerlichen der Frau, ihrer reizenden Gestalt und deren, für Männer geheimnisvollen Wesen. Der Geliebte im Hohelied sucht die Geliebte und flüchtet sie, bewundernd, übermannt, verängstigt und verwirrt.
Die Troubadoure preisen die Unerreichbare. Im deutschen Minnesang wird zwischen hoher und niederer Minne unterschieden, und spätestens in den Spruchdichtungen Walthers von der Vogelweide vermischt sich die Liebeslyrik mit politischen und gesellschaftskritischen Inhalten. Die geliebte Frau oder deren Lobpreis in der Minne steht dann, wie eine Säule, entgegen dem unguten Lauf der Geschehnisse.
Anlässlich der Trauerfeier für Christiane Eberhardine dürfte der Einfluss der Mariendichtung nicht unwesentlich sein. Die Himmelskönigin. Die Menschennahe und dann Entrückte. Selbst Protestanten und Aufklärer wie Kirchbach, Gottsched und Bach werden sich dem Frauendienst und Frauenlob nicht entzogen haben. Vielleicht bewusst, vielleicht auch nicht wirklich unbewusst.
Der Gottsched-Bachsche Text folgt in Wortfarben und Sprachklängen dem Salve Regina, das übrigens traditionell am Grab einer Person des «geweihten Lebens» gesungen wurde.
Christiane Eberhardine hat ihr Leben dem Protestantismus, dem Volk, und als selber irgendwie verwaiste, den Waisenkindern geweiht. Vielleicht, wie es damals noch nicht Brauch war, auch der Würde der Frau.
Verwaist: An ihrem Grab standen weder Gatte noch Sohn, wie es vielleicht selbst damals nicht Brauch war, und bereits ihr Vater hatte sie verdingt, nur die Glocken, vom Gatten befohlen, dröhnten hart sechs Wochen lang.
Jede absolutistische oder fundamentalistische Ideologie versucht, die Frau zu demütigen, niederzuhalten und zu missbrauchen.
So war es damals, so ist es heute noch Brauch.
Eberhardine war vermutlich widerständig.
Um meine Ansicht zum Marienlied zu begründen, zitiere ich aus dem Salve Regina.
In Deutsch, wie es Gottsched gewünscht hätte:
«Sei gegrüsst, o Königin,
Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsere Wonne
und unsere Hoffnung, sei gegrüsst!
Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas;
zu dir seufzen wir
trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,
deine barmherzigen Augen
wende uns zu.
O gütige, o milde, o süsse Jungfrau Maria.
O Fürstin, lass noch einen Strahl
Aus Salems Sterngewölben schiessen,
Und sieh mit wieviel Tränengüssen
Umringen wir dein Ehrenmahl.»
Das Wort Nachruf erhob sich aus dem Brauch, Verstorbenen etwas Gutes nachzurufen, sie dabei zu besänftigen, damit sie nicht wiederkommen. So hat ja auch das Wort Friedhof kaum etwas mit Frieden zu tun, sondern mit der Einfriedung oder der Mauer, die den Ort der Verstorbenen eingrenzt.
Wenn jedoch Dichter, Sänger und Künstler einem Menschen etwas nachrufen, geht es wohl nicht in diesem atavistischen Sinn darum, diesen Menschen, hier jetzt diese Frau, in solcher Weise ruhig zu halten und auszugrenzen. Im Gegenteil sollten deren Anliegen und deren Haltung weiterwirken.
Wie es bei klugen Trauerfeiern Brauch ist.
Aufklärer wie Gottsched wollten zudem ja auch nicht mit schönen Worten verschleiern und vernebeln, es ging und geht wohl eher darum, Lebende zu wecken und Zukünftige wach zu halten.
So solle es der Dichter und Sänger Brauch sein.
Zudem: Wie gerne hätte Johann Sebastian mehr sogenannt weltliche Musik geschrieben, die Christiane beförderte und liebte. An der Universität Leipzig wird gegenwärtig darüber geforscht, wie weit Christiane Eberhardine als eigentliche Vermittlerin für die Exporte der Leipziger Oper nach ihrem heimatlichen Bayreuth gelten könnte. Ihr zu Ehren wurden dort oft Opern gegeben.
Es gibt das beharrliche, in der Interpretation oft unterdrückte Wirken der Frau in der Kulturgeschichte. Musiker und Künstler in katholischer Tradition und die Rafinesse der römischen Kirche fanden möglicherweise eine Lösung in der Erhöhung Mariens.
Und Bach muss, entgegen der Meinung der von mir sehr geschätzten katholischen Hauptorganistin an der reformierten Stadtkirche Biel, Pascale Van Coppenolle, das Salve Regina und die Marientradition gekannt haben. Es gibt doch etwa das wunderbare «Prooemium in Re zum Salve Regina (alternatim)» von Hans Kotter, und Kotter war immerhin Hoforganist am sächsischen Hof zu Torgau, der in der Kantate auch besungen wird.
Fast eine Ironie im Lächeln des Lebens ist es dann, dass der jüngste Sohn Bachs, Johann Christian, nachdem er zum Katholizismus übergetreten war, um am Dom zu Mailand die Orgel schlagen zu dürfen, ein sehr schmelzendes galantes Salve Regina schrieb. Zum Lob der Frau.
Es ging Johann Sebastian um eine wirkliche Frau, um echte Trauer, vielleicht um die ars amandi und die ars moriendi, die Kunst zu lieben und die Kunst zu sterben; ebenso ging es um ein wirkendes, kulturbildendes Frauenbild, um die davon nicht zu trennende Gerechtigkeit und getreu dem soli deo gloria erhebt er, als wäre sie eine heilige, gotthafte, die Fürstin tänzerisch in himmlische Sphären.
Und schmerzlich stockende und sanfte süsse Melodien flossen ihm zu.
Jetzt aber soll der verkappte Minnesänger und vielleicht nur scheinbar marienskeptische Bach, Kraft der Fürstin, noch einmal klären und erhellen.
Wie es hier in Trogen Brauch ist.