Ich bin in mir vergnügt
BWV 204 // unbekannte Bestimmung
für Sopran, Traversflöte, Oboe I+II, Streicher und Basso continuo
Nur wenige Vokalstücke Bachs tragen den originalen Titel «Cantata» – diese Komposition für Sopran, Streicher und Holzbläser führt ihn als virtuos aufspielende Betrachtung über den Quell menschlicher Zufriedenheit allerdings zu Recht. Die auf den Operntexter Christian Friedrich Hunold («Menantes») zurückgehende Vorlage lebt vom Wechsel hochsprachlicher Arien und volkstümlicher Strophenreime – eine Spannung, die Bach in einer Musik eingängiger Tanzmodelle und eleganter Linienführungen überzeugend auflöst. Den um 1726/27 anzusetzenden Kompositionsanlass kennen wir nicht. Doch muss der Auftraggeber einiges von der besungenen «Seelengrösse» besessen haben, da er die im Libretto eingestreuten Spitzen gegen Eitelkeit und Besitzorientierung nicht nur souverän annahm, sondern als Maximen einer moralischen Lebensführung propagierte.
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Werkeinführung
Reflexion
Solisten
Sopran
Marie Luise Werneburg
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Éva Borhi, Péter Barczi
Viola
Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Markus Bernhard
Traversflöte
Tomoko Mukoyama
Oboe
Philipp Wagner, Laura Valentina Herzog
Fagott
Susann Landert
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referentin
Marie Luise Knott
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
23.02.2024
Aufnahmeort
Trogen (AR) // Evang. Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
um 1726/27, Leipzig (?)
Textgrundlage
Christian Friedrich Hunold (Sätze 1 bis 7, Beginn); unbekannter Dichter (Satz 7, Fortschreibung und Satz 8)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Rezitativ
Ich bin in mir vergnügt,
ein andrer mache Grillen,
er wird doch nicht damit
den Sack noch Magen füllen.
Bin ich nicht reich und groß,
nur klein von Herrlichkeit,
macht doch Zufriedensein
in mir erwünschte Zeit.
Ich rühme nichts von mir:
Ein Narr rührt seine Schellen;
ich bleibe still vor mich:
Verzagte Hunde bellen.
Ich warte meines Tuns
und lass auf Rosen gehn,
die müßig und darbei
in großem Glücke stehn.
Was meine Wollust ist,
ist, meine Lust zu zwingen;
ich fürchte keine Not,
frag nichts nach eitlen Dingen.
Der gehet nach dem Fall
in Eden wieder ein
und kann in allem Glück
auch irdisch selig sein.
1. Rezitativ
Der Text reiht lebenspralle Bilder der von aller äusserlichen Lust abgewandten Genügsamkeit aneinander, die sich von der höfischen Verschwendung und Selbstüberhebung absetzt («bin ich nicht reich und groß»). Bachs musikalische Umsetzung wählt dafür bewusst keinen «hohen» Ton, sondern setzt die poetischen Kurzzeilen wirkungsvoll in Szene.
2. Arie
Ruhig und in sich zufrieden
ist der größte Schatz der Welt.
Nichts genießet, der genießet,
was der Erden Kreis umschließet,
der ein armes Herz behält.
2. Arie
Als Ausdruck der auf sich selbst gegründeten «Ruhe» wählt Bach einen tänzerisch schwebenden Dreiertakt, der der von zwei Oboen begleiteten Singstimme über stabilem harmonischem Fundament Gelegenheit zum entspannten Aussingen gibt. Die abgedunkelte MollTonalität betont den seriösen Charakter.
3. Rezitativ
Ihr Seelen, die ihr außer euch
stets in der Irre lauft
und vor ein Gut, das schattenreich,
den Reichtum des Gemüts verkauft;
die der Begierden Macht gefangen hält:
Durchsuchet nur die ganze Welt!
Ihr suchet, was ihr nicht könnt kriegen,
und kriegt ihr‘s, kann‘s euch nicht vergnügen;
vergnügt es, wird es euch betrügen
und muss zuletzt wie Staub zerfiegen.
Wer seinen Schatz bei andern hat,
ist einem Kaufmann gleich,
aus andrer Glücke reich.
Bei dem hat Reichtum wenig statt:
Der, wenn er nicht oft Bankerott erlebt,
doch solchen zu erleben in steten Sorgen schwebt.
Geld, Wollust, Ehr
sind nicht sehr
in dem Besitztum zu betrachten,
als tugendhaft sie zu verachten,
ist unvergleichlich mehr.
3. Rezitativ
Der dichterische Duktus steigert sich zu manifester Reichtumskritik, die einschlägige Vergleiche aus der Handels- und Finanzwelt aufruft, um den Blick auf die im Menschen selbst angesiedelten «Schätze» zu lenken. Bach unterstreicht die Dringlichkeit dieser Aussagen durch ein feierliches Streicheraccompagnato und textbezogene Tempowechsel («wie Staub zeriegen»).
4. Arie
Die Schätzbarkeit der weiten Erden
lass meine Seele ruhig sein.
Bei dem kehrt stets der Himmel ein,
der in der Armut reich kann werden.
4. Arie
Die so gewonnene innere Freiheit drückt sich in einem musikalischen Entwurf aus, der im weichen F-Dur unermüdliche Brechungen der Solovioline mit einer betriebsam agierenden Solostimme verbindet. Einer Seele, die sich vom Zwang zur raffenden Beherrschung der «weiten Erde» nicht länger beunruhigen lässt, steht hörbar der Himmel offen, wobei Bachs Musik einem tätigen Begriff von «Armut» huldigt, der auf das zwar wenige, jedoch durch eigene Arbeit Gesegnete stolz zu sein vermag.
5. Rezitativ
Schwer ist es zwar, viel Eitles zu besitzen
und nicht aus Liebe drauf, die strafbar, zu erhitzen;
doch schwerer ist es noch,
dass nicht Verdruss und Sorgen Zentnern gleicht,
eh ein Vergnügen, welches leicht
ist zu erlangen,
und hört es auf,
so wie der Welt und ihrer Schönheit Lauf,
so folgen Zentner Grillen drauf.
In sich gegangen,
in sich gesucht,
und sonder des Gewissens Brand
gen Himmel sein Gesicht gewandt,
da ist mein ganz Vergnügen,
der Himmel wird es fügen.
Die Muscheln öffnen sich, wenn Strahlen darauf schießen,
und zeigen dann in sich die Perlenfrucht:
So suche nur dein Herz dem Himmel aufzuschließen,
so wirst du durch sein göttlich Licht
ein Kleinod auch empfangen,
das aller Erden Schätze nicht
vermögen zu erlangen.
5. Rezitativ
Wie es dem Libretto offenkundig «schwerfällt», sich aus der selbstverliebten Mehrdeutigkeit barocker Sprachspiele zu befreien, so entwickelt sich auch Bachs Vertonung – die hier dem Text in dessen eigener Ausdeutung nebenher den Spiegel vorhält – aus dissonantem Beginn hin zur verzückt bewegten Vertonung der die verschlossene Seelenmuschel öffnenden «Strahlen».
6. Arie
Meine Seele sei vergnügt,
wie es Gott auch immer fügt.
Dieses Weltmeer zu ergründen,
ist Gefahr und Eitelkeit,
in sich selber muss man finden
Perlen der Zufriedenheit.
6. Arie
Ein wahres Elysium gefasster Ergebenheit hat Bach der Arie «Meine Seele sei vergnügt» abgewonnen. Wie ein im 12/8-Takt mühelos durch die Wasser des «Weltmeers» schwebender Taucher kann die von kreisenden Flötenbewegungen begleitete Singstimme gelassen nach den «Perlen der Zufriedenheit» greifen.
7. Rezitativ
Ein edler Mensch ist Perlenmuscheln gleich,
in sich am meisten reich,
Der nichts fragt nach hohem Stande
und der Welt Ehr mannigfalt;
hab ich gleich kein Gut im Lande,
ist doch Gott mein Aufenthalt.
Was hilft‘s doch, viel Güter suchen
und den teuren Kot, das Geld;
was ist‘s, auf sein‘ Reichtum pochen:
Bleibt doch alles in der Welt!
Wer will hoch in Lüfte fliehen?
Mein Sinn strebet nicht dahin;
ich will nauf im Himmel ziehen,
das ist mein Teil und Gewinn.
Nichtes ist, auf Freunde bauen,
ihrer viel gehn auf ein Lot.
Eh wollt ich den Winden trauen
als auf Freunde in der Not.
Sollte ich in Wollust leben
nur zum Dienst der Eitelkeit,
müßt ich stets in Ängsten schweben
und mir machen selbsten Leid.
Alles Zeitliche verdirbet,
der Anfang das Ende zeigt;
eines lebt, das andre stirbet,
bald den Untergang erreicht.
7. Rezitativ
Erneut stellen drastische Metaphern die Vergänglichkeit der Welt und die Unzuverlässigkeit irdischer Freunde der Beständigkeit höherer Werte und Bindungen gegenüber. Entsprechend gerät auch das abschliessende Arioso nicht zum beschwingten Kehraus, sondern zu einer edel belehrenden Kantilene.
8. Arie
Himmlische Vergnügsamkeit,
welches Herz sich dir ergibet,
lebet allzeit unbetrübet
und genießt der güldnen Zeit,
himmlische Vergnügsamkeit.
Göttliche Vergnügsamkeit,
du, du machst die Armen reich
und dieselben Fürsten gleich,
meine Brust bleibt dir geweiht.
Göttliche Vergnügsamkeit.
8. Arie
Den Einsatz des vollen Ensembles hat Bach für diese Schlussarie aufgespart, die tonale Stabilität mit tänzerischer Beschwingtheit verbindet und gerade aus der Bindung an haltgebende Ordnungen himmlische Freiheit und Leichtigkeit gewinnt. Wo durch solche Lebensregeln alle Stände «Fürsten gleich» werden können, regiert als Erste unter Gleichen passenderweise die elegante Traversflöte der Aufklärung und nicht die protzige Trompete des Absolutismus.
Marie Luise Knott
Auch wenn hier vom Vergnügen die Rede ist, meine Damen und Herren, stelle ich mir vor, dass es bei tieferer Betrachtung Trauer war, die Bach zur Komposition dieser Kantate bewog. Doch was weiss man schon. Auch die Forschung weiss wenig darüber. Und immer wenn ich im Dunkeln tapse, fange ich an, mir durch Spekulation ein kleines Türchen zu öffnen. So erschliesse und erweitere ich mir die Welt. Versuche ich, mir ‒ wenn auch nur vorübergehend vielleicht ‒ einen Reim auf sie zu machen.
Doch lassen Sie mich beim Anfang anfangen. Als ich das erste Mal den Text der Kantate las, die wir soeben hörten, war ich befremdet. In Bachs Zeit bin ich nicht zu Hause. Und auch nicht in der galanten Literatur jenes Christian Friedrich Hunold, der den grössten Teil des Textes verfasst hat. Vier Rezitative lang singt eine Frauenstimme quasi dasselbe mit je anderen Worten: «Ich bin in mir vergnügt / Ich brauche keinen Ruhm / Ich trag mein Päcklein still, / … Ich fürchte keine Not, frag nicht nach eitlen Dingen. / Wer seinen Schatz bei andren hat, ist einem Kaufmann gleich, aus anderer Glücke reich», oder: «Meine Seele sei vergnügt, wie es Gott auch immer fügt.» ‒ Ein Text, der ganz bei Gott ist und, jedes Streben nach Reichtum, Grösse, Ruhm und Wollust verdammend, vergnügte Genügsamkeit feiert. Welch barocke Antitethik.
Ausgerechnet der Entstehungszusammenhang dieser weltlichen Kantate liegt im Dunkeln. Warum nur hatte Bach um 1727 diesen Hunold-Text von 1713 aus der Schublade gezogen. Und: Wer ist dieses Ich, das hier Abstinenz, Keuschheit und Askese preist? Warum das alles und warum mitten im 4. Rezitativ ‒ Sie haben es vorhin gehört ‒ diese Attacke auf die Freundschaft: «Nichts ist, auf Freunde bauen / Ihrer viel gehn auf ein Lot.» Warum nur? Freundschaften vermenschlichen doch die Welt!
Ich erinnere mich, wie gerne ich als Kind in der Kirche sang. «Was Gott tut, das ist wohlgetan, es bleibt gerecht sein Wille. Wie er fängt meine Sachen an, so will ich halten stille!» So lustvoll ich damals drauflosschmetterte – Gesang ist schliesslich Verkörperung –, etwas in mir wehrte sich gegen den Text: War wirklich alles wohl, was Gott getan? Und: Warum nur bitte schön sollte ich bei Gottes Willen stille halten? Etwa, weil Stille sich so schön auf Wille reimte? Ich jedenfalls wollte mich damals gewiss auf nichts reimen, und noch viel weniger in aller Stille ‒ auch wenn ich damals noch nichts von Immanuel Kant gehört hatte und nichts wusste von dessen Aussage, es sei süsser, sich Gesetze auszudenken, als still den vorhandenen Gesetzen zu gehorchen. ‒
Bitte entschuldigen Sie die Abschweifung. Aber: Neue Gesetze ausdenken, Welten schaffen ‒ das war mehr nach meinem Temperament als dieses «Ich bleibe still für mich», das wir gerade hörten.
Bevor wir zum Vergnügen zurückkehren, kurz noch ein paar Worte zur Stille. Ein Gedichtband in meinem Bücherregal trägt den Titel Die Stille der Welt vor Bach. Der leidenschaftliche Dichter, Philosoph und Mathematiker Lars Gustafsson, der leider schon eine Weile tot ist, fasst uns darin die Frage in Worte, wie eine Welt vor Bach beschaffen gewesen sein mag. Und er meint nicht die Welt vor Bachs Geburt, nein, er versucht sich an die Klänge aus seiner Kindheit zu erinnern, an die Zeit, bevor Bachs polyphone Musik in sein Leben einbrach, ja ihn sinnlich überwältigte – wie Pubertät vielleicht. Mit Bachs Polyphonie tat sich ihm eine ganz neue Schönheit auf, wie er erzählt, die Schönheit einer Sopranstimme, die sich «in hilfloser Liebe um die sanfteren Bewegungen einer Flöte» rankt. Ein solches Liebesranken von Stimme und Instrument haben wir heute in der 3. Arie gehört, und das Ranken dort ist nicht minder zärtlich, hilflos und sanft.
Doch nun zurück zur Vergnügsamkeit. Mir scheint, dass die Kantate 204 aus der Spannung zwischen der irdischen Askese im Rezitativ einerseits und der himmlischen Heiterkeit in den Arien andererseits ihre ganz eigene Schönheit erschafft. Die Tanzrhythmen in den Arien bringen Text und Klang gewissermassen ins Schweben.
Nur: Was will dieser Text? Ich habe vorhin bereits die Zeile «Meine Seele sei vergnügt, wie es Gott auch immer fügt» zitiert. In einer anderen Kantate desselben Jahres finden sich an Gott gerichtet die Zeilen: «Ich leb indes in dir vergnüget / Und sterb’ ohn’ alle Kümmernis.» Und im selben Jahr heisst es in einer anderen Kantate: «Ei, wie vergnügt ist mir mein Sterbekasten.» Wahrlich: eine «vergnügte Todessehnsucht», so formulierte es Anna Prohaska.
Worte, meine Damen und Herren, tragen in sich, was wir in ihnen hören. Es gibt keine Worte, die von allen Menschen gleich verstanden werden. Hinzu kommt, dass Sprache permanent im Wandel ist. Und auch wir begegnen dem, was wir lesen oder hören, jedes Mal neu – je nach eigener Tages- oder Hirnform. Doch es scheint, dass das in der Kantate gemeinte Vergnügen weit entfernt ist von dem, was wir heute darunter verstehen. Wir müssen die Kantate also nicht beim heutigen, sondern beim «ihrzeitlichen» Wort nehmen.
Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich, dass das Wort «vergnügt» ursprünglich, aus dem Mittelhochdeutschen kommend, vor allem in der «Kanzleisprache» vorhanden war und gleichbedeutend mit «genügen» verwandt wurde. Man war «vergnügt», weil einem Genüge getan wurde. Wenn einer Person etwa Zinsen zugesichert wurden, sagte man: «Sie ist vergnügt worden.» Sprich: Ihr wurde Genüge getan.
Noch hier, in der Kantate, folgt «vergnügt» offensichtlich der Bedeutung von zufriedenstellen oder zufriedengestellt sein. X-mal wiederholt die 1. Arie das Wort «zufrieden». Doch Worte haben viele Aspekte und viele Möglichkeiten und auch das Wort «Vergnügen» muss damals schon in jener Bedeutung existiert haben, die wir heute kennen. Barthold Heinrich Brockes etwa, ein Dichter und Zeitgenosse Bachs, entwarf damals in sieben Bänden das «Irdische Vergnügen in Gott». Und auch die frühe feministische Dichterin Christiana Mariana von Ziegler, die damals in Leipzig lebte, einen Salon führte und auch für Bach Kantatentexte schrieb, kannte ein «Vergnügen» jenseits des Begnügtseins. In einer ihrer Oden dichtete sie folgende Zeilen: «Was rennt und läuft das Volk, das man nicht zählen kann, / So munter und vergnügt die Strassen auf und nieder.»
Offensichtlich durchlebte das Wort «vergnügt» genau zu Bachs Zeiten einen Wandel hin zu jener Gemütsheiterkeit, die wir heute mit ihm verbinden. Im Zuge der Aufklärung verbreitete sich die Idee, es könne auch für die einstigen Untertanen möglich und ja sogar erstrebenswert sein, das irdische Vergnügen selbst zu schmieden. Im 19. Jahrhundert vermehrte sich die Suche nach vergnüglichen Ausschweifungen. Worte wie Vergnügungspark, Vergnügungssteuer, Vergnügungsindustrie machten die Runde. Eine Vergnügungssucht kam auf.
Im Sinnieren über diese Sucht kommt mir plötzlich ein Gemälde in den Sinn: das Bild «Das Vergnügen» des Malers und Surrealisten René Magritte. Ein junges Mädchen mit Pagenschnitt steht darauf an einen Baum gelehnt, auf dessen kahlen Ästen mehrere Vögel hocken. Das braune Dress, Kragen und Manschetten verweisen auf eine ferne Herkunft des Mädchens, doch in ihren Händen hält sie einen Vogel, dem sie soeben ‒ herzhaft ‒ den Kopf abgebissen hat. Als sei der Vogel ein Apfel. Eine grausame Szenerie. Blut tropft herab. Es ist, als habe der Maler uns die mörderische Perversion des Vergnügens in der Moderne ins Bild setzen wollen.
Es ist hier leider nicht der Ort und die Zeit, über den Unterschied von Freude und Vergnügen nachzudenken. Aber so viel ist sicher: Sprache ist aus Vielfalt gemacht. Und obgleich wir die alte Bedeutung von Vergnügen heute für ausgestorben halten, gibt es das Wort Vergnügen noch heute auch als Ausdruck innerlicher Gemütsheiterkeit ‒ jenseits jeder Vergnügungssucht. So etwa klingt in einem Zweizeiler des Schweizer Schriftstellers Robert Walser, der seine letzten Lebensjahre nicht weit von hier verbrachte, Begnügen und Vergnügen in eins.
Auf dem Spaziergang, den ich gestern leise machte, /
ich selbstverständlich vor Vergnügtheit sachte lachte.
«leise machte … sachte lachte». Allein schon der Klang dieser Zeilen beseelt ‒ und zwar ganz heutig. ‒ Bach hätte sicher mit Vergnügen Texte von Robert Walser vertont.
Dass ich auf die Idee kam, wie ich eingangs sagte, es könne sich bei der Kantate 204 um eine Trauerkantate handeln, ist wieder eine andere Geschichte, die auf vielfältige Weise mit dem Vergnügen verknüpft ist. Laut Luther ist ein vergnügter Haushalt die schönste Zier Gottes, und die Familie Bach lebte von der Musik. Musik sicherte ihnen Einkommen wie Vergnügen. Bach, der damals in Leipzig salopp gesagt Kantaten wie am Fliessband produzieren musste, war bekennender Protestant. Als der Kurfürst von Sachsen, August der II., 1697 zum Katholizismus konvertierte, um zusätzlich zu seinen bisherigen Titeln noch Titel und Besitz der polnischen Krone übertragen zu bekommen, waren viele der Landesbürger empört. Auch die Bachs dürften in diesem Religionsstreit auf der Seite der Fürstin gestanden haben. So jedenfalls stelle ich es mir vor. ‒ Denn Augusts junge Ehefrau, die Kurfürstin Christiane Eberhardine von Brandenburg-Bayreuth, verweigerte damals den Übertritt zum Katholizismus. Und als der polnische Sejm ihr die protestantische Religionsausübung verbot, beschloss die Fürstin, wohl aus Protest gegen den «Glaubensverrat» ihres Mannes, fortan ein eigenständiges Leben zu führen. Während also ihr Mann, der König, nach Mehrung von Einfluss, Reichtum und Ehre strebend, in so etwas wie Saus und Braus schwelgte, lebte die sächsische Kurfürstin fast 30 Jahre lang ein genügsames, in Gott vergnügtes Leben auf einem Landgut an der Elbe. Dort widmete sie sich zahlreichen Werken der Nächstenliebe, besuchte in Bachs Leipzig regelmässig die Ostermesse und pflegte eine gewisse Askese, wohl auch, wie es damals hiess, um die Konversion ihres Mannes zu sühnen. Das Volk gab ihr den Beinamen «die Betsäule Sachsens», was aus der Sicht der Protestanten wohl ein Ehrentitel war.
Als die Fürstin am 4. September des Jahres 1727 starb, muss für Bach, seine Frau und sein Umfeld eine trostlose Zeit begonnen haben, denn in der fünf Monate dauernden Staatstrauer waren öffentliche musikalische Darbietungen verboten. Auch in Kirchen. Das hiess: keine Musik – und damit auch keine Aufträge, nicht einmal zur Weihnachtszeit.
Es war die Erinnerung an die Corona-Zeit, die mich auf meine Trauerthese brachte. Wollte Bach in der Trauerzeit nicht vollends der Musik entbehren, war er auf Hausmusik angewiesen. Und Musiker gab es ja genügend in seinem Hause. Also komponierte er in die monatelange Kompositionspause hinein die Solokantate 204, die mit ihrer äusserst sparsamen instrumentalen Besetzung wie gemacht scheint für Hausmusik. Gesungen wurde sie von seiner Frau, Anna Magdalena, die damals wohl eine der bedeutendsten Sopransolistinnen war. Nach dieser meiner Spekulation war die Kantate also kein bestelltes Werk, sondern ein Werk im Selbstauftrag. Gab es das?
Als starken Hinweis für meine These lese ich die Tatsache, dass der Text der offiziellen Trauerode, für die Bach 1727 die Musik komponierte, mit dem Ruf beginnt: «Wie starb die Fürstin so vergnügt!» Wegen der ehelichen Verwerfungen gab es keine repräsentative Feier zum Tod der Titularkönigin, doch als die Ode am 17. Oktober 1727 ‒ das Musikverbot unterbrechend ‒ bei einer privat organisierten Trauerfeier in der Leipziger Universitätskirche aufgeführt wurde, erschienen zahlreiche Honoratioren. Bach selbst sass dirigierend am Cembalo. Es muss für ihn ein grossartiger gesellschaftlicher Erfolg gewesen sein.
Ich habe eingangs gefragt, welches Ich eigentlich im Kantatentext spreche? Und plötzlich stellte ich mir vor, wie jenes «Ich bin in mir vergnügt» als Worte der Kurfürstin in der Stimme der Anna Magdalena im Bach’schen Haus erklang: Der Sopran, den Engeln so nah, geleitete die gläubige Vergnügsamkeit in den Himmel hinein. So lebte die Fürstin fort, obgleich sie fort war.
Lassen Sie mich, bevor ich zum Schluss komme, noch einmal kurz zurückkehren zu der Kritik der Freundschaft, die mich eingangs so irritierte: «Eh wollt ich den Winden trauen als auf Freunde in der Not», hörten wir vorhin. Woher dieses Misstrauen? Wenn an meiner Trauerspekulation etwas dran ist und hier tatsächlich die Fürstin spricht, dann leuchtet mir diese Passage plötzlich ein. Denn für die junge Fürstin muss es damals, als ihr Mann zum katholischen Glauben und gen Polen konvertierte, eine kleine Hölle gewesen sein, zu erleben, wie viele ihrer «Freunde» sich von ihr abwandten, um Glamour und Glorie des neuen Königs zu folgen. Er war es im Übrigen, der uns u.a. das Grüne Gewölbe erfand, die Sächsische Schatz- und Prunkkammer in Dresden.
Ich sagte eingangs, dass mir die imaginierte Entstehungsgeschichte hilft, zu erhellen, was mich befremdet. Doch etwas im Text der Kantate irritierte mich unwiederbringlich. Nennen wir es provisorisch: fehlende Lebensfreude. Zum Abschluss möchte ich deshalb kurz über einen Vergnügsamkeitssong sprechen, der sich nicht im Begnügen übt. Der Song stammt von der afroamerikanischen Sängerin Nina Simone. «Ain’t got no / I got life», so der Titel (Ich habe nichts – ausser mein Leben). Nina Simone wurde in eine protestantische Familie hineingeboren und erhielt dank fremder Unterstützung eine klassische Klavierausbildung, bevor sie wurde, als was sie in die Geschichte einging – eine «Hohepriesterin des Soul». Sie musste sich ‒ anders als die Fürstin ‒ im wirklichen Leben wahrlich mit wenig begnügen. «Ich habe kein Zuhause, keine Schuhe, kein Geld, keine Bildung, kein Parfüm, keine Liebe, keine Mutter, keine Freunde, keine Luft und keinen Gott», singt sie. Ein Crescendo, das in der Frage gipfelt: «Warum lebe ich überhaupt? / Why am I alive, anyway?» Dann wechselt der Rhythmus, er gerät ins Tanzen ‒ wie in den Arien, die wir soeben hörten ‒, und schon hebt Nina Simones Stimme neu an: «Ich lebe, denn ich habe, was ich brauche: Arme und Beine und Zunge und Schenkel und Haare und überhaupt: Glück und Unglück. Das ganze Leben eben. I got life. / Ich bin vergnügt!» ‒ sozusagen. Ich frage mich, und damit komme ich zum Schluss: Ist es hier vielleicht ein verbindendes «We got life», das Anna Magdalena 1727 in die musiklose Stille hinein ihrem Johann Sebastian zuträllerte?