Schweigt stille, plaudert nicht
BWV 211 // Kaffeekantate
Kaffeekantate, für Sopran (Lieschen), Tenor (Erzähler) und Bass (Schlendrian), Traversflöte, Streicher und Basso continuo
Der edle Mokka war im weltläufigen Leipzig des Barock der letzte Schrei verfeinerter Lebensart – zugleich jedoch ein von Theologen und manchen Ärzten angefeindetes, weil vermeintlich zur Sittenlosigkeit reizendes Modegetränk. Bachs bewährter Librettist Picander hat diese Konflikte 1732 in ein von Vater Schlendrian und Tochter Lieschen bestrittenes heiteres Drama verwandelt, das Bach kurz darauf für eine Aufführung seines im Zimmermann’schen Coffeehaus aufspielenden Collegium musicum vertonte. Aus Bachs einprägsamer Figurenzeichnung spricht die Lebenserfahrung des vielgeprüften Familienvaters, der dennoch seine Sympathie für das listig auf einen Bräutigam sinnende Lieschen nicht verleugnen kann. Dass der Thomaskantor die überraschende Schlusswendung selbst hinzugedichtet hat, ist nicht gesichert, würde aber zum feinen Humor und der eleganten Tiefgründigkeit dieser höchst charmanten Komposition passen.
Möchten Sie unsere Videos werbefrei geniessen? Jetzt YouTube Premium abonnieren ...
Werkeinführung
Reflexion
Orchester
Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Peter Barczi
Viola
Martina Bischof
Violoncello
Maya Amrein
Violone
Markus Bernhard
Traversflöte
Marc Hantaï
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Dominik Wörner
Reflexion
Referenten
Sibylle und Michael Birkenmeier
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
23.06.2022
Aufnahmeort
Rorschach (SG) // Würth-Haus
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Erste Aufführung
wahrscheinlich 1734, Leipzig
Textdichter
Christian Friedrich Henrici (Picander)
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
1. Rezitativ — Tenor (Erzähler)
Schweigt stille, plaudert nicht
und höret, was itzund geschicht:
Da kömmt Herr Schlendrian
mit seiner Tochter Liesgen her,
er brummt ja wie ein Zeidelbär;
Hört selber, was sie ihm getan!
1. Rezitativ
Mit einer prägnanten Eröffnung des tenoralen Erzählers wird die Szenerie erläutert und der für derlei Kaffeehaus-Auftritte unerlässliche Übergang von der musikalischen Untermalung des Tischgesprächs zur aufmerksamen Konzertsituation angemahnt.
2. Arie — Bass (Schlendrian)
Hat man nicht mit seinen Kindern
hunderttausend Hudelei!
Was ich immer alle Tage
meiner Tochter Liesgen sage,
gehet ohne Frucht vorbei.
2. Arie
Man hat fast Mitleid mit diesem aufgeblasenen Patron, wie er im polternden Brummen indirekt einräumen muss, das Leben und Treiben in seinem Familienladen kaum noch im Griff zu haben. Bach entwirft dafür eine Musik voll leerer Kreisfiguren und abreissender Hochfahrtsgesten, die das mundartlich angehauchte Fluchen des geplagten Schlendrian schadenfroh ins Leere laufen lässt – ganz egal, auf welcher Tonstufe er seine Ermahnungen auch vorträgt.
3. Rezitativ — Bass (Schlendrian), Sopran (Lieschen)
Bass
Du böses Kind, du loses Mädchen,
ach! wenn erlang ich meinen Zweck:
Tu mir den Coffee weg!
Sopran
Herr Vater, seid doch nicht so scharf!
Wenn ich des Tages nicht dreimal
mein Schälchen Coffee trinken darf,
so werd ich ja zu meiner Qual
wie ein verdorrtes Ziegenbrätchen.
3. Rezitativ
Mit dem ersten Dialog werden die Rollen verteilt – der frustrierte Hausvater vermag nur schimpfend zu fordern, während das schlaue Lieschen die Einhaltung der verbalen Etikette einfordert und an das in einem Kaffeehaus gewiss vorhandene Verständnis der Zuhörer für ihre Vorliebe appelliert.
4. Arie — Sopran (Lieschen)
Ei! wie schmeckt der Coffee süße,
lieblicher als tausend Küsse,
milder als Muskatenwein.
Coffee, Coffee muss ich haben,
und wenn jemand mich will laben,
ach, so schenkt mir Coffee ein!
4. Arie
«Ei! Wie schmeckt der Coffee süße» – über Piccicatobässen und begleitet von einer eleganten Flötenpartie singt Lieschen das Lob des Türkentrunks und damit der verfeinerten Lebensart überhaupt. Der fliessende Menuettduktus spielt dabei als Verneinung der Verneinung charmant auf die im Text indirekt angesprochene Brautwerbung an.
5. Rezitativ — Bass (Schlendrian), Sopran (Lieschen)
Bass
Wenn du mir nicht den Coffee lässt,
so sollst du auf kein Hochzeitfest,
auch nicht spazierengehn.
Sopran
Ach ja!
Nur lasset mir den Coffee da!
Bass
Da hab ich nun den kleinen Affen!
Ich will dir keinen Fischbeinrock
nach itzger Weite schaffen.
Sopran
Ich kann mich leicht darzu verstehn.
Bass
Du sollst nicht an das Fenster treten
und keinen sehn vorübergehn!
Sopran
Auch dieses; doch seid nur gebeten
und lasset mir den Coffee stehn!
Bass
Du sollst auch nicht von meiner Hand
ein silbern oder goldnes Band
auf deine Haube kriegen!
Sopran
Ja, ja! nur lasst mir mein Vergnügen!
Bass
Du loses Liesgen du,
so gibst du mir denn alles zu?
5. Rezitativ
Der tugendeifernde Alte gibt nicht auf und verlegt sich nun auf pure Erpressung. Doch vermögen weder Stubenarrest noch Kontaktsperren oder gar der völlige Verzicht auf Kleiderputz und Schmuck das coffeevernarrte Lieschen umzustimmen.
6. Arie — Bass (Schlendrian)
Mädchen, die von harten Sinnen,
sind nicht leichte zu gewinnen.
Doch trifft man den rechten Ort:
O! so kömmt man glücklich fort.
6. Arie
Schlendrian gesteht sich seine vorläufige Niederlage ein, entwickelt nun aber vor den Augen und Ohren eine neue (vermeintlich) zielführende Idee. Die vertrackte Motivik dieser nur vom Continuo begleiteten Bassarie lässt jedoch neben der «hartgesinnten» Weigerung der Tochter auch die letztendliche Fruchtlosigkeit einer Strategie erkennen, an deren Erfolg nur jemand glauben kann, der so eitel ist wie der blasierte Patrizier.
7. Rezitativ — Bass (Schlendrian), Sopran (Lieschen)
Bass
Nun folge, was dein Vater spricht!
Sopran
In allem, nur den Coffee nicht.
Bass
Wohlan! so musst du dich bequemen,
auch niemals einen Mann zu nehmen.
Sopran
Ach ja! Herr Vater, einen Mann!
Bass
Ich schwöre, dass es nicht geschicht.
Sopran
Bis ich den Coffee lassen kann?
Nun! Coffee, bleib nur immer liegen!
Herr Vater, hört, ich trinke keinen nicht.
Bass
So sollst du endlich einen kriegen!
7. Rezitativ
Nach einem letzten halbherzigen Appell an den schuldigen Tochtergehorsam lässt Schlendrian die Katze aus dem Sack – wer nicht folgt, wird auch nicht verheiratet und so die tyrannische Bevormundung niemals los! Wie Lieschens Widerstand daraufhin mit schmachtender Geste zusammenbricht («Ach ja, Herr Vater, einen Mann»), ist gerade in der erahnbaren Falschheit der Aussage von grosser Komik.
8. Arie — Sopran (Lieschen)
Heute noch,
lieber Vater, tut es doch!
Ach, ein Mann!
Wahrlich, dieser steht mir an!
Wenn es sich doch balde fügte,
dass ich endlich vor Coffee,
eh ich noch zu Bette geh,
einen wackern Liebsten kriegte!
8. Arie
Lieschen nutzt die errungene neue Verhandlungsmacht unmittelbar – gleich «heute noch» soll es an die Brautschau gehen. Der beschwingt- kurzatmige 6⁄8-Takt einer modischen Giga illustriert plastisch die wie mit geröteten Wangen vorgetragene Vorfreude einer jungen Frau auf ein Leben jenseits der einschränkenden Knute. Dass sie den von ihr bereits erwähnten «Liebreiz» des Küssens nur als Metapher kennt, mag man da gar nicht so recht glauben…
9. Rezitativ — Tenor (Erzähler)
Nun geht und sucht der alte Schlendrian,
wie er vor seine Tochter Liesgen
bald einen Mann verschaffen kann;
Doch, Liesgen streuet heimlich aus:
Kein Freier komm mir in das Haus,
er hab es mir denn selbst versprochen
und rück es auch der Ehestiftung ein,
dass mir erlaubet möge sein,
den Coffee, wenn ich will, zu kochen.
9. Rezitativ
Während sich der erleichterte Schlendrian auf die Suche nach einem Bräutigam macht, verrät der nochmals auftretende Erzähler das hintersinnige Ende der Geschichte – indem sie ihr Jawort mit der Zusicherung künftigen Kaffeegenusses verknüpft, wird Lieschen zur eigentlichen Siegerin des unterhaltsamen Ringens.
10. Chor — (Terzett) Sopran, Tenor, Bass
Die Katze lässt das Mausen nicht,
die Jungfern bleiben Coffeeschwestern.
Die Mutter liebt den Coffeebrauch,
die Großmama trank solchen auch,
wer will nun auf die Töchter lästern!
10. Terzett
Gegen derlei gewitzten Charme war und ist kein Kraut gewachsen – in den munteren Kehraus «Die Katze lässt das Mausen nicht, die Jungfern bleiben Coffee-Schwestern» können schliesslich alle Generationen lachend einstimmen. Mit diesem Rondo von operettenhafter Eingängigkeit gelang Bach ein echter Ohrwurm, den so mancher Zuhörer auf den Heimweg mitgenommen