Jesu, meine Freude
BWV 227 // Motette
für Vokalensemble, Oboe I+II, Taille, Streicher und Basso continuo
Bachs wohl zu einem unbekannten Traueranlass entstandene Motette «Jesu, meine Freude» verschränkt auf kunstvolle Weise abwechslungsreich gesetzte Strophen des Kirchenliedes von Johann Franck (1653) mit Kernsätzen aus Paulus‘ Römerbrief. Dessen lehrhafter Diskurs über Glauben und Gesetz sowie den fleischlichen und geistlichen Menschen wird durch die kraftvoll-verbindlichen Choralsätze nachhaltig geerdet und belebt. Durch die für die barocke Praxis vielfach belegte Mitwirkung von Streichern und Continuoinstrumenten rückt die Musik in Überwindung des historistischen A-cappella-Ideals der Romantik wieder nahe an viele Kantatensätze Bachs im strengen Kontrapunktstil heran. Gleichwohl hat die seit dem späten 18. Jahrhundert anhaltende Pflege dieser Motetten durch die Leipziger Thomaner Bachs neuzeitliche Renaissance und Popularität mitbegründet.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran 1
Jessica Jans, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel, Mirjam Wernli
Sopran 2
Lia Andres, Olivia Fündeling, Jennifer Ribeiro Rudin, Susanne Seitter, Maria Weber
Alt
Antonia Frey Sutter, Katharina Jud, Francisca Näf, Lea Pfister-Scherer, Simon Savoy
Tenor
Clemens Flämig, Manuel Gerber, Raphael Höhn, Sören Richter
Bass
Daniel Pérez, Retus Pfister, Grégoire May, Philippe Rayot, Jonathan Sells
Solostimmen bei «Denn das Gesetz»
Sopran 1: Jessica Jans
Sopran 2: Lia Andres
Altus: Simon Savoy
Solostimmen bei «So aber Christus»
Altus: Simon Savoy
Tenor: Raphael Höhn
Bass: Jonathan Sells
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Christine Baumann, Judith von der Goltz,Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó
Viola
Martina Bischof, Sarah Mühlethaler, Katya Polin
Violoncello
Maya Amrein, Esmé de Vries
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Thomas Meraner, Elise Nicolas
Taille
Ingo Müller
Fagott
Susann Landert
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Niklaus Peter Barth, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Konrad Paul Liessmann
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
26.10.2018
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Kirchenliedtext von Johann Franck (1618–1677);
Römer, 8
Erste Aufführung
Begräbnis von Johanna Maria Kees,
am 18. Juli 1723
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die fünfstimmige Motette BWV 227 ist in ihrer Zweckbestimmung noch immer ungeklärt, wobei eine Beziehung zur Beisetzung der Leipziger Patrizierin Johanna Maria Kees im Juli 1723 anhaltend diskutiert wird. Dass es sich um einen Traueranlass handelte, darf jedoch mit Blick auf die Texte und vor allem das von Johann Franck 1653 veröffentlichte Chorallied «Jesu, meine Freude» als unstrittig gelten. Dass unser Werk diese Liedstrophen sowie einen aus dem Römerbrief des Paulus stammenden Spruchtext miteinander kombiniert, war für in der Thüringer Tradition des Alt-Bachischen Archivs stehende Motetten keineswegs untypisch; die Art und Weise, wie BWV 227 diese beiden Textschichten miteinander verzahnt, darf jedoch als innovative Lösung gelten. Wird doch das Lied nicht als zweite Melodieebene simultan mit dem Bibeltext abgehandelt oder diesem als bekräftigende Schlussstrophe angefügt, sondern im steten Wechsel von Prosa und kontrastreicher Choralbehandlung gewissermassen als Liedpartita mit freien Einschüben behandelt. Dies führt nicht allein zu einer abwechslungsreichen Grossform, sondern ermöglicht die gegenseitige Kommentierung von musikalischer Predigt und deutender Reflexion, was zumindest von ferne an die Wirkungsmacht der Bach’schen Passionen erinnert.
Die sechs Choralvertonungen sind von ausgeprägt variativem Charakter. Als umrahmende Strophen ausgewählt, führen «Jesu, meine Freude» und «Weicht, ihr Trauergeister» beide Sopranstimmen unisono und geben sich mit ihrer Vierstimmigkeit und abgeklärten Bewegung als vertraut schlichte Kantionalsätze von verbindlichem Charakter. Demgegenüber wird in den an Nummer 3 und 7 stehenden Choralsätzen «Unter deinem Schirmen» (a 5) und «Weg mit allen Schätzen» (a 4) die Begleitung so beschleunigt und ausfiguriert, dass präzise Ausdeutungen des Textaffektes und einzelner Worte möglich werden («kracht und blitzt», «Hölle», «leiden»).
Vollends abbildlich sind die beiden Strophenvertonungen «Trotz dem alten Drachen» und «Gute Nacht, o Wesen» geraten. Mit dramatischen Pausen, streitbaren Unisonogängen und grollenden Koloraturen («Tobe, Welt») hebt die eine als kämpferische Trutzmusik an, die erst im Modus des bekenntnishaften Singens in einen Gestus «sicherer Ruhe» überführt wird, bevor ein mit der Orgelbearbeitung BWV 713 motivisch verknüpfter Neuansatz («Gottes Macht hält mich in Acht») neu gewonnener Sicherheit Ausdruck verleiht. Stärker zurückgenommen gibt sich hingegen die für zwei Soprane, Alt und Tenor gesetzte und damit von aller Erdgebundenheit befreite Choralbearbeitung «Gute Nacht» (Nr. 9), die ihre Melodielage im Alt mit einer Bassetto-Stütze des Tenors sowie empfindsamen Seufzerfiguren der Soprane in einer elegischen Weise kombiniert, die einem Traueranlass wohl ansteht.
In den fünf freien Römerbrief-Vertonungen manifestiert sich die symmetrische Anlage des gesamten Werkes in besonderer Weise. Die beiden eng verwandten Chorsätze «Es ist nun nichts Verdammliches» (Nummer 2) und «So nun der Geist» (Nummer 10) atmen einen gestisch- lehrhaften Geist und wirken mit ihrem Wechsel von Akkordblöcken und imitativ aufgebrochenen Passagen selbst wie kleine abgeschlossene Motetten. Zwei für hohe Stimmen (SSA) und tiefe Besetzung konzipierte Terzette bringen Momente kontemplativer Besinnung hinein, wobei der pastorale 12 ⁄8-Takt des «So aber Christus in euch ist» sich im zweiten Teil freudiger Bewegung öffnet («Der Geist aber ist das Leben»). Das Zentrum der Motette hat Bach einer ausgedehnten Fuge vorbehalten, die die geistliche Natur des von Christi Geist beseelten Menschen hervorhebt und in einem drängenden Adagio-Schluss die wahrhaft Glaubenden schroff von allen Andersgesinnten abhebt. Damit bringt die Motette nicht nur im steten Wechsel der Textebenen, sondern auch in ihrem Kernsatz selbst die paulinische Doppelbotschaft von Trost und Bekenntnis auf den Punkt. Was sich im Leben der unbekannten Verstorbenen als Erwartungshorizont bewährt haben mochte, wird so für alle Singenden und Hörenden zur dauernden Einladung.
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
«Jesu, meine Freude» gehört zu den oft gewünschten Musikstücken (auch bei Hochzeiten). Was meist übersehen wird: Es geht bei dieser Motette thematisch um das eigene Sterben, um die Überwindung der Todesangst und die dabei leitende Hoffnung.
Das Gerüst bilden die sechs Strophen des gleichnamigen Kirchenliedes von Johann Franck (1653). Bach hat sie kompositorisch so gestaltet, dass er nach jeder Strophe einen Vers aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes einfügt, wodurch er dem ernsten Thema mit den paulinischen Gedanken über den Geist eine helle theologische Perspektive gibt.
Eine Datierung ist bislang nicht gelungen; die Motette dürfte zwischen 1723 und 1735 entstanden sein. Hartnäckig hält sich die Vermutung, dass sie 1723 für die Trauerfeier der Leipziger Amtmannswitwe Johanna Maria Kees geb. Rappolt geschrieben wurde, von der sich die Predigt des Superintendenten Salomon Deyling erhalten hat.
Das Kirchenlied Francks entfaltet in sechs Strophen eine sehr persönliche, von einer Glaubensgewissheit getragene Sicht auf die angstvollen Nöte des Lebens und zugleich auf eine mit Jesus Christus verbundene Geborgenheit im Jenseits.
Die erste Strophe nimmt die alte mystische Metaphorik des endzeitlichen Hochzeitsmahles auf und verbindet sie mit einer individuellen Frömmigkeit: der Sehnsucht nach der Vereinigung mit Jesus, dem Gotteslamm und Bräutigam. Im Licht dieser jenseitigen Perspektive werden Stürme, Ängste und Bedrohungen des jetzigen Lebens in den Strophen zwei und drei angesprochen (Satan, Sünd und Hölle – Todesängste und das «Toben» der Welt), danach wird die Abwendung von allem Weltlichen (Schätze, Ehre, Stolz, Sünden, Laster) sowie der Abschied mit einem dreimaligen «Gute Nacht» in den Strophen vier und fünf thematisiert, während die letzte Strophe die Begegnung mit Jesus besingt: «Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein.» Es ist diese Gewissheit, die alle Leid- und Demütigungserfahrung aushalten und überwinden lässt.
Was in dieser Christusmystik Francks sich ganz persönlich und innig liest, wird durch die eingefügten Sätze des Paulus aus dem Römerbrief in einer Dialektik von Fleisch und Geist verankert, einer Dialektik von Tod und Auferweckung: Wer im Geist Christi wandelt und nicht nach dem Fleisch, ist jetzt schon vom Gesetz des Todes befreit, er wird an der Auferweckung Christi teilhaben. Es ist diese Botschaft, welche zur ersten und letzten Zeile dieser Trauermotette hinführt: «Jesu, meine Freude».
Jesu, meine Freude,
meines Herzens Weide,
Jesu, meine Zier,
ach wie lang, ach lange
ist dem Herzen bange
und verlangt nach dir!
Gottes Lamm, mein Bräutigam,
außer dir soll mir auf Erden
nichts sonst Liebers werden.
Es ist nun nichts Verdammliches an
denen, die in Christo Jesu sind,
die nicht nach dem Fleische wandeln,
sondern nach dem Geist.
Unter deinem Schirmen
bin ich vor den Stürmen
aller Feinde frei.
Laß den Satan wittern,
laß den Feind erbittern,
mir steht Jesus bei.
Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
Ob gleich Sünd und Hölle schrecken:
Jesus will mich decken.
Denn das Gesetz des Geistes, der da
lebendig machet in Christo Jesu, hat mich
frei gemacht von dem Gesetz der Sünde
und des Todes.
Trotz dem alten Drachen,
trotz des Todes Rachen,
trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe,
ich steh hier und singe
in gar sichrer Ruh.
Gottes Macht hält mich in acht;
Erd und Abgrund muß verstummen,
ob sie noch so brummen.
Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern
geistlich, so anders Gottes Geist in
euch wohnet. Wer aber Christi Geist
nicht hat, der ist nicht sein.
Weg mit allen Schätzen!
Du bist mein Ergötzen,
Jesu, meine Lust.
Weg ihr eitlen Ehren,
ich mag euch nicht hören,
Bleibt mir unbewußt!
Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod
soll mich, ob ich viel muß leiden,
Nicht von Jesu scheiden.
So aber Christus in euch ist, so ist der Leib
zwar tot um der Sünde willen; der Geist
aber ist das Leben um der Gerechtigkeit
willen.
Gute Nacht, o Wesen,
das die Welt erlesen,
mir gefällst du nicht!
Gute Nacht, ihr Sünden,
bleibet weit dahinten,
kommt nicht mehr ans Licht!
Gute Nacht, du Stolz und Pracht!
Dir sei ganz, du Lasterleben,
gute Nacht gegeben.
So nun der Geist des, der Jesum von den
Toten auferwecket hat, in euch wohnet,
so wird auch derselbige, der Christum von
den Toten auferwecket hat, eure sterblichen
Leiber lebendig machen um des willen,
daß sein Geist in euch wohnet.
Weicht, ihr Trauergeister,
denn mein Freudenmeister,
Jesus, tritt herein.
Denen, die Gott lieben,
muß auch ihr Betrüben
lauter Zucker sein.
Duld ich schon hier Spott und Hohn,
dennoch bleibst du auch im Leide,
Jesu, meine Freude.
Konrad Paul Liessmann
Weg mit allen Schätzen!
Sehr geehrte Damen und Herren,
die längst vergangenen Dokumente des Glaubens stellen für die Gegenwart in der Regel eine Provokation und ein Ärgernis dar. Zumindest aber müssen diese Äusserungsformen einer Kultur, die wir überwunden haben, auf Unverständnis stossen. Der Text von Johann Sebastian Bachs Motette «Jesu, meine Freude» stellt wohl so ein Ärgernis dar, konfrontiert er uns doch mit einer Sicht auf den Menschen, die uns – nach dem Durchgang durch Aufklärung und Psychoanalyse – geradezu als unmenschlich erscheinen muss. Der Mensch als leidendes Wesen, das einen Gott – Jesus – anruft, der gepeinigt ist von «Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod» und an den sich gerade deshalb der Mensch in seiner Endlichkeit und Hilflosigkeit wenden muss, um sich in «sicherer Ruh» im wahrsten Sinn des Wortes zu glauben – dieser Mensch gehört nicht mehr in eine Welt, in der eine fortgeschrittene Medizin in Verein mit einem überbordenden Technikoptimismus nicht nur daran geht, Krankheiten zu besiegen, sondern auch das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln und dem Tod selbst den Kampf anzusagen. Und auch der leidende Gott gehört nicht mehr in eine Welt, in der Schmerzfreiheit zum Ideal erklärt wurde. Allerdings: Es geht mir nicht um den Verlust dieses Glaubens in einer säkularen Welt, sondern um die Spuren desselben in dieser.
«Jesu, meine Freude» ist bei aller vordergründigen einfachen Frömmigkeit nicht nur musikalisch ein höchst komplexes Werk, sondern auch textlich raffinierter und spannungsreicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dazu trägt bei, dass Bach ein Kirchenlied von Johann Franck mit zentralen Stellen aus dem Brief des Paulus an die Römer verschnitten hat. Dadurch entsteht nicht nur formal eine intensive Spannung zwischen der liedhaft gebundenen Sprache des inbrünstigen Gebets und einer klaren, argumentierenden pastoralen Prosa, sondern auch inhaltlich verweisen diese Textelemente kontrastreich aufeinander und evozieren mitunter schärfste Gegensätze.
Das Kirchenlied thematisiert selbst eine nicht nur für das Christentum konstitutive Spannung: die zwischen Welt und Gott, zwischen dem Profanen und dem Heiligen, zwischen dem Reich der Finsternis und dem Reich des Lichts, zwischen dem Äusseren und dem Inneren des Menschen. Der alte Drache des Bösen, der Rachen des Todes, das Toben des Satans, die verlockenden Schätze und die eitlen Ehren – all das gehört zu jener «Weltlichkeit», die als Urgrund und Erscheinungsform der Täuschung und der Sündhaftigkeit aufgefasst wird. Dahinter verbirgt sich eine Opposition, die nicht nur einen theologischen Gehalt hat. Dass die Welt der Sinne, die Welt der Affekte und Begierden eine falsche und trügerische Welt sei, findet sich auch bei Platon, der ja über viele Umwege in der Spätantike Eingang ins Christentum gefunden hatte. Die Welt ist der Ort der verkehrten und falschen Prioritäten. Was in dieser Welt wichtig erscheint: Macht, Ruhm, Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Begehren, das ist in letzter Instanz unwichtig, eitel, vordergründig, falsch. Deshalb: «Weg mit allen Schätzen!»
Was den Gläubigen allerdings von einem sinnenfeindlichen antiken Asketen unterscheidet, ist das Wissen, dass den Verlockungen dieser Welt nicht leicht zu widerstehen ist. Nur der Glaube an Jesus gibt jene Kraft, die es erlaubt, diesen Verlockungen ebenso zu widerstehen wie der Furcht vor dem Tode. Ohne diesen Glauben wäre man verloren und könnte nur das machen, was wir aufgeklärten, modernen Menschen in der Regel auch tun: Diese Verlockungen der Welt als sinnhafte Strukturen zu deuten, in Reichtum, Erfolg und Anerkennung nicht nur legitime, sondern geradezu moralisch gebotene Anreize für unser Leben zu erblicken und ganz im Gegensatz zu dem Kirchenlied zu fordern: Her mit allen Schätzen! Her mit Gewinnen, Wachstum, Vermehrung, Expansion auf allen materiellen Ebenen!
Und dennoch bleibt ein Unbehagen. Dieses lässt sich mit den in die Motette eingewobenen Worten des Apostels Paulus sinnhaft demonstrieren. Dessen Brief an die Römer, entstanden wohl um 55 n. Chr. und gerichtet an eine Gemeinde, die Paulus noch nicht kannte, stellt ein zentrales Dokument paulinischer und dann vor allem protestantischer Theologie dar. «Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft, zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.» (Römer 1, 16–17) Diese Verse fassen die wichtigsten Aussagen des Römerbriefes zusammen: Die Rechtfertigung durch den Glauben an Jesus Christus gilt für Juden und Nichtjuden gleichermassen. Nach Paulus sind alle Menschen schuldig und gegenüber Gott für ihre Sünden verantwortlich. Nur durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi kann die Menschheit Erlösung erlangen. Gott ist deshalb gleichzeitig gerechter Richter und derjenige, der gerecht macht. Der Römerbrief hatte eine kirchengeschichtliche Wirkung wie kaum ein anderes biblisches Buch. Augustinus von Hippo wurde durch dessen Lektüre angeblich zum Christentum bekehrt. Seine grösste Wirkung entfaltete der Römerbrief jedoch in der Reformationszeit. Martin Luther formulierte seine Rechtfertigungsund Gnadenlehre vor allem mit Berufung auf den Römerbrief. Im Römerbrief werden allerdings auch andere Aspekte thematisiert, die entscheidend waren für die paulinische Theologie: Das Verhältnis von Juden und Christen, der gebotene Gehorsam gegen jede Form von Obrigkeit, vor allem aber: das Verhältnis von Geist und Körper. Und an diesem entzündet sich die Bach’sche Textur und Komposition, in der zentralen Doppelfuge wird genau dieses Verhältnis zum musikalischen und theologischen Angelpunkt der Motette: «Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich.»
Geist und Fleisch: Welch ein Problemhorizont, welch ein Assoziationsreichtum eröffnet sich hier! Vom Dualismus der Platon’schen Philosophie bis zur Lehre von der res extensa und der res cogitans des René Descartes liesse sich ein Bogen spannen, von der frühchristlichen Sündhaftigkeit des Leibes bis zur Frage nach der Legitimität des Begehrens in der Moderne könnte man einen Faden spinnen. Entscheidend dabei ist aber: Das Fleisch, gedacht als Leib, als Trieb, als Begehren, aber auch als Endlichkeit, Hinfälligkeit und Schwäche, wird zum Synonym des Bösen ebenso wie des Todes, zum Ausdruck all jener Welthaltigkeit, die im reinen Diesseits, im Hier und Jetzt nur Unheil anrichten kann. Nur wer nach dem «Gesetz des Geistes» lebt, kann diese Welthaltigkeit, die in Wirklichkeit einen ungeheuren Mangel, nämlich den Mangel an ewigem Leben darstellt, überwinden, denn es ist der Geist, «der da lebendig machet in Christo Jesu».
Geist aber heisst nicht nur Glauben. Geist ist schon, auch bei Paulus, die innere Opposition des Menschen zu seinem Leib, ist schon das Wissen davon, dass das Bewusstsein etwas ist, das uns von unserem Körper trennt, das die reine Unmittelbarkeit sabotiert, das den Körper als Widerpart empfinden lässt, den man sich mithilfe des Geistes, des Intellekts, der Vernunft unterordnen, den man bändigen, dem man entsagen und den man, wenn es gar nicht mehr anders geht, kastrieren muss.
In dieser Kritik des Fleisches steckt natürlich ein gerüttelt Mass an Leibfeindlichkeit. Und dennoch enthält diese Kritik auch eine Wahrheit: Dass wir unseren Leib als Begrenzung, als unvollkommen, als krankheitsanfällig, als endlich, aber auch als Belastung und dunkle Kraft empfinden müssen; und dass unser Geist immer schon darüber hinaus ist. Paulus und die Gläubigen des frühen 18. Jahrhunderts wollten diesem Schicksal der Endlichkeit durch einen Glauben begegnen, der seine Voraussetzung in der Abtötung der fleischlichen Begierden und Gelüste hatte.
Diesen Glauben haben wir vielleicht verloren. Die Skepsis gegenüber dem Körper aber ist geblieben. Immer wieder, heute mehr denn je, werden der Leib, seine Gier und seine Lust als etwas Gefährliches erkannt, das uns die Grenzen des Anstands und der Moral überschreiten lässt. Und in den modernen Debatten über die technisch möglichen Varianten der Lebensverlängerung bis hin zur Unsterblichkeit gibt es nicht nur die Hoffnung auf einen genetisch optimierten und durch künstliche Intelligenz angereicherten Menschen, der weder den Verlockungen noch den Verführungen des Leibes nachgeben muss, sondern auch die Vorstellung – vor allem im Silicon Valley –, dass es doch möglich sein müsste, den Geist zu retten, indem man das menschliche Gehirn digitalisiert und in einer Cloud abspeichert und so den störenden, langsamen, erschöpften, mangelhaften Körper zurücklassen kann. Auch das ist eine Form der Erlösung! Unschwer erkennen wir in dieser technischen Utopie den theologischen Gehalt der Motette in säkularisierter Gestalt. Das ewige Leben bleibt unser Traum, und dieser Traum ist begleitet vom Wissen, dass er nur erreichbar ist, wenn wir «nicht im Fleische wandeln».
Was aber, so muss man abschliessend fragen, was, wenn Fleisch und Geist, Lust und Ewigkeit sich ganz anders zueinander verhalten, als es die Theologie der Motette und ihre säkularisierten Spielarten nahelegen? Es war Friedrich Nietzsche, dieser späte Abkömmling und Renegat paulinischprotestantischen Denkens, der im Mitternachtslied seines «Zarathustra», das von Gustav Mahler und anderen Komponisten vertont wurde, zu einem wahrlich erschreckenden und doch auch befreienden Gedanken findet:
«O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: – Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht. Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid: Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!»
Die Welt ist tief. Die oberflächlichen Zuckungen des Fleisches sind nicht alles. Denn dieses selbst, das Organ unserer Lust, ist es auch, das nach Ewigkeit verlangt. Nur die Lust will Ewigkeit, nicht der Geist. Der Leib, und das wäre das antipaulinische Moment an Nietzsche, ist nicht tot um der Sünde willen, sondern um dieser Sünde willen – wenn Lust denn Sünde sein sollte – wollen wir die Ewigkeit, die Erlösung, die Gnade. Das Kirchenlied von Johann Franck ahnte etwas von diesem Zusammenhang: Jesu, meine Freude – das ist auch eine Freude, die wenigstens in Analogie zur Lust gedacht werden kann: Eine Anrufung eines Geliebten, eine Weide des Herzens, das bange nach dem Bräutigam verlangt. Wie immer wir es mit der Theologie des Fleisches halten: Es sind zumindest dessen Lusterfahrungen, die auch das Modell für jede himmlische Freude abgeben können. Und deshalb glauben die wahren Christen letztlich auch an die Auferstehung des Fleisches – nicht an die Unsterblichkeit der Seele.