Messe g-Moll
BWV 235 //
für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I + II, Streicher und Basso continuo
Die in den späten 1730er Jahren zusammengestellten vier kleineren Messen BWV 233–236 waren Teil von Bachs Bemühen, herausragenden Einzelsätzen seiner geistlichen und weltlichen Kantaten durch die Umarbeitung zu Messen und Oratorien einen dauerhaften Darbietungskontext zu erschliessen. Aufgrund ihrer Beschränkung auf Kyrie und Gloria waren sie prinzipiell für den Leipziger Gottesdienst geeignet und wurden daher im Gegensatz zur vollständigen Missa in h-Moll auch als «lutherische» Messen bezeichnet. Die auf den Kantaten BWV 102, 72 und 187 beruhende Missa in g entfaltet im einleitenden Kyrie elegischen Drive, der die schlagkräftigen Figurationen des Vorbildsatzes «Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben» perfekt dem lateinischen Bittgebet anpasst – eine überzeugende Werkgestalt, die sich in den wuchtigen Tuttisätzen des ebenfalls in Moll stehenden Gloria und des Cum sancto spiritu sowie drei elegant instrumentierten und rhythmisch prononciert gesetzten Soloarien fortsetzt.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Lia Andres, Maria Deger, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel, Ulla Westvik
Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Stefan Kahle, Lea Pfister-Scherer, Lisa Weiss
Tenor
Manuel Gerber, Klemens Mölkner, Christian Rathgeber, Sören Richter
Bass
Daniel Pérez, Philippe Rayot, Julian Redlin, Peter Strömberg, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó, Judith von der Goltz, Cecilie Valtrova
Viola
Sonoko Asabuki, Matthias Jäggi, Rafael Roth
Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Philipp Wagner, Andreas Helm
Fagott
Gabriele Gombi
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Nicola Cumer
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter
Reflexion
Referent
Beat Grögli
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
15.09.2022
Aufnahmeort
St. Gallen // Kathedrale
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Kyrie
1. Chor
Kyrie eleison,
Christe eleison,
Kyrie eleison.
Kyrie
Das einleitende Kyrie entfaltet einen aus der Vorlage «Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben» (BWV 102) mitgenommenen elegischen Drive, der die schlagkräftigen Figurationen der deutschen Version perfekt dem lateinischen Bittgebet anpasst. Wie Bach dabei das bildhaft abgesetzte «Du schlägest sie» in das zurückgenommene «Christe eleison» verwandelt, ist von kühner Meisterschaft und spricht für die Integrationskraft des lateinischen Messetextes, der sich selbst die schmerzerfüllte Schlussfuge «Sie haben ein härter Angesicht» als kraftvoll beschliessendes Kyrie II anzuverwandeln weiss.
Gloria
2. Chor
Gloria in excelsis Deo
et in terra pax hominibus
bonae voluntatis.
Laudamus te, benedicimus te,
adoramus te, glorificamus te.
Gloria
Wenn der meist in strahlendes Dur getauchte Gloria- Lobpreis ausnahmsweise in Moll gesetzt ist, gerät dies für Ausführende und Zuhörer zum besonderen Erlebnis. Bach hat dafür den kämpferischen Eingangschor «Alles nur nach Gottes Willen» (BWV 72) von a- nach g-Moll versetzt und unter Verzicht auf das kantatentypische Eingangsritornell mit wuchtigen Akkordschlägen und Aufstiegsfigurationen beginnen lassen, in denen man womöglich das Flügelschlagen der «himmlischen Heerscharen» wahrnehmen kann. Die Reichhaltigkeit der Bach’- schen Motivdisposition bewährt sich in den für die Neutextierung nötigen Abspaltungen auf das Eindrücklichste.
3. Arie — Bass
Gratias agimus tibi propter
magnam gloriam tuam.
Domine Deus, Rex coelestis,
Deus Pater omnipotens.
Gratias
Die Verwandlung des fordernden Jesuswortes «Darum sollt ihr nicht sorgen» der Kantate BWV 187 in das demütige «Gratias agimus tibi» der Messe gehört zu den grösseren Affektsprüngen dieses Werkbestandes. Doch hat Bach offenbar diese dreistimmige Invention mit ihrer Verbindung von kontrapunktischer Strenge und geerdeter Kantabilität besonders geschätzt. Dass Bach die Vorlage unter Beibehaltung der Bass-Sololage um eine Quarte herabtransponierte, trägt zum entspannten Charakter des Satzes wesentlich bei.
4. Arie — Altus
Domine Fili unigenite Jesu Christe.
Domine Deus, Agnus Dei, Filius Patris,
qui tollis peccata mundi,
miserere nobis.
Domine Fili
Das derselben Kantate entstammende tänzerische «Du, Herr, du krönst allein das Jahr mit deinem Gut» betont hier die Lieblichkeit des Gottessohns. Entsprechend hat Bach die Instrumentierung durch Ausweis solistischer Oboenpassagen ebenso verfeinert, wie er die Altpartie durch eingefügte Durchgänge geschmeidiger machte.
5. Arie — Tenor
Qui tollis peccata mundi, miserere nobis,
suscipe deprecationem nostram.
Qui sedes ad dexteram Patris,
miserere nobis.
Quoniam tu solus sanctus,
tu solus Dominus, tu solus altissimus
Jesu Christe.
Qui tollis
Das zurückgenommene «Gott versorget alles Leben » (BWV 187/5) bot sich für das «Qui tollis peccata mundi» als demutsvollsten Teil des Gloria besonders an. Bach konnte dafür die elegante Trioanlage mit solistischer Oboe und ihren redenden Sprüngen und Pausen sowie fliessenden Melismen unter geschickter Anpassung der Sprachdeklamation ebenso weitgehend übernehmen, wie ihm der geschwinde zweite Vorlagenteil «Weicht, ihr Sorgen» für das mit einem veränderten Schluss ausgestattete «Quoniam » zupass kam.
6. Chor
Cum Sancto Spiritu
in gloria Dei Patris, amen.
Cum Sancto Spiritu
Mit dem ohne vorbereitendes Ritornell unmittelbar einsetzenden «Cum Sancto Spiritu» hat Bach erneut einen Kantatenchor («Es wartet alles auf dich» BWV 187/1) so wirksam für den Messetext verdichtet, dass man einschliesslich der zentralen Fuge beim unvorbelasteten Hören fast an eine (italienische) Originalkomposition glauben möchte. Der zugleich ernste wie elegant schwebende Duktus des Satzes schliesst wirksam an den Eingangschor an und sorgt so für eine rauschende Abrundung der Messe.
Reflexion von Dompfarrer Beat Grögli
anlässlich der Aufführung der «Luther-Messe» in g-Moll von J. S. Bach
am 15. September 2022 in der Kathedrale St. Gallen
Geschätzte Damen und Herren
Es ist schon etwas Besonderes, wenn die Bach-Stiftung in der katholischen Kathedrale eine sogenannte «Luther-Messe» von Johann Sebastian Bach zur Aufführung bringt und den katholischen Dompfarrer dazu einlädt, eine Reflexion zu halten. Sehr gerne habe ich diese Einladung angenommen, in diesem schönen Rahmen zu Ihnen zu sprechen, an diesem Ort, wo ich seit 9½ Jahren Kirche mitgestalten darf, in dieser Kirche, die ein weites Dach hat und polyphon ist – nicht nur heute Abend, sondern immer wieder.
Für mich liegt es nahe, bei der Aufführung einer «Luther-Messe» über die Messe nachzudenken. Diese Gedanken möchte ich mit Ihnen teilen und dabei zwischen musikalischem Werk und katholischer Messe hin- und herpendeln. Ich werde meine Gedanken entlang von drei lateinischen Stichworten entfalten, die mir selbst in meinem eigenen geistlichen Leben wichtig geworden sind.
Das erste Stichwort: repetitio iuvat – die Wiederholung hilft.
Es ist ein Irrsinn zu meinen, im Leben müsse immer alles neu und einzigartig sein. Ein solches Leben gibt es nicht, und es würde uns alle auch ziemlich überfordern. Wir sind froh, dass die Dinge sich wiederholen – vor allem die schönen und hilfreichen. In der Werkeinführung haben wir bereits gehört, dass Johann Sebastian Bach für seine Kyrie-Gloria-Messen geschickt auf frühere Kantaten zurückgegriffen hat. Die Melodie wiederholt sich also. Was einmal gut war, soll nach einmaligem Gebrauch nicht verschwinden, sondern Wiederverwendung finden: Recycling und Transformation. Bach hat das ausserordentlich kunstvoll getan und an entscheidenden Stellen gerade nicht einfach etwas wiederholt, sondern es für einen neuen Ort, für eine neue Zeit noch einmal neu formuliert. Dennoch gilt: Repetitio iuvat. Die Wiederholung hilft: im Leben, im Alltag, beim Lernen, beim Einüben.
Die Wiederholung hilft unbedingt auch im Religiösen. Der katholische Gottesdienst ist – im Grossen und Ganzen – eine Wiederholung. Das liegt schon in der Natur der Sache, wenn Jesus sagt: «Tut dies zu meinem Gedächtnis!» Hier wiederholt sich etwas, was Jesus getan hat. Die Worte und Zeichen der katholischen Messe folgen einer Ordnung, die sich wiederholt. In der liturgischen Fachsprache heisst das: «Ordinarium», das, was jedes Mal kommt. Das Proprium sind dann jene Texte, die spezifisch für diesen Tag festgelegt sind: vom Sonntag, vom Festtag, an den Gedenktagen der Heiligen.
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie froh ich bin, dass es die katholische Messordnung gibt! Es wäre eine totale Überforderung, den Gottesdienst jedes Mal wieder neu zu erfinden. Die Wiederholung hilft, dass ich mich einfach hineingeben kann in diese Ordnung. Es geht nicht zuerst darum, mich in Szene zu setzen, etwas Originelles zu sagen oder zu tun, sondern mich mittragen zu lassen in dieser gemeinsamen Feier. Es wäre ganz unmöglich, hier in der Kathedrale jeden Tag zwei oder mehr Gottesdienste zu feiern, wenn wir sie von Grund auf neu erfinden müssten. Die Wiederholung hilft.
Sie hilft, die wesentlichen Dinge zu vertiefen, weil wir dieses Wesentliche, Eine immer wieder neu hören und erleben – selbstverständlich in einem neuen Kontext, in der Situation, in der wir jetzt stehen, vor dem Hintergrund neuer Fragen; und selbstverständlich auch verbunden mit neuen Elementen und neuen Gedanken. Ich spreche ja nicht einer erstarrten, eingefrorenen Liturgie das Wort, aber einer Liturgie, die eine sinnvolle Ordnung hat. Repetitio iuvat – die Wiederholung hilft.
Das führt mich schon zum zweiten Stichwort: non multa, sed multum – nicht das Vielerlei, sondern das Eine, Wichtige, Wesentliche.
Ich beginne beim Musikalischen: Hier in der Kathedrale komme ich in den Genuss vieler Orchestermessen. Das Libretto ist dabei immer dasselbe: Kyrie – Gloria – Credo – Sanctus – Benedictus – Agnus Dei. Also wahrlich keine grosse Vielfalt in den Worten. Aber was haben grosse Komponisten daraus gemacht! In 1000 Varianten: Kyrie eleison – quoniam tu solus sanctus – et incarnatus est – et crucifixus est – et resurrexit tertia dia – benedictus qui venit in nomine Domini. Eine Vielfalt ohne Ende, aber immer auf der Grundlage des einen Textes, des lateinischen Ordinariums. Bitte: Ich sage nicht, die Kirchenmusik solle sich in den Messvertonungen erschöpfen. Aber ich will sagen: Die grosse Kreativität ereignet sich nicht dort, wo immer alles offenbleibt und möglich ist, sondern in der Beschränkung. Im Leben müssen wir in der Regel diese Beschränkung nicht selbst suchen. Das Leben selbst gibt sie uns vor: In dieser Zeit, mit diesen Kräften, mit dieser Herkunft und Geschichte leben wir unser Leben und geben wir ihm eine Gestalt. Meistens finden wir diese Beschränkungen nicht so toll. Wir hätten sie lieber nicht. Sie schränken eben ein. Aber sie geben unserem Leben auch jenen Ernst und jenes Gewicht, wie nur ein Menschenleben es haben kann.
Ich bin kein grosser Bach-Kenner, aber die Solokantate «Jauchzet Gott in allen Landen»hat sich mir so erschlossen: Da steigt Bach zu einer musikalischen Höchstleistung empor, weil eine Kantate hermuss, aber der Chor und das Orchester grösstenteils krank darniederliegen. In der Beschränkung auf Solosopran und Trompete gelingt Bach diese wunderbare Jubelkantate. Also: non multa, sed multum – nicht das Vielerlei, sondern das Eine, Wichtige, Wesentliche.
In der Lebensregel einer neuen monastischen Gemeinschaft, der communauté de Jérusalemme, habe ich dieses geistliche Prinzip auf schöne Art und Weise wiedergefunden. Die Regel geht ganz klassisch den drei evangelischen Räten, der Armut, dem Gehorsam und der Ehelosigkeit, entlang und sagt dann schlicht und einfach: «Habe den Mut, daraus dein Lied zu machen.» Ja, die evangelischen Räte sind eine Einschränkung. Jede Lebensentscheidung, jede Entscheidung für eine Lebensform ist eine Beschränkung. Aber: «Habe den Mut, daraus dein Lied zu machen.»
Ich komme zu meinem dritten und letzten Stichwort: mysterium fidei – Geheimnis des Glaubens.
In der katholischen Messfeier kommt diese Akklamation nach dem sogenannten Einsetzungsbericht. Wir hören die Worte Jesu beim letzten Abendmahl: «Das ist mein Leib» – «Das ist mein Blut» – für euch. Und dann: «Geheimnis des Glaubens – mysterium fidei». Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. In der Mitte der katholischen Messfeier heisst es also: Das ist ein Geheimnis – ein mysterion. Im Sinne von: Damit bist du nie fertig; damit wirst du nie fertig; das ist ein Weg.
Das «Geheimnis des Glaubens» ist nicht katholisch oder evangelisch oder orthodox. Es ist Gott sei Dank tiefer. Jesus hat in seinem Leben bis zum Tod am Kreuz alles getan und gegeben, Gottes Liebe bis zuletzt, bis zum Letzten, und so alle, die daran glauben, gerecht gemacht. Das ist der protestantische Karfreitag. Und Gott hat in der Auferweckung Jesu sein letztes, herrliches Ja gesprochen; Jesus Christus ist das Ja zu allem, was Gott verheissen hat. Das ist der katholische Ostersonntag. – Im «Geheimnis des Glaubens» gehört beides zusammen.
«Geheimnis des Glaubens»: Dazu hat die Musik so viel zu sagen. Wo die Worte an die Grenze kommen, wo nicht nur der Verstand, sondern das Herz und der ganze Mensch angesprochen werden sollen, geht es nicht ohne Musik. Es ist eine religiöse Erfahrung, wenn ich meine eigene Melodie finde und sie singen kann. Es ist gelebter Glaube, wenn ein Lied – ich sage zum Beispiel «Wer nur den lieben Gott lässt walten» – wenn dieses Lied mich durch ganz verschiedene Lebensphasen und -zeiten begleitet und trägt. Es ist ein starkes Zeugnis, wenn wir in allen Fragen und trotz allem Gott loben und danken im Lied. Die Musik bringt das Geheimnis des Glaubens zum Schwingen und Klingen. «Die Musik bringt uns», sagt Olivier Messiaen, «in Abwesenheit von Wahrheit zu Gott, bis zu dem Tag, an dem er selbst uns mit einem Übermass an Wahrheit erhellen wird.» – «Mysterium fidei.»
Geschätzte Damen und Herren
Wir hören noch einmal die Kyrie-Gloria-Messe in g-Moll von Johann Sebastian Bach. Repetitio iuvat – die Wiederholung hilft ja.
Sie haben sich in dem Vielen, das Sie heute Abend auch noch hätten machen können, für diese Aufführung der Bach-Stiftung entschieden. Sie sind auch nicht vom Einen zum Nächsten weitergesprungen, sondern haben sich richtig Zeit genommen. Non multa, sed multum – nicht das Vielerlei eben, sondern etwas, und das dafür richtig.
Die Musik und die Worte in diesem Raum haben uns hineingenommen ins Geheimnis, das unendlich weit über uns hinausgeht, in dem wir uns aber nicht verlieren, sondern finden und wieder-finden – im Ge-heim-nis daheim.