Ein ungefärbt Gemüte

BWV 024 // zum 4. Sonntag nach Trinitatis

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Oboe d’amore I+II, Tromba, Streicher und Basso continuo

Die Kantate «Ein ungefärbt Gemüte» wurde zwar am 20. Juni 1723 in Leipzig erstaufgeführt. Sie knüpft jedoch im Tonfall an Bachs Weimarer Kantaten an, was womöglich der stilistischen
Einheitlichkeit mit der im gleichen Gottesdienst wiederaufgeführten Kantate «Barmherziges Herze der ewigen Liebe» (BWV 185) von 1715 diente. Die zwischen Ermahnung und Liebeswerben changierenden Verse Erdmann Neumeisters machen sie zu einer unverkennbar moralischen Kantate, die sehr gut in die Handels- und Lasterstädte Leipzig und Hamburg passte.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 24

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Chor

Sopran
Lia Andres, Mirjam Wernli Berli, Olivia Fündeling, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Anna Walker

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Liliana Lafranchi, Damaris Rickhaus, Lea Scherer

Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Sören Richter, Nicolas Savoy

Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Daniel Pérez, Retus Pfister, William Wood

Orchester

Leitung & Cembalo
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Yuko Ishikawa, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Anita Zeller

Viola
Susanna Hefti, Martina Zimmermann, Matthias Jäggi

Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt

Violone
Guisella Massa

Oboe
Kerstin Kramp

Oboe d’amore
Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Thomas Leininger

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Aleida Assmann

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
17.06.2016

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 1, 2, 4, 5
Erdmann Neumeister, 1717

Textdichter Nr. 3
Matthäus 7, 12

Textdichter Nr. 6
Johann Heermann, 1630

Erste Aufführung
4. Sonntag nach Trinitatis,
20. Juni 1723

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Eingangsarie exponiert eine ungewöhnlich eingängige Musik. Der Soloalt wird von einer Continuostimme begleitet, die zwischen gemütlichen Bassschritten und federnden Bewegungen zu schwanken scheint. Auch die Tonwiederholungen der Unisonostreicher könnten bärbeissig einherschreiten oder spöttisch gemeint sein – sie mögen jedoch auch für die bäuerliche Schlichtheit eines einfachen Thüringers stehen, der mit seiner «Treu und Güte» einen gewissen Charme «vor Gott und Menschen» entfalten und sich sogar zu einem streitbaren «Lebenswandel» aufraffen kann. Es ist ein etwas ungehobelter, aber herzensguter Geselle, der hier agiert und der vielleicht ein Selbstporträt Johann Sebastian Bachs darstellt. Doch darf man bei dieser «ungefärbten» Motivik auch an die edle Einfalt idealisierter Vorfahren denken, wie sie etwa Telemann in der «Ouverture des Nations anciennes et modernes» den alten Deutschen, Dänen und Schweden auf den Leib komponierte. Ein solcher Charaktertopos greift Stereotype der frühneuzeitlichen Selbstwahrnehmung der Teutschen auf, die wesentlich auf der Abgrenzung gegenüber der welschen Tücke des Papstes und der knechtischen Schmeichelei des spanisch-habsburgischen Kaiserhofes beruhte.

Das Tenorrezitativ lenkt den moralischen Diskurs auf eine konkrete Ebene. Die rare «Redlichkeit» wird als erstrebenswerte «Gottesgabe» profiliert, die einer pessimistischen Anthropologie entgegengesetzt wird – nur Gott allein kann uns vor unserm «bösen Dichten» bewahren. Daraus wird in einem Ariososchluss, der den ganzen Liebreiz der Tugend in die Waagschale wirft, die goldene Regel abgeleitet: «Mach aus Dir selbst ein solches Bild, wie Du den Nächsten haben willt.» Der folgende Tutti-Chor verdeutlicht diese Aussage durch ein Bibelwort aus Matthäus 7, 12, das erstmals Singchor und volles Orchester samt einer solistischen Trompete mobilisiert. Bach kommt mit der Doppelvertonung des Textes auf ein Erfolgsrezept seiner ersten Leipziger Kantaten zurück, die häufig ein Satzpaar aus einem konzertanten Präludium sowie einer Vokalfuge mit sukzessiver Aufregistrierung des Klangapparates (Vokalsoli + Instrumente + Vokalripieno) ausbildeten. Der einer kollektiven Selbstermahnung gleichkommende Chor wird so zum wirksam postponierten Kopfsatz der Kantate. Die unbequeme Vertracktheit der Einsatzfolgen entspricht der Mühe, Konflikte wirklich mit den Augen des Nächsten zu sehen.

Das Bassrezitativ geht mit einem hämmernden Accompagnato gegen die teuflische Sünde der Heuchelei vor, wobei auch die Falschheit ihr Fett abbekommt. In nahezu buffonesken Wendungen werden als Engel verkleidete «Ungeheuer» und der sprichwörtliche «Wolf im Schafspelz» demaskiert, was dem Arioso «Der liebe Gott behüte mich dafür» eine fast schon gleisnerische Theatralik verleiht, in der man durchaus die boshafte Karikatur eines selbstgerechten Kanzelredners erkennen könnte.

Dem wird in der Tenorarie eine hermetische Welt der «Treue und Wahrheit» entgegengesetzt, die im lieblichen Klanghauch der Oboen d`amore dennoch Wärme ausstrahlt. Es ist, als wäre man vom lasterhaften Marktplatz der Eitelkeiten in eine behagliche Stube getreten, wo gerade an einer kargen, aber liebevoll gedeckten Tafel das Tischgebet gesprochen wird. Während die imitative Einsatzfolge den Gedanken der Christusnachfolge ins Spiel bringt, spielt die unsanft nach unten abspringende Motivik auf die Mühsal eines tugendhaften Lebens an. Dass die Arie davon spricht, nur die Einheit von Wort und Tat könne uns schliesslich «Gott und Engeln gleich» machen, macht den Verzicht auf eine Da-capo-Form zugunsten einer auskomponierten Entwicklung auch semantisch schlüssig.

Überraschend kommt das Choralgebet «O Gott, du frommer Gott» nicht als schlichter Kantionalsatz daher, sondern weist neben einer Instrumentaleinkleidung auch Zwischenspiele auf, die vor allem in den tiefen Trompetenrepetitionen an den Eröffnungssatz erinnern. Bach behandelt den Choral mit einer Opulenz und Lieblichkeit, die fast auf Mendelssohn vorausweist. Hier wird die innere Freude eines hochherzigen Geistes geschildert, wobei die eingestreuten Seufzer für die schwer erfüllbaren Bitten stehen, die Neumeister seinen Schäflein aufträgt. Die dichtgedrängten Tonfolgen, die Bach der «unverletzten» Seele angedeihen liess, wirken wie das Gebet einer in schwerem Wetter zusammengekauerten Pilgergruppe, bevor der Choral in einem gedehnten Schluss von schwelgerischer Zartheit endet. Ob die Leipziger Kaufleute und Zunftmeister diesen auf das Himmelreich ausgestellten Wechsel eingelöst haben, können wir nur vermuten – Bach und Neumeister haben jedenfalls alles dafür getan und sich über das historische «Teutschland» hinaus an alle (Christen-)Menschen gewandt…

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Das Evangelium dieses Sonntages ist ein Abschnitt aus der Bergpredigt in der Überlieferung des Lukas (6,36–42): «Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Und richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet werden.» Der Textdichter Erdmann Neumeister übersteigerte diese Worte und schuf im Rahmen seiner mehrfach wieder aufgelegten Jahrgangslibretti daraus eine Busspredigt zum Thema Redlichkeit und Heuchelei. Bach hat aus dieser Vorlage mit ihrem in die Mitte gesetzten Bibeldictum eine von der Form und Besetzung her sehr eigenwillige und einprägsame Kirchenmusik geschaffen.

1. Arie (Alt)

Ein ungefärbt Gemüte
an teutscher Treu und Güte
macht uns vor Gott und Menschen schön.
Der Christen Tun und Handel,
ihr ganzer Lebenswandel
soll auf dergleichem Fuße stehn.

1. Arie
Die Redeweise von «teutscher Treu und Güte» hatte zu Bachs Zeit noch nicht den dominant nationalistischen Charakter, den sie später erhalten hat. Sie bedeutet, ohne Umschweife zu reden und unverstellte Treue und Güte zu üben, was im politischen Diskurs des Reiches allenfalls gewisse gegen die habsburgische Dynastie gerichtete bzw. antikatholische Beimengun­gen enthalten konnte. Diese kernige Einigkeit und Direktheit wird durch die Unisono-Besetzung der Streicher hervorgehoben, deren markante Tonwiederholungen und etwas bärbeissige Melodieglieder sich bewusst von jeder Verkünstelung distanzieren. Auch der Gestus eines kantigen Menuetts verweist eher auf bürgerliche Einfältigkeit und Rechtschaffenheit denn auf zweideutig-höfische Eleganz.

2. Rezitativ (Tenor)

Die Redlichkeit
ist eine von den Gottesgaben.
Dass sie bei unsrer Zeit
so wenig Menschen haben,
das macht, sie bitten Gott nicht drum.
Denn von Natur geht unsers Herzens Dichten
mit lauter Bösem um;
soll’s seinen Weg auf etwas Gutes richten,
so muss es Gott durch seinen Geist regieren
und auf die Bahn der Tugend führen.
Verlangst du Gott zum Freunde,
so mache dir den Nächsten nicht zum Feinde
durch Falschheit, Trug und List.
Ein Christ
soll sich der Tauben Art bestreben
und ohne falsche Tücke leben.
Mach aus dir selbst ein solches Bild,
wie du den Nächsten haben willt.

2. Rezitativ
«Unsers Herzens Dichten» ist von Natur aus zum Bösen geneigt. Das heisst aber nicht, dass es nicht auch zum Guten fähig ist, wenn «eine von den Gottesgaben» in ihm wirkt. Der Ausdruck «Taubenart» bezieht sich auf das Jesuswort: «Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben» (Matthäus 10, 16). Wie oft in ausgedehnten Rezitativen kulminiert der Satz in einem Schlüsselwort mit moralischer Botschaft ( «Mach aus dir selbst ein solches Bild, wie du den Nächsten haben willt»), dem Bach durch ariose Verlängerung besonderes Gewicht verleiht.

3. Chor

Alles nun, das ihr wollet,
dass euch die Leute tun sollen,
das tut ihr ihnen.

3. Chor
Im Zentrum der Kantate steht die «Goldene Regel» (Matthäus 7, 12), die in der Sprichwortüberlieferung meistens negativ formuliert wird, von Jesus aber ins Positive gewendet wurde. Bach hat dieses kurze Dictum durch eine überraschend ausgedehnte zweiteilige Vertonung auch musikalisch ins Zentrum der Kantate gestellt und damit auf einer Linie mit Neumeisters dichterischen Intentionen das Bibelwort als Inspirationsquelle und unverrückbares Korrektiv aller modischen Kirchenpoesie kenntlich gemacht. Ein concertoartiger erster Teil, der im blockhaften Wechsel von Choreinwürfen und Orchesterintermezzi beginnt und schliesst und in seinem Mittelabschnitt zu einer stärkeren Integration der Stimmen und Klanggruppen fortschreitet, wird von einer geschwinden Doppelfuge abgelöst, deren durchgehaltene Stimmpaare die Reziprozität der Forderung verdeutlichen: Nur was ich selbst vorlebe, kann ich von anderen glaubhaft fordern. Durch die teils eigenständige Führung der Instrumentalstimmen entsteht ein komplexes Satzgebilde; welches Blechblasinstrument Bach für die markante Partie des «Clarino» konkret im Auge hatte, ist quellenmässig nicht sicher zu sagen.

4. Rezitativ (Bass)

Die Heuchelei
ist eine Brut, die Belial gehecket;
wer sich in ihre Larve stecket,
der trägt des Teufels Liberei.
Wie? lassen sich denn Christen
dergleichen auch gelüsten?
Gott sei’s geklagt! die Redlichkeit ist teuer.
Manch teuflisch Ungeheuer
sieht wie ein Engel aus:
Man kehrt den Wolf hinein,
den Schafspelz kehrt man raus.
Wie könnt es ärger sein?
Verleumden, Schmähn und Richten,
Verdammen und Vernichten
ist überall gemein.
So geht es dort, so geht es hier.
Der liebe Gott behüte mich dafür!

4. Rezitativ
Dem Jesuswort lässt der Dichter eine Moralpredigt über die Heuchelei folgen: Von Belial (Teufel) ist die Heuchelei ausgebrütet worden. Wer sich mit Heuchelei tarnt, der trägt «des Teufels Liberei» (Livrée, Dienstkleid mit Abzeichen). Unbegreiflich, dass auch Christen der Heuchelei verfallen und sich wie Wölfe im Schafspelz verhalten. Es folgt daher die Bitte: «Der liebe Gott behüte mich dafür (= davor).» Die zugefügten Streicherstimmen verleihen dem Accompa­gnato einen teuflisch gleissenden Charakter; vor die­sem Hintergrund wirkt das ariose Schlussgebet in seiner schlichten Gottsuche besonders überzeugend.

5. Arie (Tenor)

Treu und Wahrheit sei der Grund
aller deiner Sinnen;
wie von aussen Wort und Mund,
sei das Herz von innen.
Gütig sein und tugendreich,
macht uns Gott und Engeln gleich.

5. Arie
Die Gedanken kehren nochmals zur Eingangsarie zurück. Treue und Wahrheit sollen das Fundament christlicher Existenz sein, Gütigkeit im Sinne Gottes, der die Menschen «wenig geringer als Engel» gemacht hat (Psalm 8, 6). Bach greift in der Stimmführung auf kanonische Techniken zurück, die offenkun­dig den Aspekt der Nachfolge als «Treue» zu Gottes Wort und Christi Beispiel hervorheben. Die Strenge der Anlage wird dabei durch den warmen und sinnli­chen Klang der Liebesoboen emblematisch aufgehellt.

6. Choral

O Gott, du frommer Gott,
du Brunnquell aller Gaben,
ohn den nichts ist, was ist,
von dem wir alles haben,
gesunden Leib gib mir,
und dass in solchem Leib
ein unverletzte Seel
und rein Gewissen bleib.

6. Choral
Die erste Strophe dieses Liedes von Johann Heermann ist das passende Gebet der Gemeinde nach dieser Predigt. Die Option für einen Schlusschoral mit gebetsartigen instrumentalen Zeilenzwischenspielen wertet den Satz deutlich auf und spricht für Bachs Bemühen, die Hörergemeinde in seinem ersten Amtsjahr immer wieder zu überraschen und für sein Projekt zu gewinnen. Die tiefliegenden Tonwiederholungen der Trompete (?) binden den Schluss­choral dabei subtil an die «deutsch-rechtgläubige» Motivik der Eingangsarie.

Reflexion

Aleida Assmann

«Allianz von Glaube und Vernunft»

Über die Musik als eine Dimension religiöser Erfahrung – eine Lektüre der Kantate «Ein ungefärbt Gemüte» (BWV 24) als Drama in 6 Akten.

In seinem Erinnerungsbuch «Granatsplitter» erzählt der deutsche Literaturtheoretiker und Publizist Karl-Heinz Bohrer von seiner Jugend in einem protestantischen Internat. Als rheinländischer Katholik hatte er dort auch Kontakt mit dem protestantischen Pfarrer, der wie Luther aussah und dessen Predigten berühmt waren. Doch all das konnte den jungen Bohrer nicht wirklich überzeugen, «obwohl ihm die Predigten des evangelischen Pfarrers großartig vorkamen, ganz großartig. Die Wörter türmten sich, aber das war es eben – es waren zu viele Wörter». Der Junge teilte dem Pfarrer seinen Eindruck mit: «in der evangelischen Kirche werde zu viel geredet, aber zu wenig gezeigt. (…) Da lachte der evangelische Pfarrer und sagte: ‹Du bist noch immer ein richtiger Katholik!› ».
Zuviel reden, zu wenig zeigen: hier reformuliert Bohrer den alten Gegensatz zwischen protestantischer Wortkultur und katholischer Bildkultur, die ja auch ein reiches Spektrum an sinnlichen Eindrücken wie Gewänder, Schmuck, kostbare Reliquien und Weihrauch umfasst, mit denen das Heilige aus der Sphäre des Alltäglichen herausgehoben wird. In der Gegenüberstellung zwischen Ohr und Auge geht jedoch etwas Wesentliches unter, und das ist die Bedeutung der Musik als eine besondere Dimension religiöser Erfahrung. In den Gesängen der Mönche, in Chorälen und festlichen Messen hatte die Musik als Stütze für Gebet und Liturgie schon immer einen festen Platz in der Geschichte des Christentums. Im Protestantismus jedoch veränderte diese Musik ihren Charakter und entwickelte sich zu einer neuen subjektiven Dimension religiöser Erfahrung. 40 Jahre vor Bachs Geburt hat das bereits der puritanische Dichter John Milton in dem Gedicht «Il Penseroso» zum Ausdruck gebracht:
«Und wenn der Orgel reicher Schall
sich mischt mit stimmgewaltgem Chor
im Gottesdienst in Hymnen klar
dann dringt die Süße durch mein Ohr,
sie löst mich auf in reine Lust
und lässt mich in den Himmel schaun.»
(Übers. A. A.)

«There let the pealing Organ blow,
To the full voic’d Quire below,
In Service high, and Anthems cleer,
As may with sweetnes, through mine ear,
Dissolve me into extasies
And bring all heaven before mine eyes.»
(Verse 161–166)

Auch hier dringt etwas durch das Ohr, aber es sind nicht nur die sich türmenden Wörter, es ist auch die Musik, die bei Bach ihren Adressaten im Individuum findet und auf diese Weise eine neue Dimension religiöser Erfahrung eröffnet. Unter den Voraussetzungen der protestantischen Kultur hat Bach eine neue Fusion von Musik, Religion und Subjektivität hervorgebracht, die weit über die Grenzen des Gottesdienstes und Christentums hinauswirkt.
Die Komposition der Kantate «Ein ungefärbt Gemüte» (BWV 24) besteht aus den drei Elementen Arie, Rezitativ und Chor, die sich jeweils wiederholen. So entstehen sechs Abschnitte, die durch das gemeinsame Thema der christlichen Lebensführung zusammengehalten werden.

(1) Die erste Arie wird von einer weiblichen Stimme gesungen. Der von Bach zugrunde gelegte Text von Erdmann Neumeister aus dem Jahre 1717 besteht aus einer allgemeinen Aussage und einer darauf folgenden Anweisung:
«Ein ungefärbt Gemüte
von deutscher Treu und Güte
macht uns vor Gott und Menschen schön.
Der Christen Tun und Handel,
ihr ganzer Lebenswandel
soll auf dergleichen Fuße stehn.»

Hier ist nicht vom Individuum, Glauben oder religiöser Erfahrung die Rede, sondern von Verhalten und Lebensformen in immer größeren Gruppen: Deutschen, Christen und der ganzen Menschheit. Zur Religion – das ist heute ein sehr aktueller Gedanke – gehört nicht nur, dass man im Inneren mit seinem Gott im Reinen ist, sondern auch, dass man nach Aussen hin friedlich in seiner Umwelt lebt. Das Christentum soll seine Anhänger nicht nur vor Gott, sondern auch den Menschen gegenüber «schön» machen.
Auf diesen Auftakt folgen zwei Rezitative, ebenfalls aus der Feder Neumeisters, die diese Frage nach dem rechten Zusammenleben näher erläutern. Sie sind als Gegensatzpaar angelegt und präsentieren die christliche Verhaltenslehre unter einem positivem und einem negativem Vorzeichen: als Tugend der Redlichkeit und als Laster der Heuchelei.

(2) Die Tugend der Redlichkeit ist so wenig verbreitet, weil sie nach Ansicht der Protestanten nicht in der Natur des Menschen angelegt und verankert ist. Anders als die Aufklärer hatten die Protestanten ein pessimistisches Menschenbild:
«Denn von Natur geht unsers Herzens Dichten
mit lauter Bösem um;
soll’s seinen Weg auf etwas Gutes richten,
so muss es Gott durch seinen Geist regieren
und auf der Bahn der Tugend führen.»

Der normale Betriebsmodus des Menschen ist das Angezogensein vom Bösen. Um davon wegzukommen, bedarf es göttlicher Unterstützung und Intervention. Aber mit Gott im Reinen zu sein genügt auch nicht:
«Verlangst du Gott zum Freunde,
so mache dir den Nächsten nicht zum Feinde
(…)»

Der fromme Mensch zeigt sich in der Gesellschaft als der solidarische Mensch. Das friedliche Zusammenleben verlangt die Achtung des Anderen, der nicht durch List hintergangen und durch Betrug übervorteilt werden darf. In diesem Rezitativ über Redlichkeit ist nicht die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die dem Menschen seinen Wert und seine Würde verleiht. Statt einer universalen Aussage über den Menschen geht es um eine konkrete Regel für das soziale Zusammenleben:
«Mach aus dir selbst ein solches Bild,
wie du den Nächsten haben willt!»

Hier wird ein wichtiger Schritt von der vertikalen zur horizontalen Beziehung vollzogen: der Mensch ist nicht nur Abbild Gottes, er soll auch so leben, dass er ein Vorbild für den nächsten sein kann. Es geht dabei um dieselbe Kraft, die in Lessings «Nathan der Weise» von dem geheimnisvollen Ring ausgeht, der seinen Besitzer, wenn er ihn in der rechten Zuversicht trägt, «vor Gott und Menschen angenehm» macht, wie es im Dritten Akt heisst:
«Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug.»

(4) Jede Tugend wirft einen Schatten und hat als Rückseite ein ihr zugeordnetes Laster. Deshalb malt parallel zum 1. Rezitativ, das die Tugend der Redlichkeit ausmalt, das 2. Rezitativ das Laster der Heuchelei aus. Die Laster haben sich in der Phantasie des Christentums viel stärker breitgemacht als die Tugenden. Der Dualismus zwischen gut und böse hat sich zu einem mythischen Kampf im Herz des Menschen zugespitzt, in dem Gott und Satan um die Seele kämpfen. In einem Gedicht des englischen Dichters Francis Quarles (1592 – 1644) aus dem 17. Jahrhundert wird dieser Kampf mit einem Tennismatch verglichen:
«Der Mensch ist ein Tennisplatz,
sein Leib die Wand,
die Spieler Gott und Satan
sein Herz der Ball.»
(Übers. A. A.)

«Man is a tenniscourt
His Flesh’s the Wall
the gamesters God and Satan
the heart’s the ball.»

Das Vorbild für das Laster der Heuchelei ist der Teufel selbst, der sich in allerlei Verstellungen in das menschliche Herz hineinschleicht, um es zu versuchen und zu Fall zu bringen. Dieser Dauerkampf von gut und böse, der in der Phantasie der Christen einen großen Platz eingenommen hat, wurde durch den Protestantismus noch weiter verschärft. Während im Katholizismus sich eine große Armee von Heiligen und Helfern, angeführt von der Gottesmutter Maria, für die einzelne Seele einsetzt, ist der Protestant allein auf weiter Flur einer ebenso großen Armee gefährlicher Dämonen und Verführer ausgeliefert, die alle Verkörperungen des Teufels sind. In Bachs Kantate tritt der Teufel in der Figur des Belial auf und ist der Meister der Verstellung. Genauso hat ihn auch Milton in seinem Epos vom «Verlorenen Paradies» dargestellt. Er kann seine Gestalt nach Belieben verwandeln und erscheint als Kröte am Ohr der Eva, der er in der Nacht im Paradies einen verstörenden Traum eingibt. Die Engel, die im Paradies Wache halten, kann er leicht überlisten, denn Engel sind, wie Milton betont, absolut rein und deshalb auch arglos. Sie haben keinen Blick für Täuschung und Verstellung. Nur einer von ihnen namens Ithuriel hat ein spezielles Werkzeug, einen Speer, bei dessen Berührung sich umgehend jegliche Verstellung in ihre wirkliche Gestalt zurückverwandelt. Der Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli hat diese Szene 1779 in einem berühmten Bild dargestellt:
Als er nun den [i. e. Satan],
Der so erpicht, Ithuriel nur leicht
Mit seinem Speer berührte, springt er auf,
Entdeckt und überrascht, zurückverwandelt.
Denn Falschheit hält nicht die Berührung mit
Himmlisch geläutertem Gebilde aus,
Sie kehrt zu ihrem eignen Bild zurück,
Und mit Gewalt.

‹Him [i. e. Satan] thus intent Ithuriel with his spear
Touched lightly; for no falsehood can endure
Touch of celestial temper, but returns
Of force to its own likeness.›
(Buch IV, 810 – 813)

Mit dieser Wunderwaffe, die dem Spuk ein schnelles Ende bereitet, können die Engel Satan enttarnen und für eine Weile wieder aus dem Paradies entfernen. In der gefallenen Welt gibt es keine Einheit mehr zwischen Außen und Innen; hier herrscht dauernde Unsicherheit durch teuflische und menschliche Verstellungen. Man kann nie mit Sicherheit vom äußeren Verhalten auf die inneren Absichten eines Menschen schliessen.
Aufgrund seiner Verstellungskünste hat man Satan auch als Patron der Schauspieler gesehen und im puritanischen England deshalb die Theater geschlossen. Wir alle spielen Theater – diese Einsicht hatte kein geringerer als Shakespeare über die Bühne seines Globe Theater geschrieben: Totus mundus agit histrionem. Diese Einsicht wurde in den 1970er Jahren von dem Soziologen Ervin Goffman bestätigt, der das Leben als eine Bühne definierte, auf der alle Menschen in die Rollen schlüpfen müssen, die ihnen die Gesellschaft vorgibt. ‹Wir sind alle Performer!› lautet der moderne Anspruch der Selbstdarstellung im Alltag. Maske und Verstellung, so Goffman, sind ein wichtiges Element sozialen Miteinanders: wenn alle ihre Rollen gut beherrschen und ausführen, kann gesellschaftliches Miteinander gelingen.
Aber auch heute noch gibt es einen protestantischen Vorbehalt gegen das Rollenspiel, weil es fremdbestimmt, also nicht ‹authentisch› ist und damit der ‹Selbstverwirklichung› im Wege steht. Damals verurteilte man dieses Rollenspiel, weil es der strategischen Ausbeutung des anderen Tor und Tür öffnet. Man erkannte zu Recht in List, Betrug und Verstellung den Ursprung anti-sozialen Verhaltens. Die Mitmenschen werden hinters Licht geführt, weil sie, um es mit Kant zu sagen, nicht als Zweck anerkannt sondern als Mittel für den eigenen Vorteil eingesetzt werden. Diese Erosion sozialer Solidarität ist nur der Anfang für weitere Stufen ‹gegenmenschlichen› Verhaltens:
«Verleumden, Schmähn und Richten,
Verdammen und Vernichten
ist überall gemein.»

(3) Die beiden Rezitative über Redlichkeit und Heuchelei rahmen den ersten Chor ein, der das ganze Thema der Kantate in einer einzigen Sentenz zusammenfasst:
«Alles nun, das ihr wollet, / dass euch die Leute tun sollen, / das tut ihr ihnen.»

Dieser Satz formuliert die ‹Goldene Regel›, die eine auf der ganzen Welt verbreitete viertausend jährige Erfahrungsweisheit zusammenfasst. Für diese Sentenz gibt es biblische Quellen aus dem sogenannten Alten (Lev 19,18; Tobit 4,15) und dem Neuen Testament (Mt 7,12 und Lk 6,31). Auch heute ist sie im Volksmund noch gut bekannt:
Was Du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Diese Formel lehrt uns, dass das Schwerste auf der Welt, die Erhaltung des sozialen Friedens, eigentlich ganz einfach ist, wenn wir das Prinzip der Wechselseitigkeit menschlicher Interaktion wirklich ernst nehmen. Hegel hat es auf eine noch kürzere Formel gebracht: «Das Tun des einen ist das Tun des anderen.» Das gilt im Guten durch gegenseitige Achtung, Respekt und Redlichkeit, wie im Bösen durch Verachtung, Ausbeutung und Gewalt. Die ‹Goldene Regel› steht im Zentrum von Bachs Kantate und verknüpft biblische und weltliche Weisheit; Frömmigkeit und Menschlichkeit; Religion und Aufklärung; Glaube und Vernunft. Diese Einsicht gilt innerhalb von Gruppen und über Gruppengrenzen hinweg, deshalb verbindet sie Deutsche und Christen mit Menschen jeglicher Herkunft. Die letzten beiden Strophen runden das Thema ab.

(5) Die zweite Arie schliesst an das Hauptmotiv der Kantate an: «ein ungefärbt Gemüte», das auf der Übereinstimmung von «außen» und «innen» beruht, holt den Himmel auf die Erde herunter, denn es macht uns Menschen Gott und Engeln
gleich.

(6) Diese Einheit von «außen» und «innen» wird im gemeinsamen Gebet des Schlusschorals erbeten und vollzogen. Dabei geht es nicht nach Art der Griechen um einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, sondern um eine integre Seele und ein reines Gewissen in einem gesunden Leib.
Mit diesem Schlussakkord endet die Kantate und mit ihr die Spannung von Eintracht und Zwist, von Redlichkeit und Heuchelei. Bachs Musik und seine bedeutende Textvorlage bauen eine Brücke von der Bilderwelt des Barock zur Rationalität der Aufklärung; in dieser eindrucksvollen Komposition verschwimmen die Grenzen von christlichem Ethos und säkularer Ethik. Der Text weist voraus auf Lessings Ringparabel und auf Kants Kategorischen Imperativ aus dem Jahr 1785 («Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»), und er verankert zugleich beides in der biblischen und protestantischen Tradition, wobei er auch noch an eine uralte Weisheit anknüpft. Die Kantate ist eine Form der Predigt, bei der sich jedoch die Wörter nicht türmen, sondern durch die Musik in Schwingung versetzt werden. Hier gibt es tatsächlich sehr viel zu hören, aber auf den Schwingen der Musik werden die Wörter nicht nur verstanden, sondern auch gezeigt, sinnlich erfahren und eindringlich gefühlt.

Literatur
• Karl-Heinz Bohrer, Granatsplitter. Erzählung einer Jugend, DTV, München 2014.
• Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Niemeyer, Tübingen 1992.
• Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, Piper, München Zürich, 2003.
• Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Reclam, Stuttgart 2001.
• Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Reclam, Stuttgart 2000.
• John Milton, Paradise Lost und L’Allegro, il Penseroso in: The Poems of John Milton, herausgegeben von John Carey und Alastair Fowler, Longmans, London 1968.
• John Milton, Das verlorene Paradies, Übersetzung von Hans Heinrich Meier, Reclam, Stuttgart 1968 u. ö.
• Francis Quarles, Divine Fancies, London, John Williams 1632.

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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