Matthäuspassion
BWV 244 // Karfreitag
Die zweichörige Matthäus-Passion, die bereits im posthumen Andenken der Bach-Familie als die «Grosse Bassion» bezeichnet wurde, gehört nicht nur zu Bachs umfangreichsten und gewichtigsten Kirchenkompositionen. Sie hat auch seit den spektakulären Wiederaufführungen Mendelssohns und Zelters im Jahre 1829 die neuzeitliche Wahrnehmung des Komponisten wesentlich geprägt.
Chor
Solisten
Evangelist: Charles Daniels
Jesus: Peter Harvey
Sopran: Joanne Lunn
Alt: Margot Oitzinger
Tenor: Charles Daniels
Bass: Wolf Matthias Friedrich
1. & 2. Magd: Mirjam Berli, Susanne Frei
Pilati Weib: Guro Hjemli
Pilatus: Wolf Matthias Friedrich
Zeugen: Jan Börner, Walter Siegel
Judas: Philippe Rayot
Petrus: Manuel Walser
1. Hohepriester: Chaspar Mani
2. Hohepriester: Valentin Parli
Knabenkantorei Basel (Einstudierung: Markus Teutschbein)
Chor der J. S. Bach-Stiftung
Chor I
Sopran
Lia Andres, Mirjam Berli, Susanne Frei, Noëmi Sohn, Noëmi Tran-Rediger
Alt
Jan Börner, Antonia Frey, Olivia Fündeling, Damaris Nussbaumer, Susanne Rohn, Lea Scherer
Tenor
Raphael Höhn, Nicolas Savoy, Walter Siegel, Tobias Wicky
Bass
Valentin Parli, Oliver Rudin, Simon Saxer, Manuel Walser
Chor II
Sopran
Leonie Gloor, Guro Hjemli, Mami Irisawa, Madeline Trösch, Alexa Vogel
Alt
Judith Flury, Katharina Jud, Simon Savoy, Aurelia Weiser
Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Matthias Lüdi
Bass
Michael Blume, Matthias Ebner, Chasper Mani, Philippe Rayot
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Orchester I
1. Violine
Renate Steinmann, Christine Baumann, Sabine Hochstrasser, Ildiko Sajgo
2. Violine
Martin Korrodi, Petra Melicharek, Christoph Rudolf, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Emmanuel Carron, Xiao Ma
Violoncello
Maya Amrein, Claire Pottinger
Violone
Iris Finkbeiner
Fagott
Susanne Landert
Oboe, Oboe d’amore, Oboe da caccia
Kerstin Kramp, Andreas Helm
Traversflöten
Claire Genewein, Renate Sudhaus
Flauto dolce
Armelle Plantier, Gaelle Richeux
Viola da gamba
Martin Zeller
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Norbert Zeilberger
Orchester II
1. Violine
Monika Baer, Alessia Menin, Olivia Schenkel
2. Violine
Mechthild Karkow, Simone Flück, Eveleen Olsen
Viola
Martina Bischof, Matthias Jäggi, Emily Yaffe
Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Fagott
Dorothy Mosher
Oboe, Oboe d’amore
Ingo Müller, Dominik Melicharek
Traversflöten
Maria Mittermayr, Keiko Kinoshita
Viola da gamba
Martin Zeller
Cembalo
Thomas Leininger
Orgel
Norbert Zeilberger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Aufnahme & Bearbeitung
Texte (CD-Booklet)
Anselm Hartinger, Arthur Godel, Rudolf Lutz
Übersetzungen
Alice Noger-Gradon
Aufnahmejahr
2012
Aufnahmeleitung und Bearbeitung
Stefan Ritzenthaler / GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Aufnahmeassistenz
Johannes Widmer / GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produktion
J. S. Bach-Stiftung St.Gallen, Schweiz
Co-Produktion
Roland Wächter, Radio SRF 2 Kultur
Textdichter
Textdichter
nicht bekannt
Erste Aufführung
nicht bekannt
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Erster Teil
1. Chor
Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen,
Sehet – Wen? – den Bräutigam,
Seht ihn – Wie? – als wie ein Lamm!
O Lamm Gottes, unschuldig
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Sehet, – Was? – seht die Geduld,
Allzeit erfunden geduldig,
Wiewohl du warest verachtet.
Seht – Wohin? – auf unsre Schuld;
All Sünd hast du getragen,
Sonst müssten wir verzagen.
Sehet ihn aus Lieb und Huld
Holz zum Kreuze selber tragen!
Erbarm dich unser, o Jesu!
2. Rezitativ
Evangelist
Da Jesus diese Rede vollendet hatte,
sprach er zu seinen Jüngern:
Jesus
Ihr wisset, dass nach zweien Tagen Ostern wird,
und des Menschen Sohn wird überantwortet werden,
dass er gekreuziget werde.
3. Choral
Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen,
Dass man ein solch scharf Urteil hat gesprochen?
Was ist die Schuld, in was für Missetaten
Bist du geraten?
4. Rezitativ
Evangelist
Da versammleten sich die Hohenpriester und
Schriftgelehrten und die Ältesten im Volk in den Palast des
Hohenpriesters, der da hiess Kaiphas, und hielten Rat, wie sie
Jesum mit Listen griffen und töteten. Sie sprachen aber:
Chor
Ja nicht auf das Fest, auf dass nicht ein Aufruhr
werde im Volk.
Rezitativ
Evangelist
Da nun Jesus war zu Bethanien, im Hause Simonis des
Aussätzigen, trat zu ihm ein Weib, die hatte ein Glas mit
köstlichem Wasser und goss es auf sein Haupt, da er zu
Tische sass. Da das seine Jünger sahen, wurden sie unwillig
und sprachen:
Chor Wozu dienet dieser Unrat? Dieses Wasser hätte mögen
teuer verkauft und den Armen gegeben werden.
Rezitativ
Evangelist
Da das Jesus merkete, sprach er zu ihnen:
Jesus
Was bekümmert ihr das Weib? Sie hat ein gut Werk an mir
getan. Ihr habet allezeit Arme bei euch, mich aber habt
ihr nicht allezeit. Dass sie dies Wasser hat auf meinen Leib
gegossen, hat sie getan, dass man mich begraben wird.
Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium geprediget
wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem
Gedächtnis, was sie getan hat.
5. Rezitativ
Alt Du lieber Heiland du,
Wenn deine Jünger töricht streiten,
Dass dieses fromme Weib
Mit Salben deinen Leib
Zum Grabe will bereiten,
So lasse mir inzwischen zu,
Von meiner Augen Tränenflüssen
Ein Wasser auf dein Haupt zu giessen!
6. Arie Alt
Buss und Reu
Knirscht das Sündenherz entzwei,
Dass die Tropfen meiner Zähren
Angenehme Spezerei,
Treuer Jesu, dir gebären.
7. Rezitativ
Evangelist
Da ging hin der Zwölfen einer mit Namen Judas Ischarioth
zu den Hohenpriestern und sprach:
Judas
Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten.
Evangelist
Und sie boten ihm dreissig Silberlinge. Und von dem an
suchte er Gelegenheit, dass er ihn verriete.
8. Arie Sopran
Blute nur, du liebes Herz!
Ach! ein Kind, das du erzogen,
Das an deiner Brust gesogen,
Droht den Pfleger zu ermorden,
Denn es ist zur Schlange worden.
9. Rezitativ
Evangelist
Aber am ersten Tage der süssen Brot traten die Jünger
zu Jesu und sprachen zu ihm:
Chor
Wo willst du, dass wir dir bereiten, das Osterlamm zu essen
Rezitativ
Evangelist
Er sprach:
Jesus
Gehet hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm:
Der Meister lässt dir sagen:
Meine Zeit ist hier, ich will bei dir die Ostern halten
mit meinen Jüngern.
Evangelist
Und die Jünger täten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
und bereiteten das Osterlamm. Und am Abend satzte er
sich zu Tische mit den Zwölfen. Und da sie assen, sprach er:
Jesus
Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.
Evangelist
Und sie wurden sehr betrübt und huben an,
ein jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm:
Chor
Herr, bin ichs?
10. Choral
Ich bins, ich sollte büssen,
An Händen und an Füssen
Gebunden in der Höll.
Die Geisseln und die Banden
Und was du ausgestanden,
Das hat verdienet meine Seel.
11. Rezitativ
Evangelist
Er antwortete und sprach:
Jesus
Der mit der Hand mit mir in die Schüssel tauchet,
der wird mich verraten. Des Menschen Sohn gehet zwar dahin,
wie von ihm geschrieben stehet; doch wehe dem Menschen,
durch welchen des Menschen Sohn verraten wird!
Es wäre ihm besser, dass derselbige Mensch noch nie geboren wäre.
Evangelist
Da antwortete Judas, der ihn verriet, und sprach:
Judas
Bin ichs, Rabbi?
Evangelist
Er sprach zu ihm:
Jesus
Du sagest’s.
Evangelist
Da sie aber assen, nahm Jesus das Brot,
dankete und brachs und gabs den Jüngern und sprach:
Jesus
Nehmet, esset, das ist mein Leib.
Evangelist
Und er nahm den Kelch und dankte,
gab ihnen den und sprach:
Jesus
Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments,
welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.
Ich sage euch: Ich werde von nun an nicht mehr von diesem
Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, da ichs neu
trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.
12. Rezitativ Sopran
Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt,
Dass Jesus von mir Abschied nimmt,
So macht mich doch sein Testament erfreut:
Sein Fleisch und Blut, o Kostbarkeit,
Vermacht er mir in meine Hände.
Wie er es auf der Welt mit denen Seinen
Nicht böse können meinen,
So liebt er sie bis an das Ende.
13. Arie Sopran
Ich will dir mein Herze schenken,
Senke dich, mein Heil, hinein!
Ich will mich in dir versenken;
Ist dir gleich die Welt zu klein,
Ei, so sollst du mir allein
Mehr als Welt und Himmel sein.
14. Rezitativ
Evangelist
Und da sie den Lobgesang gesprochen hatten,
gingen sie hinaus an den Ölberg. Da sprach Jesus zu ihnen:
Jesus
In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir.
Denn es stehet geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen,
und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.
Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen
in Galiläam.
15. Choral
Erkenne mich, mein Hüter,
Mein Hirte, nimm mich an!
Von dir, Quell aller Güter,
Ist mir viel Guts getan.
Dein Mund hat mich gelabet
Mit Milch und süsser Kost,
Dein Geist hat mich begabet
Mit mancher Himmelslust.
16. Rezitativ
Evangelist
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm:
Petrus
Wenn sie auch alle sich an dir ärgerten,
so will ich doch mich nimmermehr ärgern.
Evangelist
Jesus sprach zu ihm:
Jesus
Wahrlich, ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn krähet,
wirst du mich dreimal verleugnen.
Evangelist
Petrus sprach zu ihm:
Petrus
Und wenn ich mit dir sterben müsste, so will ich dich nicht verleugnen.
Evangelist
Desgleichen sagten auch alle Jünger.
17. Choral
Ich will hier bei dir stehen;
Verachte mich doch nicht!
Von dir will ich nicht gehen,
Wenn dir dein Herze bricht.
Wenn dein Herz wird erblassen
Im letzten Todesstoss,
Alsdenn will ich dich fassen
In meinen Arm und Schoss.
18. Rezitativ
Evangelist
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe,
der hiess Gethsemane, und sprach zu seinen Jüngern:
Jesus
Setzet euch hie, bis dass ich dort hingehe und bete.
Evangelist
Und nahm zu sich Petrum und die zween Söhne Zebedäi
und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen:
Jesus
Meine Seele ist betrübt bis an den Tod,
bleibet hier und wachet mit mir.
19. Rezitativ Tenor und Chor
O Schmerz!
Hier zittert das gequälte Herz;
Wie sinkt es hin, wie bleicht sein Angesicht!
Was ist die Ursach aller solcher Plagen?
Der Richter führt ihn vor Gericht.
Da ist kein Trost, kein Helfer nicht.
Ach! meine Sünden haben dich geschlagen;
Er leidet alle Höllenqualen,
Er soll vor fremden Raub bezahlen.
Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet
Was du erduldet.
Ach, könnte meine Liebe dir,
Mein Heil, dein Zittern und dein Zagen
Vermindern oder helfen tragen,
Wie gerne blieb ich hier!
20. Arie Tenor und Chor
Ich will bei meinem Jesu wachen,
So schlafen unsre Sünden ein.
Meinen Tod
Büsset seine Seelennot;
Sein Trauren machet mich voll Freuden.
Drum muss uns sein verdienstlich Leiden
Recht bitter und doch süsse sein.
21. Rezitativ
Evangelist
Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht
und betete und sprach:
Jesus
Mein Vater, ists möglich, so gehe dieser Kelch von mir;
doch nicht wie ich will, sondern wie du willt.
22. Rezitativ Bass
Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder;
Dadurch erhebt er mich und alle
Von unserm Falle
Hinauf zu Gottes Gnade wieder.
Er ist bereit,
Den Kelch, des Todes Bitterkeit
Zu trinken,
In welchen Sünden dieser Welt
Gegossen sind und hässlich stinken,
Weil es dem lieben Gott gefällt.
23. Arie Bass
Gerne will ich mich bequemen,
Kreuz und Becher anzunehmen,
Trink ich doch dem Heiland nach.
Denn sein Mund,
Der mit Milch und Honig fliesset,
Hat den Grund
Und des Leidens herbe Schmach
Durch den ersten Trunk versüsset.
24. Rezitativ
Evangelist
Und er kam zu seinen Jüngern und fand
sie schlafend und sprach zu ihnen:
Jesus
Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet!
Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.
Evangelist
Zum andernmal ging er hin, betete und sprach:
Jesus
Mein Vater, ists nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe,
ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille.
25. Choral
Was mein Gott will, das gscheh allzeit,
Sein Will, der ist der beste,
Zu helfen denn er ist bereit,
Die an ihn gläuben feste.
Er hilft aus Not, der fromme Gott,
Und züchtiget mit Massen.
Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut,
Den will er nicht verlassen.
26. Rezitativ
Evangelist
Und er kam und fand sie aber schlafend,
und ihre Augen waren voll Schlafs.
Und er liess sie und ging abermal hin und betete zum drittenmal und
redete dieselbigen Worte. Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu
ihnen:
Jesus
Ach! wollt ihr nun schlafen und ruhen?
Siehe, die Stunde ist hie, dass des Menschen Sohn in der Sünder Hände
überantwortet wird. Stehet auf, lasset uns gehen; siehe, er ist da,
der mich verrät.
Evangelist
Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölfen einer,
und mit ihm eine grosse Schar, mit Schwertern und mit Stangen,
von den Hohenpriestern und Ältesten des Volks. Und der Verräter hatte
ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt:
«Welchen ich küssen werde, der ists, den greifet!» Und alsbald trat er zu
Jesu und sprach:
Judas
Gegrüsset seist du, Rabbi!
Evangelist
Und küssete ihn. Jesus aber sprach zu ihm:
Jesus
Mein Freund, warum bist du kommen?
Evangelist
Da traten sie hinzu und legten die Hände an Jesum und griffen ihn.
27. Arie Sopran/Alt und Chor
So ist mein Jesus nun gefangen.
Lasst ihn, haltet, bindet nicht!
Mond und Licht
Ist vor Schmerzen untergangen,
Weil mein Jesus ist gefangen.
Lasst ihn, haltet, bindet nicht!
Sie führen ihn, er ist gebunden.
Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden?
Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle,
Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle
Mit plötzlicher Wut
Den falschen Verräter, das mördrische Blut!
28. Rezitativ
Evangelist
Und siehe, einer aus denen, die mit Jesu waren, reckete die
Hand aus und schlug des Hohenpriesters Knecht und hieb
ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm:
Jesus
Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert
nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinest
du, dass ich nicht könnte meinen Vater bitten, dass er mir
zuschickte mehr denn zwölf Legion Engel? Wie würde aber
die Schrift erfüllet? Es muss also gehen.
Evangelist
Zu der Stund sprach Jesus zu den Scharen:
Jesus
Ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder, mit Schwerten
und mit Stangen, mich zu fahen; bin ich doch täglich bei
euch gesessen und habe gelehret im Tempel, und ihr habt
mich nicht gegriffen. Aber das ist alles geschehen,
dass erfüllet würden die Schriften der Propheten.
Evangelist
Da verliessen ihn alle Jünger und flohen.
29. Choral
O Mensch, bewein dein Sünde gross,
Darum Christus seins Vaters Schoss
Äussert und kam auf Erden;
Von einer Jungfrau rein und zart
Für uns er hie geboren ward,
Er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
Und legt darbei all Krankheit ab,
Bis sich die Zeit herdrange,
Dass er für uns geopfert würd,
Trüg unsrer Sünden schwere Bürd
Wohl an dem Kreuze lange.
Zweiter Teil
30. Arie Alt und Chor
Ach! nun ist mein Jesus hin!
Wo ist denn dein Freund hingegangen,
O du Schönste unter den Weibern?
Ist es möglich, kann ich schauen?
Wo hat sich dein Freund hingewandt?
Ach! mein Lamm in Tigerklauen,
Ach! wo ist mein Jesus hin?
So wollen wir mit dir ihn suchen.
Ach! was soll ich der Seele sagen,
Wenn sie mich wird ängstlich fragen?
Ach! wo ist mein Jesus hin?
31. Rezitativ
Evangelist
Die aber Jesum gegriffen hatten, führeten ihn zu dem
Hohenpriester Kaiphas, dahin die Schriftgelehrten und
Ältesten sich versammlet hatten. Petrus aber folgete ihm
nach von ferne bis in den Palast des Hohenpriesters und
ging hinein und satzte sich bei die Knechte, auf dass er sähe,
wo es hinaus wollte. Die Hohenpriester aber und Ältesten
und der ganze Rat suchten falsches Zeugnis wider Jesum,
auf dass sie ihn töteten, und funden keines.
32. Choral
Mir hat die Welt trüglich gericht’
Mit Lügen und mit falschem Gdicht,
Viel Netz und heimlich Stricke.
Herr, nimm mein wahr in dieser Gfahr,
Bhüt mich für falschen Tücken!
33. Rezitativ
Evangelist
Und wiewohl viel falsche Zeugen herzutraten, funden sie
doch keins. Zuletzt traten herzu zween falsche Zeugen
und sprachen:
Zeugen
Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen
und in dreien Tagen denselben bauen.
Evangelist
Und der Hohepriester stund auf und sprach zu ihm:
Hohenpriester
Antwortest du nichts zu dem, das diese wider dich zeugen?
Evangelist
Aber Jesus schwieg stille.
34. Rezitativ Tenor
Mein Jesus schweigt
Zu falschen Lügen stille,
Um uns damit zu zeigen,
Dass sein erbarmensvoller Wille
Vor uns zum Leiden sei geneigt,
Und dass wir in dergleichen Pein
Ihm sollen ähnlich sein
Und in Verfolgung stille schweigen.
35. Arie Tenor
Geduld!
Wenn mich falsche Zungen stechen.
Leid ich wider meine Schuld
Schimpf und Spott,
Ei, so mag der liebe Gott
Meines Herzens Unschuld rächen.
36. Rezitativ
Evangelist
Und der Hohepriester antwortete und sprach zu ihm:
Hohenpriester
Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott,
dass du uns sagest, ob du seiest Christus, der Sohn Gottes?
Evangelist
Jesus sprach zu ihm:
Jesus
Du sagests. Doch sage ich euch: Von nun an wirds
geschehen, dass ihr sehen werdet des Menschen Sohn
sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den
Wolken des Himmels.
Evangelist
Da zerriss der Hohepriester seine Kleider und sprach:
Hohenpriester
Er hat Gott gelästert; was dürfen wir weiter Zeugnis?
Siehe, itzt habt ihr seine Gotteslästerung gehöret.
Was dünket euch?
Evangelist
Sie antworteten und sprachen:
Chor
Er ist des Todes schuldig!
Rezitativ
Evangelist
Da speieten sie aus in sein Angesicht und schlugen ihn
mit Fäusten. Etliche aber schlugen ihn ins Angesicht und
sprachen:
Chor
Weissage uns, Christe, wer ists, der dich schlug?
37. Choral
Wer hat dich so geschlagen,
Mein Heil, und dich mit Plagen
So übel zugericht’?
Du bist ja nicht ein Sünder
Wie wir und unsre Kinder;
Von Missetaten weisst du nicht.
38. Rezitativ
Evangelist
Petrus aber sass draussen im Palast;
und es trat zu ihm eine Magd und sprach:
1. Magd
Und du warest auch mit dem Jesu aus Galiläa.
Evangelist
Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach:
Petrus
Ich weiss nicht, was du sagest.
Evangelist
Als er aber zur Tür hinausging,
sahe ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren:
2. Magd
Dieser war auch mit dem Jesu von Nazareth.
Evangelist
Und er leugnete abermal und schwur dazu:
Petrus
Ich kenne des Menschen nicht.
Evangelist
Und über eine kleine Weile traten hinzu, die da stunden,
und sprachen zu Petro:
Chor
Wahrlich, du bist auch einer von denen;
denn deine Sprache verrät dich.
Rezitativ
Evangelist
Da hub er an, sich zu verfluchen und zu schwören:
Petrus
Ich kenne des Menschen nicht.
Evangelist
Und alsbald krähete der Hahn. Da dachte Petrus an die
Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird,
wirst du mich dreimal verleugnen.
Und ging heraus und weinete bitterlich.
39. Arie Alt
Erbarme dich,
Mein Gott, um meiner Zähren willen!
Schaue hier,
Herz und Auge weint vor dir
Bitterlich.
40. Choral
Bin ich gleich von dir gewichen,
Stell ich mich doch wieder ein;
Hat uns doch dein Sohn verglichen
Durch sein Angst und Todespein.
Ich verleugne nicht die Schuld;
Aber deine Gnad und Huld
Ist viel grösser als die Sünde,
Die ich stets in mir befinde.
41. Rezitativ
Evangelist
Des Morgens aber hielten alle Hohepriester und die Ältesten
des Volks einen Rat über Jesum, dass sie ihn töteten.
Und bunden ihn, führeten ihn hin und überantworteten ihn
dem Landpfleger Pontio Pilato. Da das sahe Judas, der ihn
verraten hatte, dass er verdammt war zum Tode, gereuete
es ihn und brachte her wieder die dreissig Silberlinge den
Hohenpriestern und Ältesten und sprach:
Judas
Ich habe übel getan, dass ich unschuldig Blut verraten habe.
Evangelist
Sie sprachen:
Chor
Was gehet uns das an? Da siehe du zu!
Rezitativ
Evangelist
Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hub sich davon,
ging hin und erhängete sich selbst. Aber die Hohenpriester
nahmen die Silberlinge und sprachen:
1. und 2. Priester
Es taugt nicht, dass wir sie in den Gotteskasten legen,
denn es ist Blutgeld.
42. Arie Bass
Gebt mir meinen Jesum wieder!
Seht, das Geld, den Mörderlohn,
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füssen nieder!
43. Rezitativ
Evangelist
Sie hielten aber einen Rat und kauften einen Töpfersacker
darum zum Begräbnis der Pilger. Daher ist derselbige Acker
genennet der Blutacker bis auf den heutigen Tag.
Da ist erfüllet, das gesagt ist durch den Propheten Jeremias,
da er spricht:
«Sie haben genommen dreissig Silberlinge, damit bezahlet
ward der Verkaufte, welchen sie kauften von den Kindern
Israel, und haben sie gegeben um einen Töpfersacker,
als mir der Herr befohlen hat.» Jesus aber stund vor dem
Landpfleger; und der Landpfleger fragte ihn und sprach:
Pilatus
Bist du der Jüden König?
Evangelist
Jesus aber sprach zu ihm:
Jesus
Du sagests.
Evangelist
Und da er verklagt war von den Hohenpriestern und Ältesten,
antwortete er nichts. Da sprach Pilatus zu ihm:
Pilatus
Hörest du nicht, wie hart sie dich verklagen?
Evangelist
Und er antwortete ihm nicht auf ein Wort, also,
dass sich auch der Landpfleger sehr verwunderte.
44. Choral
Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Da dein Fuss gehen kann.
45. Rezitativ
Evangelist
Auf das Fest aber hatte der Landpfleger Gewohnheit,
dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.
Er hatte aber zu der Zeit einen Gefangenen,
einen sonderlichen vor andern, der hiess Barrabas.
Und da sie versammlet waren, sprach Pilatus zu ihnen:
Pilatus
Welchen wollet ihr, dass ich euch losgebe? Barrabam oder
Jesum, von dem gesaget wird, er sei Christus?
Evangelist
Denn er wusste wohl, dass sie ihn aus Neid überantwortet
hatten. Und da er auf dem Richtstuhl sass, schickete sein Weib
zu ihm und liess ihm sagen:
Pilati Weib
Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten;
ich habe heute viel erlitten im Traum von seinetwegen!
Evangelist
Aber die Hohenpriester und die Ältesten überredeten
das Volk, dass sie um Barrabas bitten sollten und Jesum
umbrächten.
Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen:
Pilatus
Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll
losgeben?
Evangelist
Sie sprachen:
Chor
Barrabam!
Rezitativ
Evangelist
Pilatus sprach zu ihnen:
Pilatus
Was soll ich denn machen mit Jesu, von dem gesagt wird,
er sei Christus?
Evangelist
Sie sprachen alle:
Chor
Lass ihn kreuzigen!
46. Choral
Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe!
Der gute Hirte leidet für die Schafe,
Die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,
Für seine Knechte.
47. Rezitativ
Evangelist
Der Landpfleger sagte:
Pilatus
Was hat er denn Übels getan?
48. Rezitativ Sopran
Er hat uns allen wohlgetan,
Den Blinden gab er das Gesicht,
Die Lahmen macht er gehend,
Er sagt uns seines Vaters Wort,
Er trieb die Teufel fort,
Betrübte hat er aufgericht’,
Er nahm die Sünder auf und an.
Sonst hat mein Jesus nichts getan.
49. Arie Sopran
Aus Liebe will mein Heiland sterben,
Von einer Sünde weiss er nichts.
Dass das ewige Verderben
Und die Strafe des Gerichts
Nicht auf meiner Seele bliebe.
50. Rezitativ
Evangelist
Sie schrieen aber noch mehr und sprachen:
Chor
Lass ihn kreuzigen!
Rezitativ
Evangelist
Da aber Pilatus sahe, dass er nichts schaffete, sondern
dass ein viel grösser Getümmel ward, nahm er
Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach:
Pilatus
Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten,
sehet ihr zu.
Evangelist
Da antwortete das ganze Volk und sprach:
Chor
Sein Blut komme über uns und unsre Kinder.
Rezitativ
Evangelist
Da gab er ihnen Barrabam los; aber Jesum liess er geisseln
und überantwortete ihn, dass er gekreuziget würde.
51. Rezitativ Alt
Erbarm es Gott!
Hier steht der Heiland angebunden.
O Geisselung, o Schläg, o Wunden!
Ihr Henker, haltet ein!
Erweichet euch
Der Seelen Schmerz,
Der Anblick solches Jammers nicht?
Ach ja! ihr habt ein Herz,
Das muss der Martersäule gleich
Und noch viel härter sein.
Erbarmt euch, haltet ein!
52. Arie Alt
Können Tränen meiner Wangen
Nichts erlangen,
O, so nehmt mein Herz hinein!
Aber lasst es bei den Fluten,
Wenn die Wunden milde bluten,
Auch die Opferschale sein!
53. Rezitativ
Evangelist
Da nahmen die Kriegsknechte des Landpflegers Jesum
zu sich in das Richthaus und sammleten über ihn die
ganze Schar und zogen ihn aus und legeten ihm einen
Purpurmantel an und flochten eine dornene Krone und
satzten sie auf sein Haupt und ein Rohr in seine
rechte Hand und beugeten die Knie vor ihm, und
spotteten ihn und sprachen:
Chor
Gegrüsset seist du, Jüdenkönig!
Rezitativ
Evangelist
Und speieten ihn an und nahmen das Rohr und
schlugen damit sein Haupt.
54. Choral
O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn,
O Haupt, zu Spott gebunden
Mit einer Dornenkron,
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier,
Jetzt aber hoch schimpfieret,
Gegrüsset seist du mir!
Du edles Angesichte,
Dafür sonst schrickt und scheut
Das grosse Weltgewichte,
Wie bist du so bespeit;
Wie bist du so erbleichet!
Wer hat dein Augenlicht,
Dem sonst kein Licht nicht gleichet,
So schändlich zugericht?
55. Rezitativ
Evangelist
Und da sie ihn verspottet hatten, zogen sie ihm den Mantel
aus und zogen ihm seine Kleider an und führeten ihn hin,
dass sie ihn kreuzigten. Und indem sie hinausgingen,
funden sie einen Menschen von Kyrene mit Namen Simon;
den zwungen sie, dass er ihm sein Kreuz trug.
56. Rezitativ Bass
Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut
Zum Kreuz gezwungen sein;
Je mehr es unsrer Seele gut,
Je herber geht es ein.
57. Arie Bass
Komm, süsses Kreuz, so will ich sagen,
Mein Jesu, gib es immer her!
Wird mir mein Leiden einst zu schwer,
So hilfst du mir es selber tragen.
58. Rezitativ
Evangelist
Und da sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das ist
verdeutschet Schädelstätt, gaben sie ihm Essig zu trinken mit
Gallen vermischet; und da ers schmeckete, wollte ers nicht
trinken. Da sie ihn aber gekreuziget hatten, teilten sie seine
Kleider und wurfen das Los darum, auf dass erfüllet würde,
das gesagt ist durch den Propheten: «Sie haben meine
Kleider unter sich geteilet, und über mein Gewand haben sie
das Los geworfen.» Und sie sassen allda und hüteten sein.
Und oben zu seinen Häupten hefteten sie die Ursach seines
Todes beschrieben, nämlich: «Dies ist Jesus, der Jüden König.»
Und da wurden zween Mörder mit ihm gekreuziget, einer
zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen,
lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen:
Chor
Der du den Tempel Gottes zerbrichst und bauest ihn in dreien
Tagen, hilf dir selber! Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom
Kreuz!
Rezitativ
Evangelist
Desgleichen auch die Hohenpriester spotteten sein samt den
Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
Chor
Andern hat er geholfen und kann ihm selber nicht helfen.
Ist er der König Israel, so steige er nun vom Kreuz,
so wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertrauet,
der erlöse ihn nun, lüstet’s ihn; denn er hat gesagt:
Ich bin Gottes Sohn.
Rezitativ
Evangelist
Desgleichen schmäheten ihn auch die Mörder,
die mit ihm gekreuziget waren.
59. Rezitativ Alt
Ach Golgatha, unselges Golgatha!
Der Herr der Herrlichkeit muss schimpflich hier verderben,
Der Segen und das Heil der Welt
Wird als ein Fluch ans Kreuz gestellt.
Der Schöpfer Himmels und der Erden
Soll Erd und Luft entzogen werden.
Die Unschuld muss hier schuldig sterben,
Das gehet meiner Seele nah;
Ach Golgatha, unselges Golgatha!
60. Arie Alt und Chor
Sehet, Jesus hat die Hand,
Uns zu fassen, ausgespannt,
Kommt! – Wohin? – in Jesu Armen
Sucht Erlösung, nehmt Erbarmen,
Suchet! – Wo? – in Jesu Armen.
Lebet, sterbet, ruhet hier,
Ihr verlassnen Küchlein ihr,
Bleibet – Wo? – in Jesu Armen.
61. Rezitativ
Evangelist
Und von der sechsten Stunde an war eine Finsternis über das
ganze Land bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte
Stunde schriee Jesus laut und sprach:
Jesus
Eli, lama asabthani?
Evangelist
Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Etliche aber, die da stunden, da sie das höreten, sprachen sie:
Chor
Der rufet dem Elias!
Rezitativ
Evangelist
Und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und
füllete ihn mit Essig und steckete ihn auf ein Rohr und
tränkete ihn. Die andern aber sprachen:
Chor
Halt! lass sehen, ob Elias komme und ihm helfe?
Rezitativ
Evangelist
Aber Jesus schriee abermal laut und verschied.
62. Choral
Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du denn herfür!
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiss mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein!
63. Rezitativ
Evangelist
Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in
zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebete,
und die Felsen zerrissen, und die Gräber täten sich auf,
und stunden auf viel Leiber der Heiligen, die da schliefen,
und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung
und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
Aber der Hauptmann und die bei ihm waren und
bewahreten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und was
da geschah, erschraken sie sehr und sprachen:
Chor
Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.
Rezitativ
Evangelist
Und es waren viel Weiber da, die von ferne zusahen,
die da waren nachgefolget aus Galiläa
und hatten ihm gedienet, unter welchen war Maria Magdalena und Maria,
die Mutter Jacobi und Joses, und die Mutter der
Kinder Zebedäi.
Am Abend aber kam ein reicher Mann von Arimathia,
der hiess Joseph,
welcher auch ein Jünger Jesu war, der ging zu Pilato
und bat ihn um den Leichnam Jesu.
Da befahl Pilatus, man sollte ihm ihn geben.
64. Rezitativ Bass
Am Abend, da es kühle war,
Ward Adams Fallen offenbar;
Am Abend drücket ihn der Heiland nieder.
Am Abend kam die Taube wieder
Und trug ein Ölblatt in dem Munde.
O schöne Zeit! O Abendstunde!
Der Friedensschluss ist nun mit Gott gemacht,
Denn Jesus hat sein Kreuz vollbracht.
Sein Leichnam kömmt zur Ruh,
Ach! liebe Seele, bitte du,
Geh, lasse dir den toten Jesum schenken,
O heilsames, o köstlichs Angedenken!
65. Arie Bass
Mache dich, mein Herze, rein,
Ich will Jesum selbst begraben.
Denn er soll nunmehr in mir
Für und für
Seine süsse Ruhe haben.
Welt, geh aus, lass Jesum ein!
66. Rezitativ
Evangelist
Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in ein
rein Leinwand und legte ihn in sein eigen neu Grab,
welches er hatte lassen in einen Fels hauen,
und wälzete einen grossen Stein vor die Tür des Grabes
und ging davon. Es war aber allda Maria Magdalena
und die andere Maria, die satzten sich gegen das Grab.
Des andern Tages, der da folget nach dem Rüsttage,
kamen die Hohenpriester und Pharisäer sämtlich zu Pilato
und sprachen:
Chor
Herr, wir haben gedacht, dass dieser Verführer sprach, da er
noch lebete: Ich will nach dreien Tagen wieder auferstehen.
Darum befiehl, dass man das Grab verwahre bis an den
dritten Tag, auf dass nicht seine Jünger kommen und stehlen
ihn und sagen zu dem Volk: Er ist auferstanden von den Toten,
und werde der letzte Betrug ärger denn der erste!
Rezitativ
Evangelist
Pilatus sprach zu ihnen:
Pilatus
Da habt ihr die Hüter; gehet hin und verwahrets,
wie ihr’s wisset!
Evangelist
Sie gingen hin und verwahreten das Grab mit Hütern und
versiegelten den Stein.
67. Rezitativ und Chor
Bass
Nun ist der Herr zur Ruh gebracht.
Mein Jesu, gute Nacht!
Tenor
Die Müh ist aus, die unsre Sünden ihm gemacht.
Mein Jesu, gute Nacht!
Alt
O selige Gebeine,
Seht, wie ich euch mit Buss und Reu beweine,
Dass euch mein Fall in solche Not gebracht!
Mein Jesu, gute Nacht!
Sopran
Habt lebenslang
Vor euer Leiden tausend Dank,
Dass ihr mein Seelenheil so wert geacht’.
Mein Jesu, gute Nacht!
68. Chor
Wir setzen uns mit Tränen nieder
Und rufen dir im Grabe zu:
Ruhe sanfte, sanfte ruh!
Ruht, ihr ausgesognen Glieder!
Euer Grab und Leichenstein
Soll dem ängstlichen Gewissen
Ein bequemes Ruhekissen
Und der Seelen Ruhstatt sein.
Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein.
Anselm Hartinger
Bachs Matthäuspassion bwv 244 – Entstehungskontext, Werkkonzept und Ausstrahlung eines epochalen Meisterwerkes
«das ganze werk ist so aus dem innigsten bunde des herzens mit der kunst hervorgegangen, dass es als ein gleich hohes denkmal der gläubigen frömmigkeit und demuth, wie des selbstschaffenden genius und der ursprünglichen kraft des menschen dasteht.» (ludwig rellstab, 1830)
I.
Die zweichörige Matthäuspassion, die bereits im posthumen Andenken der Bach-Familie als «grosse Bassion» bezeichnet wurde, gehört nicht nur zu Bachs umfangreichsten und gewichtigsten Kirchenkompositionen. Sie hat auch seit den spektakulären, dabei allerdings auf einer stark gekürzten Version beruhenden Wiederaufführungen Mendelssohns und Zelters 1829 die neuzeitliche Wahrnehmung des Komponisten wesentlich geprägt. Zu dieser besonderen Wertschätzung trug wesentlich bei, dass die Passion überwiegend auf dem von Luther übersetzten Bibeltext sowie reformatorischen Choralstrophen beruht und nur die betrachtenden Arien und Chöre auf jene barocken Neudichtungen zurückgehen, die von vielen Bachianern des romantischen Zeitalters als «verruchte deutsche Kirchentexte» und polemischer «Glaubensqualm » (Carl Friedrich Zelter) geschmäht wurden. Bachs Zeitgenossen hingegen schätzten gerade diese geschliffenen Verse, weil sie die biblische Handlung bildkräftig aktualisierten und damit in ihre Lebenswelt übersetzten. Diese Spannung zwischen konträren Textebenen, Hörerwartungen und Vertonungstraditionen erklärt nicht nur die kontroversen Zeugnisse der Rezeption dieses jede Dimension sprengenden Werkes in den vergangenen nahezu drei Jahrhunderten. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich auch ermessen, wie schwer die Bach gestellte Aufgabe war und wie überzeugend und individuell er sie zu lösen verstand.
Denn obwohl die Matthäuspassion heute als exemplarisches Beispiel der Bachschen Kunst und des barocken Kirchenstils gilt, handelte es sich bei der dramatischen Schilderung der Leidensgeschichte Jesu um ein zu Bachs Zeit noch heftig umstrittenes Vorhaben. Nicht ohne Grund betrachteten viele Theologen ein mit der ganzen Drastik der barocken Poesie und Klangrede ausgemaltes Panorama der heilsamen wie hasserfüllten Handlungen und Leidenschaften um das Martyrium des Herrn mit grosser Skepsis. Andererseits war mit dem auch von Bach vertonten Dichter Erdmann Neumeister einer der Stammväter der modernen «geistlichen Cantaten» selbst lutherischer Superintendent und Hauptpastor in Weissenfels und Hamburg. Und nur zwei Jahre vor Bachs Dienstantritt war in Leipzig eine Streitschrift erschienen, die im Dienste einer bewegenden Wortausdeutung stürmisch für die modernen «theatralischen» Stilmittel eintrat (Johann Ephraim Scheibel, Zufällige Gedancken von der Kirchenmusik). Dass auch Bach bei seiner Vereidigung als Thomaskantor versichern musste, sich einer allzu opernhaften Tonsprache zu enthalten, war daher mehr als eine Standardfloskel, sondern Ausdruck gravierender Kontroversen im Bereich der gottesdienstlichen Figuralmusik. Obwohl bereits 1717 in der Leipziger Neukirche mit Georg Philipp Telemanns «Brockespassion» eine moderne Vertonung der Passionsgeschichte erklungen war, gelang es im stark von der lutherischen Orthodoxie geprägten Leipzig erst 1721 eine oratorische Passionsdarbietung auch in der offiziellen Stadtkirchenmusik zu verankern, die dann im Vespergottesdienst am Karfreitag im jährlichen Wechsel zwischen den Hauptkirchen St. Nikolai und St. Thomas dargeboten wurde. Offenbar war es nicht länger möglich, den Wünschen der weltgewandten Leipziger Handelsbourgeoisie nach einer eleganten Kirchenmusik höfischen Zuschnitts zu widerstehen – ein verändertes Anforderungsprofil, dem sich auch die Berufung des Köthener Kapellmeisters Bach nach Leipzig verdankte. Einschliesslich der zwischen den beiden Teilen einer Passion eingeschobenen mindestens einstündigen Predigt handelte es sich bei diesen Karfreitagsvespern um einen wahren Gottesdienstmarathon, der angesichts der riesenhaften Ausmasse gerade der Bachschen Kompositionen den Zuhörern wie Ausführenden alles abverlangt haben dürfte.
Die Entstehungsgeschichte der Matthäuspassion ist dabei weniger gesichert, als es die Berühmtheit des Stückes vermuten liesse. Nachdem Bach 1724 und 1725 zunächst zwei stark voneinander abweichende Fassungen seiner Johannespassion BWV 245 dargeboten hatte und 1726 eine lange Reinhard Keiser zugeschriebene Markuspassion erklungen war, brachte der Thomaskantor wahrscheinlich zu Karfreitag 1727 und wohl unter Einbeziehung älterer Vorlagen eine erste Version seiner Matthäuspassion (die sogenannte Frühfassung BWV 244b) zur Aufführung, die Andreas Glöckner im Rahmen der Neuen Bachausgabe in einem eigenen Band rekonstruierte. Die Textgrundlage dazu stellte Bachs bewährter Librettist Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, bereit, der dafür auf Passionsdichtungen u.a. von Barthold Hinrich Brockes und Johann Friedrich Hunold sowie einen Predigtzyklus des Rostocker Theologen Heinrich Müller zurückgreifen konnte. Im März/ April 1729 stand Bach dann vor der doppelten Herausforderung, sowohl eine Trauermusik für seinen verstorbenen früheren Dienstherrn Leopold von Anhalt-Köthen zu schreiben («Klagt, Kinder, klagt es aller Welt», BWV 244a) als auch die reguläre Passionsaufführung vorzubereiten. Ohne dass sich die Beziehungen zwischen weltlicher und geistlicher Fassung mit letzter Sicherheit klären lassen, scheint Bach seine Komposition dabei so umfassend revidiert zu haben, dass man seit dem 19. Jahrhundert das Jahr 1729 als das eigentliche Entstehungsdatum der Matthäuspassion ansah. Der Ausbau der zunächst offenbar nur einchörigen Passion zu einem Werk mit zwei Chören und Orchestern geht dementsprechend wohl auf diese Neueinrichtung zurück. 1736 schliesslich liess Bach das bis heute erhaltene «neue» Aufführungsmaterial der Passion erstellen, wobei nach einem Bericht des Küsters Johann Christoph Rost das Werk «mit beyden orgeln» der Thomaskirche einschliesslich des über dem Chor angebrachten und seit 1727 wieder spielbaren «Schwalbennest»-Instrumentes – mit geteilter und räumlich getrennter Continuogruppe also – dargeboten wurde. In Gestalt des Choralchors «O Mensch, bewein dein Sünde gross» bezog Bach nun auch den Eröffnungssatz der II. Fassung seiner Johannespassion von 1725 an zentraler Stelle mit ein. Im Zuge dieser Aufführung fertigte Bach dann jene berühmte Partitur, die auch dank der für die Evangelistenpartie verwendeten roten Tinte zum Sinnbild der Bachschen Religiosität und Musiktheologie wurde. Wie viel dem Komponisten an der Kodifizierung dieses Werkes gelegen haben muss, wird durch den Umstand verdeutlicht, dass er das Manuskript nach einer späteren Beschädigung eigenhändig restaurierte. Eine vergleichbar endgültige Niederschrift der Johannespassion, die Bach 1739 in Angriff genommen hatte, brach der Komponist hingegen nach wenigen Sätzen zunächst ab; während die Johannespassion ihren veränderlichen Charakter während Bachs gesamter Leipziger Wirkungszeit nie völlig ablegte, mag die früh nachweisbare Hochschätzung der Matthäuspassion auch darauf zurückzuführen sein, dass der Komponist ihr eine weitgehend abgeschlossene Werkgestalt verlieh.
Wahrscheinlich im Zuge einer späteren Wiederaufführung 1742 ergänzte Bach u.a. noch eine Stimme für Cembalo. Die mittlerweile zu einer eigenen Tradition gewordene Mitwirkung eines Knabenchores für den Choral «O Lamm Gottes, unschuldig» geht hingegen auf die Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts zurück, als man nach Wegen suchte, die Ausführung der Chorpartien durch die moderneren gemischten Vokalensembles mit dem Klangbild der barocken Schulchöre zu vereinen. Dabei fühlten sich die Musikdirektoren der Romantik offenbar bemüssigt, Bachs noch immer weithin als unkirchlich und allzu naturalistisch angesehene Musik durch die Einbeziehung von «unschuldigen» Knabenstimmen gewissermassen zu «vergeistlichen ». Bachs Matthäuspassion tritt uns insofern heute als ein Gesamtkunstwerk gegenüber, in dem die konzeptionelle Arbeit des Komponisten und die über viele Generationen hin gewachsene Auseinandersetzung der Musiker und des Publikums eine noch immer spannungsvolle Verbindung eingegangen sind.
II.
Dem monumentalen Einheitscharakter des Werkes zum Trotz hat Bach auf seine Passion auch im Detail jede erdenkliche Sorgfalt angewandt. Dazu gehörte etwa die Entscheidung, die doppelchörige Anlage nicht zum dominierenden Prinzip der Klangregie zu machen. Bach spart den effektvollen Gegensatz der geteilten Vokalensembles für jene zentralen Stellen auf, bei denen die dramatische Rede und Gegenrede für den szenischen Realismus unverzichtbar ist – etwa den Eingangschor, bei dem die bangen Fragen des Chores II direkt auf die Aufforderung des ersten Chores reagieren («Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen. Sehet! – Wen?»), oder für den «Blitze/Donner»-Chor, der zur Strafe für die Qual des Gottessohnes gewaltige Naturerscheinungen heraufbeschwört. Dass in den meisten anderen Ensemblesätzen entweder beide Chöre in einem Quasi-Unisono vereinigt sind oder aber einzeln in Erscheinung treten, hat wesentlich damit zu tun, dass mit den biblischen Akteuren und den späteren Mitempfindenden verschiedene Sphären gemeint sind. Der gross angelegte Eingangschor bringt dabei beide Dimensionen – die urchristliche Leidensgeschichte und die spätere Reflexion – zugleich zum Klingen und fügt damit der brutalen Passionshandlung ein Moment der Distanzierung und Kritik hinzu, das für die Wahrnehmung von Publikum und Ausführenden bedeutsam gewesen sein dürfte. Dass der Satz zusätzlich noch als konzertante Bearbeitung über «O Lamm Gottes, unschuldig » angelegt ist, versöhnt diese Gegensätze durch die haltgebende Dimension des Chorals und rechtfertigt sie im Kontext der lutherischen Kirchenliedtradition.
Von besonderer Ausdruckskraft sind Bachs Passionsrezitative. Angesichts der ausgedehnten Erzählung – vertont sind immerhin zwei vollständige Kapitel des Matthäusevangeliums – bestand in diesem Bereich kompositorischer Handlungsbedarf, sollte das Werk nicht in einer quälenden Wiederholung immergleicher Formeln erstarren. Die Choralpassionen des 16. und 17. Jahrhunderts hatten sich diesem Dilemma durch die Verwendung der liturgischen Lektionstöne entzogen; angesichts der nach 1700 gewandelten Hörerwartung empfahl sich jedoch eine stärkere Individualisierung und Differenzierung. Dass Bach sämtliche Christusworte arios vertonte und zusätzlich mit Streichern begleitete, kann dabei als musikalische Lösung eines theologischen Paradoxons verstanden werden: Während Jesus bei Matthäus vor allem als (mit) leidender Mensch erscheint, akzentuiert der klingende Heiligenschein der Streicher seine über allen Akteuren stehende Gottnatur. Eine lebendige Ausführung nach Massgabe des barocken Arsenals rhetorischer Figuren und Akzente vermag auch der Evangelistenpartie ihre einkomponierte Lebendigkeit zurückzugeben – nicht zufällig hiess es bereits in einer Konzertrezension des Jahres 1847, diese Partie benötige «nicht nur einen gewandten, sondern auch einen denkenden Sänger». Dass mit Mendelssohns Freund Eduard Devrient der Evangelist der wegweisenden Wiederaufführung von 1829 eigentlich ein Schauspieler war, der seine Partie mehr ausdrucksstark deklamierte als belcantohaft sang, erhält vor diesem Hintergrund einen tieferen Sinn.
Die Einbeziehung von zwölf schlichten Choralsätzen mag mit dem Versuch zusammenhängen, die gottesdienstliche Einbindung des Werkes hervorzuheben und der Gemeinde Orientierungspunkte in einer unüberschaubar langen Komposition anzubieten. Doch fungieren diese exquisit harmonisierten Sätze zugleich als leidenschaftliche Kommentare zum Geschehen, die einen vorbildhaften Erkenntnisprozess beschreiben, der mit dem in der früheren DDR verwendeten Begriff der «idealen Miterlebenden» womöglich besser beschrieben ist, als es dessen kirchenkritische Erfinder beabsichtigten. Wenn etwa die Choralisten auf Jesu Vorhersage, dass ihn nach seiner Gefangennahme alle Jünger verlassen würden, mit ihrem trotzig-flehentlichen «Ich will hier bei dir stehen» antworten und die Verspottung und Misshandlung des Heilands ein zorniges «Wer hat dich so geschlagen» provoziert, das in die zerknirschte Erkenntnis «Ich, ich und meine Sünden» mündet, dann bricht sich hier das elementare Bedürfnis Bahn, in ein trotz seiner heilsgeschichtlichen Bedeutung empörendes Geschehen einzugreifen und Geschichte mit Macht zu verändern. Der gerade von den Chorälen, aber auch von Momenten wie den Zwischenrufen des Chores II «Lasst ihn! Haltet! Bindet nicht» verkörperte Dialog über die Handlungsebenen und Jahrhunderte hinweg erweist sich so als zeitlose Aufforderung zur Mitmenschlichkeit und aktiven Abwendung von Leid, Not und Unrecht. Wie feinsinnig Bach derartige Entwicklungen nachzeichnet, zeigt sich ebenfalls am Choralsatz «Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht!», der notengetreu das vorangegangene «Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an!» übernimmt, dabei jedoch von E-Dur nach Es-Dur gerückt ist. Diese demonstrative «Erniedrigung» um immerhin sieben Quinten kann nur mit der dazwischen stehenden Verleugnung des Petrus und aller Jünger zusammenhängen – subtiler hätte Bach die diesem Geschehen gebührende Demut und Scham kaum andeuten können.
Stets aufs Neue zu entdecken gilt es den lyrischen Grundton der Matthäuspassion. Dies beginnt bei ihrem Eingangschor, der anders als das düster-majestätische Gotteslob «Herr, unser Herrscher» der Johannespassion eine ergreifende Trauerstimmung evoziert, und setzt sich fort in der Geduld und Ruhe, mit der Bach der Szene am Ölberg und überhaupt Jesu Empfindungen und selbst seiner Verzagtheit Ausdruck verleiht. Dass – anders als der Adler des Johannes – das Symbol des Evangelisten Matthäus der Mensch ist, haben Bach und Picander allenthalben auf sensible Weise eingefangen. Es ist deshalb überaus sinnfällig, dass der zweite Teil der Passion auf die Klage der gläubigen Seele («Ach, nun ist mein Jesus hin») mit einem Zitat aus dem Hohelied Salomonis antwortet («Wo ist denn dein Freund hingegangen, o du Schönste unter den Weibern?»). Statt wie der kämpferische Christus der Johannespassion inmitten der tobenden Menge um sein Recht, sein Leben und das Heil der Welt zu kämpfen, entwaffnet und bekehrt der Jesus der Matthäuspassion seine Feinde durch sein edles Schweigen und seine grenzenlose Liebe. Mit einer fragilen Bläserbesetzung aus Traversflöte und zwei Oboen da caccia ausgestattet und ohne Basso-continuo-Stütze zugleich haltlos wie schwebend, prägt die Sopranarie «Aus Liebe will mein Heiland sterben» diese Kernbotschaft auf unnachahmliche Weise dem Gedächtnis ein. Und gewiss ist es diese in aller Entsagung königliche Haltung, die mehr als die bei Bach zurückhaltend geschilderten Erscheinungen nach dem Tod am Kreuz die Kriegsknechte im Unisono beider Chöre blitzartig begreifen lässt: «Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.» Wenn es überhaupt eine Stelle gäbe, die den Gehalt und die Qualität der gesamten Passion zusammenfasst, dann könnten es diese zwei Takte von unbegreiflicher Schönheit sein. Das Werk mündet deshalb auch nicht wie die Johannespassion in Erleichterung über das Ende des Leidens («Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine»), sondern in einen schmerzerfüllten Tränenchor in c-Moll, der von den trauernden Jüngern des Neuen Testamentes über die Thomaner der Bachzeit und die betroffenen Freunde bei Mendelssohns Leipziger Totenfeier 1847 bis zu den heutigen Musikern und Hörern alle mit dem Werk Beschäftigten in ein gemeinschaftliches Erleben einschliesst: «Wir setzen uns mit Tränen nieder.»