Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage
BWV 248/1 // Weihnachtsoratorium
für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Flauto Traverso I+II, Oboe I+II, Tromba I–III, Timpani, Streicher und Basso continuo
Das zunächst als einmaliger Zyklus für den Jahreswechsel 1734/35 aus vorwiegend älteren Vorlagen zusammengestellte Weihnachtsoratorium hat sich im Nachhinein zu einem Schlüsselwerk der internationalen Bach-Pflege entwickelt. Einen nicht geringen Anteil daran hat der Eingangschor «Jauchzet, frohlocket», der mit seinen schmetternden Fanfaren und jubelnden Chorkoloraturen zum klassischen Ausdruck der Weihnachtsfreude geworden ist. «Bereite dich, Zion», «Grosser Herr und starker König» und «Wie soll ich dich empfangen» – mit diesen Arien und Chorälen haben Bach und sein versierter Textdichter Picander einen veritablen Kanon der Weihnachtsliteratur geschaffen, dessen spontaner Lebendigkeit und unwiderstehlicher Energie sich weder Zuhörer noch Ausführende entziehen können.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Jessica Jans, Jennifer Ribeiro Rudin, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel, Maria Weber
Alt/Altus
Antonia Frey, Liliana Lafranchi, Damaris Rickhaus, Simon Savoy, Lisa Weiss
Tenor
Marcel Fässler, Manuel Gerber, Nicolas Savoy, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Daniel Pérez, Philippe Rayot, William Wood
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Elisabeth Kohler, Olivia Schenkel, Marita Seeger, Salome Zimmermann
Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann
Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Kerstin Kramp, Ann Cathrin Collin
Fagott
Susann Landert
Trompete/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel, Klaus Pfeiffer
Flauto Traverso/Traversflöte
Tomoko Mukoyama, Mara Winter
Timpani/Pauke
Martin Homann
Orgel
Nicola Cumer
Cembalo
Jörg Andreas Bötticher
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Michael Krueger
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
15.12.2017
Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
unbekannter Verfasser
Erste Aufführung
Neujahr 1735
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Der Kantatentext hält sich an die Weihnachtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums. Der Aufbau folgt einer alten Regel zum rechten Bibellesen: Am Anfang steht die Lesung des Bibelwortes, dann folgt eine meditative Betrachtung (Rezitativ) und anschliessend ein Gebet (Arie). Nach dem Eingangschor erklingt zweimal eine solche Sequenz. Abgeschlossen wird sie jeweils mit einer Choralstrophe, gleichsam als das von der Gemeinde gesprochene Amen. Für die Vertonung des Eingangschores und der beiden Arien hat Bach auf frühere Kompositionen zurückgegriffen. Der Librettist hatte eine sog. Parodie zu dichten, welche in die vorgegebene Musik passt, eine Arbeit, welche nicht nur dichterisches Können, sondern auch musikalisches Verständnis verlangt. Für sein Projekt einer zyklischen Konzeption sämtlicher auf die beiden Hauptkirchen St.Nikolai und St.Thomas verteilter Kantatenaufführungen von erstem Weihnachtstag 1734 bis Epiphanias 1735 nutzte Bach die verklammernde Funktion des fortlaufenden Evangelientextes, der den Rezitativen ihre oratorienmässige Schilderungsqualität verleiht.
1. Chor
Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,
rühmet, was heute der Höchste getan!
Lasset das Zagen, verbannet die Klage,
stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!
Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören,
laßt uns den Namen des Herrschers verehren!
1. Chor
Die Komposition stammt aus der Glückwunschkantate BWV 214. Dort lautet der Text: «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten! Klingende Saiten, erfüllet die Luft! Singet itzt Lieder, ihr muntren Poeten! Königin, lebe! wird fröhlich geruft.» Obwohl der neue Text den engen Bezug zwischen beschriebenem Instrumentarium und vertonter Einsatzfolge auflöst, gehört der Satz dank seiner Meisterschaft und Energie sowie klangvollen Sprache zu Bachs mitreissendsten Entwürfen. Wieder einmal gelang Bach selbst im Zuge einer anlassgebundenen Umarbeitung die für alle Zeiten gültige Formulierung eines Satz- und Affekttypus, der hier den befreiten Weihnachtsjubel nach der musikalisch stillen Fastenzeit des Advents meint.
2. Rezitativ (Evangelist: Tenor)
»Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem
Kaiser Augusto ausging, daß alle Welt geschätzet würde.
Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein
jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph
aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land
zur Stadt David, die da heißet Bethlehem; darum, daß er
von dem Hause und Geschlechte David war: auf daß er
sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe,
die war schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die
Zeit, daß sie gebären sollte.«
2. Rezitativ
Die Evangelienlesung wird rezitativisch vorgetragen. Die Tenorpartie setzt hier einen für den gesamten Zyklus verbindlichen hoheitsvollen Ton, wobei der Attacca-Anschluss an das folgende Accompagnato-Rezitativ den szenischen Gestus verstärkt.
3. Rezitativ (Alt)
Nun wird mein liebster Bräutigam,
nun wird der Held aus Davids Stamm
zum Trost, zum Heil der Erden
einmal geboren werden.
Nun wird der Stern aus Jakob scheinen,
sein Strahl bricht schon hervor.
Auf, Zion, und verlasse nun das Weinen,
dein Wohl steigt hoch empor!
3. Rezitativ
Die Betrachtung richtet sich auf die Verheissungen das Alten Testamentes. Der versprochene Erlöser wird kommen zum Heil der Welt. In der Sprache der Christusmystik wird er als Bräutigam der Kirche (Zion) oder der glaubenden Seele bezeichnet. In der Einkleidung durch zwei Oboen d’ amore findet die in der Geburt Realität gewordene göttliche Liebestat auch semantisch Ausdruck.
4. Arie (Alt)
Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,
den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!
Deine Wangen
müssen heut viel schöner prangen,
eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!
4. Arie
Die Bitte, es möge die Seele zum Empfang des Erlösers gebührend vorbereitet sein, findet in bilderreicher Sprache Ausdruck. Die Musik dazu stammt aus der Herkules-Kantate BWV 213. Trotz des drastischen Affektwechsels von der tugendeifrigen Wollustkritik der Vorlage («Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen») zur liebenden Erwartung der Tochter Zion beeindruckt das in einem schwebenden Dreiertakt gesetzte Arientrio durch seine anhaltende Eleganz und seinen sehnsuchtsvollen Ton.
5. Choral
Wie soll ich dich empfangen
und wie begegn’ ich dir?
O aller Welt Verlangen,
o meiner Seelen Zier!
O Jesu, Jesu, setze
mir selbst die Fackel bei,
damit, was dich ergötze,
mir kund und wissend sei!
5. Choral
Mit der ersten Strophe des Adventsliedes von Paul Gerhardt schliesst die erste Sequenz von Bibellese, Betrachtung und Gebet ab. Der nur äusserlich schlichte Satz bringt die demütige Erwartungshaltung des Advents in einer so verinnerlichten Weise zum Klingen, dass das aufscheinende Licht der Weihnacht umso heller zu strahlen scheint. Mit diesem Choral fällt die für Bachs Zeitgenossen wie für uns Heutige in allem Festtrubel manchmal so schwierige Bereitung auf das kommende Heil wie von Zauberhand leicht.
6. Rezitativ (Evangelist: Tenor)
»Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in
Windeln und legte ihn in eine Krippen, denn sie hatten
sonst keinen Raum in der Herberge.«
6. Rezitativ
In der zweiten Schriftlesung folgt mit der Nachricht von der Geburt Jesu das Kernstück des Weihnachtsevangeliums.
7. Choral (Sopran)
Rezitativ (Bass)
Er ist auf Erden kommen arm,
Wer will die Liebe recht erhöhn,
die unser Heiland vor uns hegt?
daß er unser sich erbarm
Ja, wer vermag es einzusehen,
wie ihn der Menschen Leid bewegt?
und in dem Himmel mache reich
Des Höchsten Sohn kömmt in die Welt,
weil ihm ihr Heil so wohl gefällt,
und seinen lieben Engeln gleich.
so will er selbst als Mensch geboren werden.
Kyrieleis!
7. Choral und Rezitativ
Zur meditativen Betrachtung hilft eine Strophe aus Luthers Weihnachtslied «Gelobet seist du, Jesu Christ». Zwischen die Verszeilen hat der Librettist seine Gedanken eingefügt. Im steten Wechsel von Rezitation und ariosem Liedvortrag mit lieblicher Seufzerbegleitung wird der Gedanke des Herzensgespräches als tröstliche Reflexion unmittelbar einleuchtend. Zudem weisen die Rohrblattklänge der Oboen d’amore auf die im Barock zugleich verachtete wie idealisierte Welt der Hirten, so dass die in niedriger Gestalt erschienene himmlische Wundertat auch musikalisch plausibel wird.
8. Arie (Bass)
Großer Herr, o starker König,
liebster Heiland, o wie wenig
achtest du der Erden Pracht!
Der die ganze Welt erhält,
ihre Pracht und Zier erschaffen,
muß in harten Krippen schlafen.
8. Arie
Mit Musik aus der Glückwunschkantate BWV 214 lobt und preist dieses Gebet die Grösse des Gottessohnes, der sich in die Niedrigkeit herabgelassen hat und in einer Krippe liegt. Das äusserst populäre Bravourstück für Basssolo und Tromba fährt erneut die höfische Pracht der irdischen Ständehierarchie auf, um vor diesem Hintergrund die harte Krippe als bewusste Demutsgeste des Weltenherrschers auszuzeichnen.
9. Choral
Ach mein herzliebes Jesulein,
mach dir ein rein sanft Bettelein,
zu ruhn in meines Herzens Schrein,
daß ich nimmer vergesse dein!
9. Choral
Mit einer Strophe aus Luthers Lied «Vom Himmel hoch, da komm ich her» singt die Gemeinde das Amen. Der Wechsel von zärtlichem Schlaflied und majestätischen Trompetenfanfaren verdeutlicht, dass hier ein veritabler König in das Herz noch des elendiglichsten Beters einziehen möchte. Diese auch in Kantate II aufgegriffene Idee deutend instrumentierter Choralzwischenspiele hat Bach im weiteren Verlauf des Oratoriums (leider) fallengelassen.
Michael Krüger
Entfremdung und Rührung
Neben Gewalt, Rücksichtslosigkeit und paulinischer Überzeugungsarbeit verdankt sich die Ausbreitung des Christentums auch einem literarischen Geniestreich: der Weihnachtsgeschichte des Lukas. In Bachs Weihnachtsoratorium (BWV 248) findet der christliche Ursprungsmythos eine kongeniale musikalische Entsprechung. Beide Meisterwerke haben das Potential, uns vergessen zu lassen, wie weit sich heute das Christentum von der Friedens und Liebesbotschaft des Evangeliums entfernt hat, und vermögen unsere Seele an einen Ausgangspunkt zurückzubringen, an dem sie eine neue Richtung einschlagen kann.
Wer das überraschende Paukensolo (und den Jubel des nachfolgenden Chors mit seinem «Jauchzet, frohlocket!»), mit dem Bachs Weihnachtsoratorium einsetzt, einmal gehört hat, wird es nie wieder vergessen. Es bleibt nicht als Ohrwurm stecken wie der Chor aus Beethovens 9. Sinfonie oder die traurige, zum Einschlafen einladende deutsche Nationalhymne, sondern als aufrüttelnde Aufforderung, der guten Nachricht Gehör zu schenken. Man ist elektrisiert. Wenn Schiller und Hoffmann von Fallersleben große, schwere Worte bemühen müssen, um Einheit und Brüderlichkeit zu beschwören, empfehlen Bach und sein Textdichter das reine Gegenteil:
«Lasset das Zagen, verbannet die Klagen,
stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!»
«Im Weihnachtsoratorium», schreibt der Bach-Dirigent John Eliot Gardiner, «begegnen uns immer neue Ideen Bachs für den Umgang mit Chorälen. Fallen an seinen frühen Choralharmonisierungen die klaren melodischen Konturen, das kontinuierliche metrische Voranschreiten, die zielgerichteten Akkordfolgen und später die abwechslungsreichen Harmoniefolgen und atemberaubenden Durchgangsdissonanzen ins Auge, so scheinen die des ‹Weihnachtsoratoriums› noch natürlicher aus der Verschränkung der einzelnen Stimmen – sprich: aus der Stimmführung – zu erwachsen und zeugen von einem noch größeren Gespür für Proportionen und Ausgewogenheit. Zugleich strahlen sie hier mehr Wärme aus – als hätte Bach neue Wege gefunden, vier selbständige, von ihrer je eigenen Schönheit charakterisierte Linien zu formen und diese in einer Weise miteinander zu verweben, dass ungemein ausdrucksstarke, satte Harmonien entstehen.»
Dieser so erzeugte Gleichklang, der die erzählte unerhörte Begebenheit in Melodien und Harmonien aufhebt und in ihrer unwahrscheinlichen Einmaligkeit zuallererst einmal begreifbar macht, ist einer der großen Glücksmomente der Musik. Beim wiederholten Hören dieses Oratoriums fragt man sich doch insgeheim, was in einem aufgeklärtem Zeitalter aus der Weihnachtsgeschichte ohne diese Musik geworden wäre. Es gehört ja nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen moderner Zeitgenossen, an Weihnachten zur Erbauung die Bibel zu lesen, und überhaupt will man vor oder nach dem Festessen nicht unbedingt daran erinnert werden, unter welchen ärmlichen Bedingungen etwas begann, das bis in unsere Zeit wirksam ist. Wer sich dann aber – aus Gründen der Konvention oder wegen der Kinder – zu einem Besuch der Kirche aufrafft und das Oratorium hört, wird sofort wieder vom Magnetismus der erklingenden frohen Botschaft angezogen: Es ist unser aller Geschichte, die da voller Jubel verkündet wird. Und so wie es aussieht, wird es auch unsere Zukunft sein: Wir sind mehr denn je auf gute Nachrichten angewiesen, und selbst wenn wir sie nur als symbolische aufnehmen, spielen sie doch in unserem seelischen Haushalt eine herausragende Rolle. Ein grosses musikalisches Erlebnis schenkt uns etwas, was uns nicht einmal der blosse Text der Bibel schenken kann: eine Art Erinnerungsbad, durch das die Seele zu ihrer Unbestimmtheit, zum Ausgangspunkt zurückkehrt – und, frei vom alltäglichen Druck, eine neue Richtung einschlagen kann: Die elementaren Lebenskräfte können wieder in elementarer Weise zu wirken beginnen.
Lukas, dem wir die Schilderung verdanken, war einer der grossen Erzähler in der Literatur, der offenbar ein genaues Gespür dafür besass, wie man eine Geschichte aufbaut. Hätte er sein literarisches Handwerk nicht so gut beherrscht, wer weiss, wie die frohe Botschaft aufgenommen worden wäre? Es kommt nämlich nicht nur darauf an, was einer zu erzählen hat, sondern auch auf das wie. Der Vordere Orient, damals dünn besiedelt und von Clans und Familien verschiedensten Glaubensrichtungen beherrscht, hat viele Erzähler gekannt, aber eben nur wenige von der Qualität der Apostel. Die meisten waren Angeber und Aufschneider, wie die heutigen Fernseh-Pfarrer, die den Himmel auf Erden versprechen, aber nichts halten konnten. Lukas beginnt mit unübertroffener Lakonie und Klarheit: «Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augusto ausging, dass alle Welt geschätzet würde. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt David, die da heißet Bethlehem; darum, dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war; auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger. Und da sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.» Eine wunderbar klare Eröffnung, die jeder, der auf dem Marktplatz zuhörte, verstand. Und dann? fragt man sich. Was geschah dann? Wie ging es weiter? «Dann gebar sie ihren ersten Sohn», fährt Lukas fort, «und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippen, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.»
Man hat bei dieser Schilderung der Urszene des Christentums die Situation sofort vor Augen, und auch wenn man nichts weiss von den damaligen politischen, geographischen und sozialen Verhältnissen im Nahen Osten, nichts von den komplizierten Regeln, die das Judentum im Laufe der Geschichte entwickelt hatte, um zu überleben, und auch vergessen hat, mit welcher ausgeklügelten Organisationsform das Römische Reich das Land beherrschte, so bleibt das innige Bild haften: Joseph, der jüdische Zimmermann, der zu Hause aus den harten Hölzern der Levante Kästen und Tische schreinert, muss trotz der Schwangerschaft seiner Frau die beschwerliche Reise auf sich nehmen und ist froh, wenigstens in einem Stall bei Ochs und Esel und Kuh unterzukommen, weil alle Hotels wegen des Zensus belegt sind.
Und dann? Ja, dann stellt sich heraus, dass dieses neugeborene Kind, dieser krähende Säugling, der zunächst einmal wie alle Säuglinge aussieht, ein ganz besonderes Kind ist, was sich – trotz der mangelhaften terrestrischen Kommunikationsmöglichkeiten – in Windeseile herumspricht, denn plötzlich stehen seltsam aussehende Könige mit kostbaren Geschenken vor der windschiefen Stalltür, und Joseph weiss im wahrsten Sinne des Wortes nicht so richtig, wie ihm geschieht, weil ganz plötzlich andere Mächte wirksam werden, die nicht nur ihn und sein Leben – und das Leben seiner kleinen Familie –, sondern den Lauf der ganzen Welt verändern.
Vergegenwärtigt man sich die anderen grossen Epen unserer Zivilisationsgeschichte – von Gilgamesch bis zu Homer oder dem Kalevala –, dann sieht man grosse Wandbilder vor sich, auf denen Schlachten und andere Machtkämpfe abgebildet sind, intrigante, verschlagene, auf ihren Einfluss achtende Götter, die sich und die Menschen an der Nase herumführen und abschlachten, man sieht Blut, Schweiss und Tränen fliessen, so dass man am besten in sicherer Entfernung dem Geschehen folgt, um nicht Teil dieser pathetischen Inszenierung zu werden. Was wird nicht alles aufgeboten, um dem Menschen zu erklären, was er kann und was ihn ausmacht, aber vor allem: was er nicht kann. Der Mensch auf seinen zwei Beinen kann nicht viel, weshalb er sich jede Menge Krücken angeschafft hat, um seine Defizite zu überspielen. Er möchte mehr sein, als ihm gegeben ist. Er will stets höher hinaus, er ist, mit anderen Worten, größenwahnsinnig. Er kann nicht einmal das Leid aus der Welt schaffen.
Das Neue Testament dagegen – entstanden in einer heissen, unwirtlichen Gegend, in der die Wundertäter und meschuggenen Wanderprediger so zahlreich waren wie die Disteln auf dem Felde – beginnt in einem Stall.
Für alle, die sich – jenseits der theologischen Fragen – mit der Verbreitung des Christentums beschäftigt haben, bleibt dieser Beginn im Stall von Bethlehem das eigentliche Wunder. Warum hatte ausgerechnet diese mehr als unwahrscheinliche Geschichte einen derart weltumspannenden Erfolg? Warum fiel Gottes Auge ausgerechnet auf die Familie von Joseph und Maria aus Galiläa und nicht auf Hans und Grete in Sankt Gallen? Und wie konnte die frohe Botschaft sich mit derart rasanter Geschwindigkeit, die ja selbst in unserer globalisierten Welt Staunen hervorrufen muss, verbreiten? Plötzlich, im Handumdrehen, war die christliche Botschaft Staatsreligion im römischen Imperium, das ja vorher nicht gerade dafür bekannt war, auf einen Messias gewartet zu haben! Auch wenn bei der Bekehrung der Ungläubigen, um es milde auszudrücken, nicht immer die zartesten Mittel angewendet wurden, und auch wenn Reste der paganen, viele Götter anbetenden Religionen im Untergrund weiterwirkten, so bleibt doch auch für Religionshistoriker die immer noch staunenswerte Tatsache, dass in der Folge der paulinischen Überzeugungsarbeit ein Christentum entstehen konnte, das – in vielen Schattierungen – zur meistverbreiteten Religion auf der Erde wurde. Gerade durch seine frühe innige Verbindung mit weltlichen Mächten hat es Fähigkeiten entwickelt, die sein phantastisch anmutendes Überleben bis heute gesichert haben. Während das Judentum trotz seiner unfreiwilligen Zerstreuung mehr oder weniger unter sich blieb, und, wie es Peter Sloterdijk ausdrückte, «einen gewaltigen theologischen Überschuss produzierte, der für die spirituelle Ausstattung eines Großreiches ausgereicht hätte», ging das Christentum in die Welt und versuchte in einer beispiellosen Offensive auch dort die Idee der Dreifaltigkeit durchzusetzen, wo sie kaum willkommen war. Wer über die rabiaten Zwangsbekehrungen und erzwungenen Taufen der südamerikanischen Bevölkerung nachliest, der muss an der frohen Botschaft irre werden, bis heute. Es gehört zur Ironie der katholischen Kirchengeschichte, dass sie ausgerechnet in den ehemaligen Kolonien heute ihre treuesten Anhänger hat.
Aus der Buchreligion wurde eine Religion der Macht, aus der Religion der Liebe eine der Drohung: Wenn du nicht für die unsere Kirche bist, musst du in der Hölle schmoren. Aus der meditativen Askese wurde eine Religion der Erlösung von Schuld. Mit der Entfremdung vom Evangelium, vom Stall in Bethlehem, wurde die monotheistische Kirche zu einer grenzüberschreitenden Organisation, in der von allen möglichen Menschen alles Mögliche und Unmögliche organisiert wurde.
Nach all den verheerenden, Menschen verschlingenden Kreuzzügen und Religionskriegen im Namen Gottes kam die Aufklärung über Europa – die Menschheit wollte die Lösung ihrer Probleme in die eigenen Hände nehmen und brauchte das Christentum nicht mehr. Gefragt waren weltliche Heilige, die das Elend der Welt und in der Welt sahen und zu lindern versuchten, ob als Christen oder als Nicht-Christen. Die Leiden anderer Menschen – in der nahen wie der fernen Umgebung – mussten, um überhaupt empfunden zu werden, zuerst einmal wahrgenommen werden. So kam auch der Kolonialismus der Kirchen unter Verdacht, ihr rigoroser Versuch, sich die Welt untertan zu machen. «Was für eine Wahrheit ist das, die an diesem Gebirgsweg endet und für die Menschen, die jenseits von ihm leben, Lüge ist?» fragt Montaigne. Und Voltaire: «Es gibt nur eine einzige Moral, wie es nur eine Geometrie gibt.» Aber sind wir fähig, diese Moral ohne das Christentum zu realisieren? Mit anderen Worten, wir haben noch immer nicht begriffen, dass wir es sind – jeder einzelne in einem Chor –, die handeln müssen.
Es hat sehr lange gedauert, bis ein Bewusstsein dafür entstehen konnte, dass wir selber für die sogenannte Schöpfung verantwortlich sind und mithin auch selber eine Moral entwickeln müssen, die einen angemessenen Umgang mit der Schöpfung regelt. Der Philosoph Hans Blumenberg hat bissig auf die Idee der Schöpfung reagiert: «Die Rede von der Bewahrung der Schöpfung ist nicht nur ein großes Wort, es ist auch ein in sich unwahres. Wäre die Schöpfung eine solche, könnten wir sie getrost demjenigen, der sie zustande gebracht hätte, zur Bewahrung überlassen. Schliesslich wäre es seine Sache, wie die von jedermann sonst, die Folgen einer Handlung zu verantworten.»
Wir sind weit abgekommen von der Urszene des Christentums, der Geburt im Stall von Bethlehem. Warum sind wir immer noch gerührt von diesem Ereignis, das Johann Sebastian Bach mit seinem Jubel in Musik gefasst hat? (Wenn jemand alles Bach zu verdanken hat, dann ist es Gott, hat der rumänische Philosoph Emile Cioran gesagt.) In einer Welt, die aus der Post-Moderne wieder zurückstrebt ins Mittelalter, aus dem Zeitalter der Vernunft in eine Welt der Mythen und pathetischen Nationalismen, in der wie in Ungarn – Universitäten geschlossen werden oder – wie in Polen – der katholische Glaube zur Staatsräson erhoben wird, in einer Welt der Anonymität, die das elektronische Netz für ihre brutalen Attacken auf Andersdenkende benutzt, einer Welt aber auch der gnadenlosen Überwachung – mit einem Wort: In unserer gegenwärtigen Welt, unserer von uns selber bedrohten und geschundenen Schöpfung, die sich jeder kohärenten Theorie entzieht und auch mit den leuchtenden Aufklebern Neoliberalismus oder schlicht Kapitalismus nicht mehr zu fassen ist, in dieser tatsächlich unfassbaren Welt braucht es Bilder, Ereignisse, von allen – oder fast allen – ohne Zynismus geteilte Erfahrungen, die nicht sofort belächelt, zur Seite geschoben oder dekonstruiert werden können. Man muss nicht gleich zu dem hochfahrenden Wort von Nietzsche greifen, dass wir die Kunst brauchen, um nicht an der Wahrheit zugrunde zu gehen – an den Aporien der Wahrheit. Von Nietzsche stammt übrigens auch die Feststellung, dass wir als Hörer von Bachs Musik das Gefühl hätten, «als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf». Es ist keine Gewissheit – um nicht von Wahrheit zu sprechen –, sondern nur ein Gefühl: aber doch eines, auf das sich eine grosse Mehrheit ohne Einschränkung verlassen kann. Jauchzet, frohlocket: Diese Aufforderung hat alle atheistischen Grenzen durchbrochen; jede noch so solide rationalistische Mauer bricht unter diesem Gesang zusammen. Ist es nicht seltsam, schreibt der polnische Philosoph Henry Elzenberg, wie sich in den Weihnachtsbräuchen auf merkwürdige Weise eine mythische und legendäre Welt, mehr noch: ein mythisches und legendenhaftes Denken in einer bereits völlig veränderten Welt hat erhalten können und weiterlebt. Jeder von uns, der das Weihnachtsoratorium hört, wiederholt in sich einen lang verklungenen, geistigen Prozess.
Und diese Musik feiert eine Geburt, ein Zur-Welt-Kommen der besonderen Art unter den erbärmlichsten Bedingungen. Der Wurm, der da in der Krippe liegt und von dem warmen, freundlichen Atem einer Kuh und eines Esels gewärmt wird, weiss noch nicht, was ihn in der Welt erwartet. Das feiert er mit allen Menschen: Keiner kennt mehr als das, was er beim ersten Augenaufschlag sieht; keiner weiss, was aus ihm oder ihr werden wird: ein Schaffner bei der Bahn oder ein Banker, ein Gauner oder ein Heiliger; keiner oder keine hat die blasseste Ahnung, ob er oder sie als Jude, Christ oder Muslim auf die Welt kommt. Ich möchte Ihnen zum Abschluss hier in der Kirche ein kurzes Gedicht des Schweden Tomas Tranströmer vorlesen:
Romanische Bögen
In der gewaltigen romanischen Kirche drängten sich die Touristen im Halbdunkel.
Gewölbe klaffend um Gewölbe und kein Überblick.
Kerzenflammen flackerten.
Ein Engel ohne Gesicht umarmte mich
und flüsterte durch den ganzen Körper:
«Schäm dich nicht, Mensch zu sein, sei stolz!
In dir öffnet sich Gewölbe um Gewölbe, endlos.
Du wirst nie fertig, und es ist, wie es sein soll.»
Ich war blind vor Tränen
und wurde auf die sonnensiedende Piazza hinausgeschoben
zusammen mit Mr. und Mrs. Jones, Herrn Tanaka und Signora Sabatini,
und in ihnen allen öffnete sich Gewölbe um Gewölbe endlos.
Das sagt alles.
Erst am nächsten Tag, wenn die Hähne gekräht haben, fängt das Elend an.