Wir danken dir, Gott, wir danken dir

BWV 029 // zur Ratswahl

für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Trompeten I-III, Pauken, Oboe I+II, Fagott und Streicher, Organo Obbligato und Basso Continuo

Der alljährlich am Bartholomäustag begangene Gottesdienst zum Ratswechsel gehörte zu den Höhepunkten des Leipziger Festkalenders. Wie wechselhaft sich auch sein Verhältnis zu seinem Dienstherrn gestaltete, so hat Bach doch während seiner gesamten Amtszeit diese Aufgabe zuverlässig wahrgenommen. Immerhin fünf dafür bestimmte Kompositionen sind ganz oder in Teilen erhalten; weitere drei durch den Textdruck belegt. Dabei bezeugt die höfische Färbung dieser Werke in Wahrheit weniger die beschränkte Macht des Leipziger Bürgeradels als dessen karrierebezogene Orientierung auf den Dresdner Landesherrn.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 29

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Werkeinführung
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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Chor

Sopran
Mirjam Berli, Olivia Fündeling, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Alexa Vogel

Alt/Altus
Jan Börner, Antonia Frey, Damaris Rickhaus, Simon Savoy, Lea Scherer

Tenor
Manuel Gerber, Raphael Höhn, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Monika Altorfer, Martin Korrodi, Olivia Schenkel, Marita Seeger

Viola
Susanna Hefti, Martina Zimmermann

Violoncello
Maya Amrein, Hristo Kouzmanov

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Dominik Melicharek, Ingo Müller

Fagott
Susann Landert

Trompete/Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel, Pavel Janecek

Timpani/Pauke
Martin Homann

Organo Obbligato
Tobias Lindner

Cembalo
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Meinrad Walter

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
23.08.2013

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 2
Psalm 75,2

Textdichter Nr. 3-7
unbekannter Dichter

Textdichter Nr. 8
Königsberg, 1548

Erste Aufführung
27. August 1731

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Die Sinfonia der nach 1731 mehrfach wiederaufgeführten Kantate zeigt eindrücklich, wie anlassbezogene Erfordernisse Bach zur Weiterentwicklung seiner Ideen animierten. 1720 als Preludio für Violine solo der E-Dur-Partita (BWV 1006) vorangestellt, hat Bach das Stück um 1729 für eine Trauungskantate zu einem Konzertsatz für Orgel und Streichorchester (mit Oboen?) umgeformt. Zur Ratswahl 1731 kamen Trompeten und Pauken hinzu, die dem Stück jene rauschende Wirkung verleihen, die noch Felix Mendelssohn 1840 zu seiner Klavierversion anregte. Die Verwandlung einer fragilen Solostimme in einen kompakten Orchestersatz zeigt Bachs Kunst der motivischen Kombination und Instrumentierung. So zeichnen Streicher und Holzbläser zunächst die Solostimme nach, während die Trompeten Fanfarenklänge einbringen; später überwölben Durchführungselemente und mehrchörige Effekte die durchlaufende Concertostruktur. Die Besetzung mit Orgel verleiht der Sinfonia eine kirchliche Färbung und nähert sie im Zusammenhang mit dem anschliessenden Chorsatz einer dem Lob der heiligen Tonkunst gewidmeten Cäcilienode an. Die Folge einer konzertant-modernen Instrumentalmusik und einer strengen Vokalfuge im alten Da-cappella-Stil konstituiert ein doppeltes Präludium, in dem sich mit altväterlicher Beständigkeit und prachtvoller Repräsentation zugleich zentrale Attribute der Ratsherrschaft widerspiegeln. Die beiden Textglieder des Lobpreises hat Bach in zwei kontrastierenden Themen eingefangen, bevor er die Komposition 1733 zum nahezu wortgleichen «Gratias» der Missa h-Moll sowie später noch zum heute ungleich berühmteren «Dona nobis pacem» umarbeitete. Bemerkenswert ist die sukzessive Entfesselung des Klangapparates, die wie die Aufstiegsgeste des enggeführten «Dank»-Motivs dem Stück suggestive Kraft verleiht.

Demgegenüber kommt die Tenorarie im hellen A-Dur als leichtfüssigere Musik daher, deren heroische Attitüde sich mit kantablen Elementen verbindet. Mit der Lauffigur «Halleluja» führt sich der Solist wirkungsvoll ein; indem das Lob des Höchsten dem Preis der Obrigkeit vorgeschaltet bleibt, rückt das Libretto die Hierarchien zurecht. Die Erwähnung «Zions» bringt im Mittelteil das Idealbild einer christlichen Kommune ins Spiel, in der Gott «Lust zu wohnen hat». Das Bassrezitativ vertieft diese Gedanken, indem es Gottes Schutz als Grundlage eines angenehmen Lebens herausstellt. Dieses umfassende Wohlsein verdankt sich zudem einer Stadtpolitik, die unter Anspielung auf Psalm 85 auf die Wahrung von Friede und Gerechtigkeit verpflichtet wird. Auf diese behagliche Schmeichelei folgt mit der Sopranarie eine innige Erbarmensbitte, in die Regierende und Gehorsame gleichermassen eingeschlossen sind. Im schwebenden 6/8-Takt und ernsten h-Moll gesetzt, entfaltet die Arie einen an Händel‘sche Opernpartien und manche Passionsarien erinnernden Zauber, der durch die häufige Tasto-solo-Vorschrift der Orgel noch luftiger ausfällt.

Dabei weist das Libretto – einer Handelsmetropole angemessen – auch geschäftsmässige Züge auf. Wird doch im Altrezitativ der Höchste geradezu gedrängt, im Gegenzug für Dank und Opfer die Gemeinde weiter zu schützen. In diesen zeremoniellen Vortrag stimmt der das gesamte Volk vertretende Chor mit einem unisono vorgetragenen «Amen» ein – eine Akklamation, in der sich der Herrschaftsvertrag öffentlich erneuert. Doch wird der Situation durch den Eintritt des Soloaltes alle Schwere genommen – dessen aus der Tenorarie entlehnte «Halleluja»-Musik wird nun zum befreiten Danklied. Indem Bach dabei die Violine durch die obligate Orgel ersetzt, bindet er nachträglich die Besetzung der Sinfonia theologisch ein.

«Sei Lob und Preis mit Ehren»: Ein hymnischer Choral mit wuchtigen Bläsertutti bringt die Zuversicht im Zeichen der göttlichen Dreifaltigkeit auf den Punkt. Der Ratswechsel war als routinemässiges Alternieren geschlossener Patrizierkreise zwar kaum mehr als ein frühes Beispiel gelenkter Demokratie – an seiner Bedeutung als Bittgottesdienst zur Erneuerung des kommunalen Bundes mit Gott lässt Bachs phantasievolle Musik jedoch keinen Zweifel. Womöglich waren es auch gelungene Anlässe dieser Art, die ihn selbst nach dem bereits 1729/30 irreparablen Zerwürfnis mit dem Rat als Stadtkantor im Amt hielten…

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Wie in vielen deutschen Städten pflegte man auch in Leipzig bis 1830 die Ratsherren auf Lebenszeit zu berufen und ihre Gesamtheit in mehrere unter einem eigenen Bürgermeister stehende Räte aufzuteilen, die sich in regelmässiger Folge bei der Führung der Regierungsgeschäfte abwechselten. Dieser scheindemokratische «Ratswechsel» zwischen einem regierendem Rat und zwei «ruhenden Räten» war Anlass für einen jährlichen «Wahlgottesdienst» am St.Bartholomäustag in der Hauptkirche St.Nikolai mit besonderer Predigt und einer vom Thomaskantor verantworteten Festmusik. Ihr Thema war stets der Dank für erwiesene Wohltaten und die Bitte um künftigen Segen. Die durch Bachs autographen Hinweis auf das Jahr 1731 zu datierende Kantate BWV 29 wurde nachweislich 1739 und 1749 wieder aufgeführt. Damit war sie die letzte von Bach dargebotene Huldigungsmusik dieser Art. Wahrer Stadtherr über Leipzig blieb allerdings der Kurfürst in Dresden, um dessen Protektion sich Bach daher mit ebenso aufwendigen Kompositionen bemühte.

1. Sinfonia

1. Sinfonia
Für den glanzvollen Auftakt seiner Festkantate hat Bach auf sein spätestens 1720 komponiertes Preludio E-Dur für Violine solo zurückgegriffen, das er bereits um 1729 für die Hochzeitskantate «Herr Gott, Beherrscher aller Dinge» (BWV 120a) in einen Konzertsatz für Orgel solo und Orchester verwandelt hatte. In der Fassung zum Ratswechsel 1731 kamen passend zur neuen Tonart D-Dur noch drei Trompeten und Pauken hinzu.

2. Chor

«Wir danken dir, Gott, wir danken dir
und verkündigen deine Wunder.»

2. Chor
Zum Eingang singt der Chor den zweiten Vers aus Psalm 75. Auch in der folgenden Dichtung finden sich mehrmals Anspielungen auf biblische Texte. Der Komponist hat dem altehrwürdigen Psalmtext eine Musik zugewiesen, die durch ihre gemessene Bewegung und die strenge Form einer Doppelfuge eine archaische Klanglichkeit entwickelt, die die spät hinzutretenden Blechbläser noch überhöhen. Bach hat diesen wahrscheinlich bereits vor 1731 konzipierten Satz im «Gratias agimus tibi» (1733) und «Dona nobis pacem» (um 1749) seiner h-Moll-Messe erneut verwendet.

3. Aire (Tenor)

Halleluja, Stärk und Macht
sei des Allerhöchsten Namen.
Zion ist noch seine Stadt,
da er seine Wohnung hat*,
da er noch bei unserm Samen
an der Väter Bund gedacht.

*da er Lust zu wohnen hat

(abweichende Lesart in Takt 117/19)

3. Arie
Der Berg Zion in Jerusalem ist Bild für den Ort der Anbetung Gottes. Nach 1. Chronik 23, 25 werde Gott «zu Jerusalem wohnen ewiglich»; die Gottesdienstbesucher werden dabei an Leipzig gedacht haben. Bach hat für diesen Lobpreis Gottes und der von ihm eingesetzten Obrigkeit einen elegant-flüssigen Triosatz (Solovioline, Tenor und Continuo) im leuchtenden A-Dur komponiert.

4. Rezitativ (Bass)

Gott Lob! es geht uns wohl!
Gott ist noch unsre Zuversicht;
sein Schutz, sein Trost und Licht
beschirmt die Stadt und die Paläste;
sein Flügel hält die Mauern feste.
Er lässt uns aller Orten segnen;
der Treue, die den Frieden küsst,
muss für und für
Gerechtigkeit begegnen.
Wo ist ein solches Volk wie wir,
dem Gott so nah und gnädig ist!

4. Rezitativ
Hier sind Gedanken aus den Psalmen aufgenommen: «Wünschet Jerusalem Glück! Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen» (Ps. 122), oder der Wunsch, dass «Gerechtigkeit und Friede sich küssen» (Ps 85, 11). Die zugleich prophetische wie väterliche Stimmlage des Basses verleiht dem gewichtigen Text besonderen Nachdruck. Lang ausgehaltene Stütztöne des Generalbasses verkörpern das feste Fundament eines auf Gottes Wort und Segen gegründeten Gemeinwesens.

5. Arie (Sopran)

Gedenk an uns mit deiner Liebe,
schleuss uns in dein Erbarmen ein.
Segne die, so uns regieren,
die uns leiten, schützen, führen,
segne, die gehorsam sein.

5. Arie
Auf den selbstbewussten Schluss des Rezitativs folgt ein Gebet mit der Bitte um Erbarmen und um den Segen für Regierung und Volk. Dem entspricht ein zartes Siciliano im elegischen h-Moll, das durch den häufigen Verzicht auf eine akkordische Generalbassaussetzung (tasto solo) und die teils solistische Oboenstimme einen besonders durchsichtigen und demütigen Charakter erhält. Von grosser Wirkung sind dabei die piano-Vorschrift und das Verstummen der Streicher in der letzten Segensbitte des Mittelteils.

6. Rezitativ (Alt, Chor)

Vergiss es ferner nicht, mit deiner Hand
uns Gutes zu erweisen,
so soll dich unsre Stadt und unser Land,
das deiner Ehre voll,
mit Opfern und mit Danken preisen,

«und alles Volk soll sagen:
Amen!»

6./7. Rezitativ und Arie
Der Ratswechsel bildet einen Neuanfang, der dennoch fest in der Tradition gegründet ist. Es gilt, Gott um seinen Beistand zu bitten und ihm Ehre und Dank zu erweisen. Der letzte Satz des Rezitativs ist einer Sequenz aus 5. Mose 27 entnommen. Das Halleluja erinnert an Passagen aus Offenbarung 19, 1 – 6. Bach hat den Doppelsatz aus Rezitativ und Arie als regelrechte Szene angelegt und ihn damit zum musikalischen Ausdruck des beschriebenen Herrschaftsaktes erhoben: Mit dem auf das Bittgebet folgenden Tutti-Ausruf «Amen» (Es werde wahr!) werden die neuen Machthaber öffentlich akklamiert. Dass die Altistin in ihrem unmittelbar anschliessenden Halleluja-Jubel musikalisch auf die Arie Nr.  3 zurückgreift, betont die Kontinuität des Amtes und damit die Gottgefälligkeit auch des neu erwählten Rates.

7. Arie (Alt)

Halleluja, Stärk und Macht
sei des Allerhöchsten Namen!

8. Choral

Sei Lob und Preis mit Ehren
Gott, Vater, Sohn, Heiligem Geist,
der woll in uns vermehren,
was er uns aus Gnaden verheisst,
dass wir ihm fest vertrauen,
gänzlich verlass’n auf ihn,
von Herzen auf ihn bauen,
dass uns’r Herz, Mut und Sinn
ihm tröstlich soll’n anhangen;
drauf singen wir zur Stund:
Amen, wir werden‘s erlangen,
glaub’n wir aus Herzens Grund.

8. Choral
Die Kantate schliesst mit einer Choralstrophe aus Königsberg, die 1548 dem Lied «Nun lob, mein Seel den Herren» von Johann Gramann (1530) angefügt worden ist. Dem hohen Festtag entsprechend hat Bach die Zeilenenden jeweils durch einen obligaten Trompetensatz hervorgehoben.

Reflexion

Meinrad Walter

«Zwischen Kirche und Rathaus»

Ein problematischer Spagat zwischen Gottesliebe und deren politischer Vereinnahmung wird im Text der Kantate «Wir danken dir, Gott, wir danken dir» hörbar. Doch Bachs Musik scheint Partei nehmen zu wollen – für das Himmlische.

 In der Mitte des Konzerts, das sich durchaus als musikalisches Ritual verstehen lässt, führt uns die Betrachtung des Kantatentextes auf die Spur eines anderes Rituals, jenes des Ratswechsels. Die von Bach vertonten Worte, mitsamt der Musik, waren Teil einer politisch-kirchlichen Feier in der Messestadt Leipzig, begangen jeweils am Montag nach Bartholomäi, in der Frühe, um sieben Uhr in der Nikolaikirche. Diese Reflexion findet an einem Tag und zu einer Stunde statt, da wir bereits die erste Vesper zu Ehren des Apostels Bartolomäus anstimmen könnten, denn am morgigen 24. August ist sein Gedenktag. Wir sind also gut in der Zeit.
Aber wir sind nicht mehr in der Bach-Zeit! Und das macht diesen Kantatentext sperrig für meine Ohren. Die Worte huldigen einem vordemokratischen Welt- und Menschenbild. Sie stellen mich vor die Frage, ob das Gottesbild davon auch infiziert ist, weil vielleicht die Stadt sich als eine Art Idol so groß macht, dass Gott allzu klein werden muss. Darüber will ich etwas nachdenken und den Text weder vorschnell loben noch ihn verurteilen. Ich will versuchen, ihn zu verstehen.
Ein großes WIR feiert sich mit dieser Musik. Deshalb ist es ein kollektiv geprägter Text. Ein Wort hingegen, das so viele Bach-Kantaten prägt, kommt hier gar nicht vor: das Wort Ich. Denken wir nur an den Ich-haltigsten Kantatentitel bei Bach: «Ich, ich, ich – ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen». Johann Mattheson hat die vielen Ich im Jahr 1725 mit spitzer Feder gerügt. Doch vor wenigen Jahren erst hat der Liedermacher Wolf Biermann jene Kantate im Schweizer Fernsehen rehabilitiert, von Dichter zu Dichter sozusagen, indem er auf ein eigenes Gedicht, ein Protest-Gedicht, verwies, das ganz ähnlich beginnt: «Ich, ich, ich … Das Kollektiv liegt schief». Und das könnte meine Frage sein: Wie schief liegt das Kollektiv Leipzig um 1730 mit dieser Kantate? Und ein Nebenaspekt noch: Hat Bachs Musik daran vielleicht etwas gerade gerückt?

Die Norm und ihre Unterwanderung
Zunächst: Der Kantatentext erfüllt seine Norm. Er ist biblisch inspiriert und zugleich musikalisch inspirierend, voller Bilder und Affekte, die dem Komponisten entgegensprudeln als ‹Quellen seiner musikalischen Erfindung›. Neben dem Ich fehlt aber auch Jesus in dieser Kantate, abgesehen von einer Andeutung des Sohnes im Schlusschoral. Das Thema heißt eben nicht, wie so oft, Jesus und ich, sondern: Wir und Gott. Oder etwas präziser: Wir unter Gottes Schutz und Gnade und Fürsorge.
Gleich die erste Arie bringt die Essentials des jüdischen Glaubens zur Geltung: das Gotteslob, verdichtet im Jubelruf «Halleluja» (später noch durch «Amen» ergänzt), dann der «Name» Gottes, und seine «Wohnung» im Tempel auf dem Zionsberg, und nicht zuletzt Gottes Walten und Wirken in der Geschichte. Und genau hier wird das christliche «uns» poetisch-theologisch eingeführt. Von jenen Vätern, damals, reicht der weite Bogen bis zu «uns», und noch weiter: zum «Samen». Dadurch rückt das ‹Wir anno 1731› ins poetisch-theologische Zentrum. Ein jüdischer Eigenwert all dessen, über den ich heute, Trogen 2013, nicht schweigen will, kam damals offenbar nicht in den Sinn des Dichters. Hinter der christlichen Aneignung, so berechtigt sie ist, verschwimmen, ja verschwinden die jüdisch-ursprünglichen Subjekte und Orte konturenlos im Hintergrund.
Das folgende Rezitativ intensiviert all dies – und gerät am Ende bedenklich in eine Art von Eigenlob: «Wo ist ein solches Volk wie wir, dem Gott so nah und gnädig ist!» Da können einem musik-kritische Sätze der Bibel in den Sinn kommen, etwa aus dem Mund des Propheten Amos: «Tu nur weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Psalterspiel nicht hören!» (Amos 5,23). Oder auch Psalm 82: «Ihr seid Götter und allemal Kinder des Höchsten; aber ihr werdet sterben und wie ein Tyrann zugrunde gehen» – das war der Predigttext bei der letzten Aufführung unserer Kantate im Jahr 1749.

Legitimation des Ratswechsels
Ich lese diesen Kantatentext nun als ‹Variationen über einen Ort›. Variationen brauchen ein Thema. Es heißt «Zion», in anderen ‹Rats-Stücken› auch «Jerusalem», was dasselbe meint. Und zugleich heißt der Ort «Leipzig». Denn Zion wird zur Legitimation des Ratswechsels in Leipzig. Offenbar sind politische Ereignisse, hier ist es eine Schwellensituation, auf ein Riten-Design angewiesen, das sie selbst zu kreieren kaum in der Lage sind. Das Gemeinwesen leiht sich Rituale aus dem kirchlichen Fundus, wo man auf solcherlei Dinge seit alters her spezialisiert ist. Und zu diesen Spezialisten des Rituellen zählen ja in Leipzig der Thomaskantor Bach und der namentlich unbekannte Librettist dieses Werkes.
Was aber macht der Dichter mit seinem Thema, dem Ort? Die erste Arie für Tenor begründet gleichsam den Ort: Zion ist die Stadt Gottes, wo er seine Wohnung hat. Darauf blickt man zurück, in Richtung der eigenen Herkunft. Zugleich kommt schon eine entscheidende Frage ins Spiel: Was haben denn wir mit Zion zu tun? Eine Antwort wird vorerst nur angedeutet, etwas verklausuliert: Der «Väter Bund» reicht bis zu «unserm Samen». Kontinuität und Identität, verbunden mit Legitimation, all das sind überaus wichtige Aspekte beim Ratswechsel. Die Erinnerung an Jesu diskontinuierliches Reden und Handeln, das alte Identitäten in Frage stellt und eine ganz neue Legitimation beansprucht, all dies würde da nur stören.
Das erste Rezitativ «Gott lob! es geht uns wohl!» greift die Zeichnung des Ortes auf und koloriert sie gleichsam: die alttestamentliche Gottesstadt Zion wird jetzt vorgestellt als «die Stadt und die Paläste». Gerechtigkeit wird gefordert – mit einem Bibelzitat aus Psalm 85,11 – und Frieden. Der Schlusssatz aber lässt keinen Zweifel daran, dass jetzt primär die Stadt Leipzig gemeint ist. Zugleich kommt es wieder zu einer Andeutung, die von Bedeutung ist: «Er lässt uns aller Orten segnen.» Heisst das: an allen unseren Orten, womit zur zeitlichen Kontinuität die räumliche Gewissheit tritt, dass es nichts Ex-territoriales gibt, weil der Machtbereich des Rates keine Einschränkungen duldet? Oder segnet Gott, wenn er «aller Orten» segnet, nicht vielmehr auch alle, und überall? Diese Konsequenz kann und will der Textdichter so nicht ziehen. Aber wir dürfen das – und zwar nicht gegen die Kantate, sondern mit ihr.

Vordemokratisches Bild des Gemeinwesens
Die zentrale Sopran-Arie «Gedenk an uns mit deiner Liebe» ist ein komponiertes Gebet. Das biblische Wort, dass Gott an der Väter Bund «gedacht» hat – damals –, es soll nun Gegenwart werden. Dabei ändert sich der Modus des Sprechens und Singens: vom Indikativ zur Bitte «Gedenk an uns mit deiner Liebe». Damit schafft der Librettist eine überaus stimmige Dramaturgie: von der biblischen Verheißung im Rezitativ mit biblischen Anspielungen über das innige komponierte Gebet der Arie hin zu einer Vision von Erfüllung. Und obwohl immer nur von «wir» und «uns» die Rede ist, singt jetzt eben doch ein «Ich». Ein vordemokratisches Idealbild des Gemeinwesens wird gezeichnet: auf der einen Seite «die uns leiten, schützen, führen» als Kennzeichen des Regierens; auf der anderen die Gehorsamen, die sich mit einer einzigen Zeile zu begnügen haben, obwohl sie doch in der Mehrheit sind. Das aber wäre ein modern-demokratischer Einwand, kritisch zwar, aber selbst mit dem Argument ‹anachronistisch› angreifbar. Wichtiger ist mir die innerbiblische Kritik aus dem Geist des Magnificat: Dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht (Lukas 1,52). Diese Verheißung kommt hier nicht zur Geltung. Aber sie gilt.
Jetzt sind wir, mit dem Kantatentext, aus der Vergangenheit, also der Herkunft kommend, durch die Gegenwart geschritten, um in die Zukunft zu blicken mit dem zweiten Rezitativ. «Vergiss es ferner nicht…», das weist hoffend in die Zukunft. Die Stadt weiss durchaus, wie gefährdet sie ist, materiell und ideell. Aber nun erscheinen Stadt und Land in einem neuem Licht. Sie sind «deiner Ehre voll». Das höre ich als liturgische Anspielung an den Gesang des Sanctus: «pleni sunt coeli et terra gloria tua» – coeli et terra, nicht nur Stadt und Land, sondern «Himmel und Erde». Die Thronvision des Propheten Jesaja (Kapitel 6) steht im Hintergrund. Und vor allem die Offenbarung des Johannes durch die bekräftigende Formel «Amen, Halleluja». So klingt der himmlische Lobgesang der 24 Ältesten an Gottes Thron (Offenbarung 19,4). Den Ratsmitgliedern Leipzigs, alten wie neuen, insgesamt waren es drei Mal 12, wird er zugesungen, damit sie sich damit identifizieren, ihn sich aneignen. Auch beim Ratswechsel im Ratshaus zu Leipzig sitzen sich 24 Älteste, nämlich die 12 alten und die 12 neuen Ratsherren zunächst gegenüber, um dann nach Ablegung des Ratseides die Plätze zu tauschen. Damit ist der Ratswechsel vollzogen.
Und wir sind bei der Frage, wer eigentlich in diesen Textabschnitten jeweils singt. Das ist nicht weniger wichtig als die Frage, was gesungen wird. Allerdings finden sich ja keine Rollenbezeichnungen im Libretto. Sie stehen allenfalls zwischen den Zeilen. Im ersten Chor singt ein ‹Wir› als Gemeinschaft der Glaubenden und Feiernden. In der Tenor-Arie hören wir ein ‹Ich› aus dieser Gemeinschaft, im Rezitativ dann wohl einen Repräsentanten der Stadt, der sich gut in ihr auskennt. Ich stelle ihn mir so vor: Er hat die Amtskette angelegt und ist von Bürgerstolz erfüllt. Überhaupt hat er, so jedenfalls scheint es mir, auf alle Fragen gleich die richtige Antwort. Wie anders aber die Sopran-Arie: ein kindliches Gebet, auf Knien. Der Dichter teilt die Menschen in Regierende und Gehorsame. Bach jedoch wählt einen anderen Aspekt, der beide Personengruppen miteinander verbindet: das miserere nobis, oder besser hier: miserere mei. Warum aber pausiert immer wieder der Generalbass? Vielleicht, weil selbst die Stadt mitsamt ihren Palästen sich ihres Fundaments nicht sicher ist? Jetzt kommen wir in spekulative Regionen, doch das ist bei einer Reflexion über Bach kaum zu vermeiden. Gewiss scheint mir, dass Bach dieses textliche Bild mit einem anderen biblischen Motiv gleichsam musikalisch übermalt: dem Hirten und seinen Schafen. Das verirrte Schaf fleht hier um Erbarmen. Ob sich die Leipziger Ratsherren auch in diesem Bild des Suchens und Findens noch erkennen mochten? Ausschließen sollten wir das nicht.

Umschlag ins Himmlische
Im nächsten Satz überrascht das pointiert gesetzte «Amen» – von Bach nicht nur vertont und ausgelegt, sondern chorisch ausgeführt, mithin in Bachs geistlichem Vokalwerk der kürzeste Turba-Chor – aber wie effektvoll! Hier ereignet sich der Umschlag, nicht nur ins Kollektive, Gott sei Dank, sondern zugleich ins Himmlische. Denn dieses Kollektiv ist nicht mehr nur irdisch. Jedenfalls meine ich, dass Bach das so verstanden hat.
Ein zweites Mal erklingen hierzu Worte der ersten Arie, und diese Wiederholung setzt die Doxologie präzise poetisch-musikalisch ins Werk: «wie es war im Anfang (auf dem Berg Zion), so auch jetzt und allezeit (hier bei diesem und den weiteren Ratswechseln), und dann in Ewigkeit (vor Gottes Thron), amen.» Die Stadt, um deren Bestes es geht (Jeremia 29,7), versteht sich als spätes Spiegelbild, musikalisch als Nachklang der altbundlichen Stadt – und zugleich als eine Art Vorgeschmack, quasi als Präludium der ewig-himmlischen, die als neues Zion leuchtet und in der unablässig, sine fine, das Canticum novum ertönt. Diese letzte Steigerung, in Wort und Ton, bringt der Schlusschoral: eine Art «Te Deum laudamus», wie es typisch war (und ist) für politische Musik.
Der Text der Kantate «Wir danken, dir, Gott, wir danken dir» ist ein ebenso guter wie problematischer Text. Wenn ich ihn lese, prallen etliche Zeilen an mir ab. Auch das ist eine Variante von Reflexion. Das ist nicht meine Welt! Viele Kirchenkantaten im Jahreskreis sind mir viel näher. Wenn ich die Worte dann höre, versöhnt mich Bachs Musik mit etlichen Aspekten. Ein Satz bleibt anstößig: «Wo ist ein solches Volk wie wir, / dem Gott so nah und gnädig ist!» Zwischen «Wir danken dir, Gott, wir danken dir» (Psalm 75,2) und «Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute …» (Lukas 18,11) scheint ein schmaler Grat zu verlaufen. Die biblische, von Jesus vorgeschlagene Option im Lukasevangelium – sie heißt bekanntlich «Gott, sei mir Sünder gnädig» – kommt mir in diesem Kantatentext einfach zu kurz.

Versöhnende Musik
Doch gerade mit dem allzu selbstsicheren Satz versöhnt mich Bachs Musik in den letzten drei Takten des Rezitativs Nr. 4. Besonders wichtig ist ganz am Ende das Satzzeichen. In zwei zeitgenössischen Textdrucken und in Bachs Handschrift ist es ein Ausrufungszeichen – leider. Mit einem Fragezeichen könnte ich ja noch leben. Der Tenor in Bachs Aufführungen übrigens las weder ein Ausrufungszeichen noch ein Fragezeichen, sondern einen Punkt, und zwar aus der Feder von Bachs Schüler Johann Ludwig Krebs. Bach aber komponiert eine Frage. Ja, er krümmt sozusagen das Ausrufungszeichen musikalisch zu einem Fragezeichen. Eine Art phrygische Schlusswendung mit erhöhter Terz, die zugleich in die Affektsphäre der Sopran-Arie hineinführt. Wir hören eine Exclamatio auf «Wir», der jedoch bereits im Moment ihres Erklingens das harmonische Fundament unter den Füßen entzogen wird. Dem erhöhten «Wir» entspricht ein erniedrigter Ton beim Wort «Gott» (c statt cis) – musikalische Sinnbilder des Erhöhens im Sinne der Superbia und des Sich-Erniedrigens im Sinne der Humilitas, ja der Kenosis. Die Harmonik unterstreicht all dies. Denn ganz am Ende legt Bach das Fundament zu einer Kadenz nach G-Dur, die er absichtsvoll nicht zur Vollendung führt, sondern vielmehr nach H-Dur abbiegt. Das ist Bachs Harmonik des Fragezeichens.
Den Ritus Ratswechsel und seine ästhetische Inszenierung kann ich heute erklären und verstehen, kommentieren und in seiner idolischen Tendenz kritisieren. Der Ratswechsel scheint mir ein gefährdeter Randbereich des Religiösen – höchst interessant aber, und schlichtweg ein Aspekt von Johann Sebastian Bachs Lebenswelt.
Das ist das eine, die historische Dimension: wie es war. Die biblischen und vor allem die eschatologischen Aspekte hingegen eröffnen Möglichkeiten nicht nur des Erklärens und Verstehens, sondern – auf dieser Basis freilich – einer heutigen Aneignung. Sie wird immer überaus persönlich bleiben. Für sie gibt es keine bessere Hilfe als das zweite – in Bachs barocker Sprache – das ‹andere› Hören: ein Hören sogar, dass zwar nicht den Text, aber doch den Text-Sinn mit konstituiert, so wie gleich die Interpreten den musikalischen Sinn mit konstituieren. Dieses Hören auf die Worte und auf die Musik ist das Wichtigste.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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