Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist

BWV 045 // zum 8. Sonntag nach Trinitatis

für Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Traversflöte I+II, Oboe I+II, Oboe d’amore, Streicher und Basso continuo

Die für den 8. Sonntag nach Trinitatis bestimmte Kantate «Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist» wurde 1726 in Leipzig erstmals aufgeführt. Die einem Meininger Librettojahrgang entnommene Textgrundlage kombiniert zwei biblische Lesetexte, im ersten Satz Micha 6, 8 aus dem Alten Testament und im vierten Satz Matthäus 7, 22–23 aus dem Neuen Testament. Von da aus wird eine Theologie der an Werken der Liebe erkennbaren und seinem Wort vertrauenden Gottesfürchtigkeit entfaltet. Während der kompositionstechnisch höchst anspruchsvoll gearbeitete Eingangschor die an den Menschen gerichtete Forderung mit maximaler Deutlichkeit herausarbeitet, kommt die den zweiten Kantatenteil eröffnende Kritik Jesu an den falschen Jüngern als feuriger Bassauftritt mit dramatischer Streicherbegleitung daher. Generell verbinden die Sätze dieser Kantate die geschärfte Leuchtkraft würziger Kreuztonarten mit einem ausgeprägten Bemühen um metrische Klarheit sowie um eine durch wechselnde Klangfarben unterstützte emotionale Ansprache.

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Werkeinführung
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Reflexion
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Bonusmaterial
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Alt/Altus
Annekathrin Laabs

Tenor
Georg Poplutz

Bass
Andreas Wolf

Chor

Sopran
Lia Andres, Cornelia Fahrion, Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Anna Walker, Mirjam Wernli

Alt
Laura Binggeli, Antonia Frey, Lea Pfister-Scherer, Alexandra Rawohl, Simon Savoy

Tenor
Manuel Gerber, Tobias Mäthger, Tiago Oliveira, Walter Siegel

Bass
Fabrice Hayoz, Serafin Heusser, Daniel Pérez, Philippe Rayot, Tobias Wicky

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Petra Melicharek, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó

Viola
Sonoko Asabuki, Sarah Mühlethaler

Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin

Violone
Markus Bernhard

Traversflöte
Yoko Tsuruta, Tomoko Mukoyama

Oboe / Oboe d’amore
Philipp Wagner Laura Alvarado

Fagott
Gilat Rotkop

Cembalo
Thomas Leininger

Orgel
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Rudolf Lutz, Pfr. Niklaus Peter

Reflexion

Referent
Sebastian Kleinschmidt

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
26.11.2021

Aufnahmeort
St. Gallen (Schweiz) // Olma-Halle 2.0

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Erste Aufführung
11. August 1726, Leipzig

Textdichter
Micha 6, 8 (Satz 1); Matthäus 7, 22–23 (Satz 4); Johann Heermann (Satz 7); Unbekannt (Sätze 2, 3, 5, 6)

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Chor

«Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.»

1. Chor

Ein vielstimmig gesungener und aufgefächerter Vers, mit dem der Prophet Micha eine Klage- und Gerichtsrede Gottes zusammenfasst, eröffnet den ersten Teil dieser Kantate: «Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.» (Micha 6, 8). Mit dem knappen Dictum korrespondiert eine erstaunlich aufwendige Komposition, die bereits in der Orchestereinleitung zwei später textierte kontrastreiche Motive einander gegenüberstellt und sich einschliesslich meisterhaft eingeführter raumgreifender Fugen viel Zeit für die immer wieder neue Einschärfung der erzieherischen Botschaft nimmt. Die Tonart E-Dur rückt diese in ein zugleich warmes wie klares Licht.

2. Rezitativ — Tenor

Der Höchste läßt mich seinen Willen wissen
und was ihm wohlgefällt;
er hat sein Wort zur Richtschnur dargestellt,
wornach mein Fuß soll sein geflissen
allzeit einherzugehn
mit Furcht, mit Demut und mit Liebe
als Proben des Gehorsams, den ich übe,
um als ein treuer Knecht dereinsten zu bestehn.

2. Rezitativ

Das Tenor-Rezitativ paraphrasiert zustimmend das Prophetenwort mit dem Verweis auf das biblische Bild vom Knecht, der den Willen seines Herrn kennt (Maleachi 1, 6; Lukas 12, 47) und weiss, dass er dereinst Rechenschaft wird ablegen müssen (Lukas 16, 1–9). Als «Proben» des geforderten Gehorsams werden ein Leben in Gottesfurcht, in Gehorsam und Liebe genannt.

3. Arie — Tenor

Weiß ich Gottes Rechte,
was ists, das mir helfen kann,
wenn er mir als seinem Knechte
fordert scharfe Rechnung an?
Seele! denke dich zu retten,
auf Gehorsam folget Lohn;
Qual und Hohn
drohet deinem Übertreten!

3. Arie

In der Arie hört man jetzt diesen Knecht, der von der Rechenschaftspflicht weiss, wie er sich und seine Seele auffordert, angesichts der drohenden «scharfen Rechnung» durch seinen Gehorsam Rettung und Lohn statt Qual und Hohn zu suchen. Das Wechselverhältnis von demütiger Einsicht in «Gottes Rechte» und kräftigendem Vertrauen wird von Bach auch motivisch eingefangen; der tänzerisch-fasslichen 3 ⁄ 8-Metrik zum Trotz verleiht die Tonart cis-Moll der Arie vor allem im B-Teil einen schimmernd-elegischen Charakter.

4. Arioso — Bass

«Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissaget, haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben? haben wir nicht in deinem Namen viel Taten getan? Denn werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Übeltäter!»

4. Arioso

Der zweite Teil der Kantate vertieft das Thema der «Früchte des Glaubens»: Wortreiches Bekennen, so die klare Warnung dieses im Bass gesungenen Jesuszitates aus der Bergpredigt (7, 22–23), genügt nicht. Nicht jeder, der «Herr, Herr» sage, der in Christi Namen weissage, exorziere, dies und jenes tue, komme ins Himmelreich: Denn es geht um ein Bekennen und Tun aus tiefem Herzen. Wiederum von Streichern begleitet, kommt die A-Dur-Musik dieses zweiten Bibelwortes deutlich energischer daher, ohne je zu eifern: Ein hörbar selbstgewisser Jesus wahrt auch im Gericht die einem Heiland zukommende Contenance.

5. Arie — Alt

Wer Gott bekennt
aus wahrem Herzensgrund,
den will er auch bekennen.
Denn der muß ewig brennen,
der einzig mit dem Mund
ihn Herren nennt.

5. Arie

Dieses Gottesbekenntnis «aus wahrem Herzensgrund» wird nun als Auslegung des BassArioso in der Altarie gegen ein nur verbales Bekennen kontrastiert. Wieder nutzt Bach die Ausweichung in die parallele Tonart fis-Moll zu einem deutlichen Affektwandel. Nur von zarten Flötentönen umspielt, entfaltet die dem Alt übertragene Glaubensaussage innere Eindringlichkeit, die dem hart verdammenden Mittelteil ein Stück seiner Endgültigkeit nimmt.

6. Rezitativ — Alt

So wird denn Herz und Mund selbst von mir Richter sein,
und Gott will mir den Lohn nach meinem Sinn erteilen:
Trifft nun mein Wandel nicht nach seinen Worten ein,
wer will hernach der Seelen Schaden heilen?
Was mach ich mir denn selber Hindernis?
Des Herren Wille muß geschehen,
doch ist sein Beistand auch gewiß,
daß er sein Werk durch mich mög wohl vollendet sehen.

6. Rezitativ

Das Rezitativ hat die Form einer persönlichen Aneignung dieser Botschaft von den Früchten des Glaubens. Nur «Herz und Mund» ohne rechten «Wandel» könne «der Seelen Schaden» nicht heilen, aber, so die tröstliche Wendung, man könne auf Gottes Beistand zählen.

7. Choral

Gib, daß ich tu mit Fleiß,
was mir zu tun gebühret,
worzu mich dein Befehl
in meinem Stande führet!
Gib, daß ichs tue bald,
zu der Zeit, da ich soll;
und wenn ichs tu, so gib,
daß es gerate wohl!

7. Choral

Beim abschliessenden Choral handelt es sich um die 2. Strophe von Johann Heermanns Lied «O Gott, du frommer Gott», ein inniges Gebet zu Gott um Beistand bei der rechtzeitigen Erfüllung der Gottesgebote.

Reflexion

Sebastian Kleinschmidt

BACH IN DER DDR

Facetten eines Problems

«Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist» – könnte ungewollt auch das Motto sein, worüber mich die Stiftung bat, heute hier zu sprechen, nämlich über Bach in der DDR. Die DDR war eine Art Erziehungsdiktatur, ein vormundschaftlicher Staat, und der verkündete ganz ohne Religionsbezug: Es sei dir gesagt, Mensch, was gut ist. Und zwar gesagt durch uns, die neue geschichtliche Macht. Von dem jedoch, wovon im heutigen Kantatentext gesprochen wird, war dabei nicht die Rede, nicht von «Gottes Wort halten», von «Liebe üben» und von «demütig sein». Das konnten Atheisten getrost beiseitelassen. Und damit bin ich beim Thema.

Die DDR war ihrem Selbstverständnis nach ein Kulturstaat, und das von Anfang an. Dazu gehörte, in Sachen Erbe weder eine nihilistische noch eine kulturrevolutionäre Haltung an den Tag zu legen. Nicht dass man keinen eignen Kulturwillen besessen hätte, aber der sozialistische Umbau der Gesellschaft sollte ohne ideologische Verbissenheit vonstattengehen. Man hatte, soweit das Überkommene nicht als Munition im Kampf gegen die philosophischen Ambitionen des neuen Staates genutzt wurde, ein weites Herz und zitierte gern das Goethe-Wort: «Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.»

Bachs Musik war im Prinzip unangefochten. Schliesslich hatte nicht nur Goethe, nicht nur Hegel, sondern auch Marx ihn verehrt. Alle drei bewunderten die Matthäuspassion. Auch von Georg Lukács, dem Lordsiegelbewahrer der kommunistischen Kulturidee, war kein negatives Wort über den Barockmeister bekannt. Und wem das nicht genügte, der konnte sich bei Ernst Bloch vergewissern. Der hielt Bach für einen der Grössten überhaupt, weil er «die gelehrteste und zugleich am tiefsten durchseelte Musik» schuf. Was damit gemeint war, erläuterte der Autor des Prinzips Hoffnung anhand des Ethos- und Affektgehalts von Bachs melodisch-rhythmischen Figuren. «So die Figuren der Mattigkeit, des Schmerzes, des qualvollen wie stolzen, der Freude, der lebhaften wie verklärten, des Schrecks, des Jubels. Eine Ausdrucksskala ohnegleichen reicht bei Bach von Todesangst, Todessehnsucht zu Trost, Zuversicht, Friede, Sieg.»

Peter Schreier, der unvergessliche Tenor aus Dresden, berühmt geworden als Evangelist in Bachs Passionen und Oratorien, sagte nach der Zeitenwende 1989: «Bach wurde in der DDR nicht politisch interpretiert. Man hat versucht, ihn ein bisschen aus der Kirche herauszuholen, aber sonst alles wie anderswo auch behandelt.»

Wie anderswo auch, meinte vermutlich die Aufführungspraxis. Für die Musikforschung galt das nicht in gleicher Weise. Oberster Zweck der Bach‘schen Musik ist erklärtermassen das Lob Gottes. Allein das musste in einem Weltanschauungsstaat wie der DDR mit de facto von Anfang an bestehender und später auch verfassungsrechtlich verbriefter «führender Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei» zum Problem werden. Und wurde es auch.

Nehmen wir die deutsche Bach-Feier vom 23.‒26. Juli 1950 in Leipzig. Anlässlich des 200. Todestages fand in der musikfrohen Stadt eine grosse Bachtagung statt, mit namhaften Gelehrten aus beiden deutschen Staaten. Es dauerte nicht lange, bis die Kontroverse ausbrach. Die eine Seite, nennen wir sie die vertikale westdeutsche, betonte die Gottinnigkeit der Bach‘schen Musik, die andere, die horizontale ostdeutsche, konnte den Gottesbezug zwar nicht bestreiten, wollte ihn aber relativieren. An der Wort- und Themengebundenheit von Bachs Vokalwerken liess sich zwar nicht rütteln, aber den in den meisten Fällen damit gegebenen religiösen Gehalt konnte man schliesslich so oder so interpretieren, entweder theologisch von innen oder nichttheologisch von aussen. Es darf daran erinnert werden, dass sich Marx und Engels als dezidiert theologie- und kirchenfeindlich verstanden und nicht umsonst über ein beachtliches Arsenal elaborierter religionskritischer Begriffe verfügten. Denken wir nur an das berühmte «Religion ist Opium des Volkes».

Der heikle Punkt klang auch in zwei Reden auf der Bach-Nationalfeier wenige Tage später an. Wilhelm Pieck, der Staatspräsident, sagte über den Komponisten: «In seinen Werken leidet, triumphiert und singt nicht nur der zeitgebundene religiöse Mensch.» Und fuhr fort: «Die umwälzende Tat Bachs bestand darin, dass er die Musik aus den Fesseln der mittelalterlichen Scholastik löste und alte Bindungen brach.» Bach war es, «der als Erster der Musik den tiefen menschlichen Gehalt gibt, der sie mit dem ganzen Volke verbindet. Deswegen spielen Volksmusik, Volkslied und Volkstanz in Bachs Werk eine so grosse Rolle (…) Dieser humanistische fortschrittliche Inhalt des Bach‘schen Werkes wurde bisher bewusst verschwiegen oder unterdrückt.» Pieck meinte nicht das Dritte Reich, er meinte Westdeutschland.

Wir sehen, kein Wort über das Christentum, kein Wort über Luther, kein Wort über Frömmigkeit. Das Religiöse wurde im Humanen gleichsam zum Verschwinden gebracht. Das war übrigens die Methode Feuerbachs, auf den sich Marx stützte. Indem er, Ludwig Feuerbach, in seiner Deutung des Christentums Theologie durch Anthropologie ersetzte, löste er die Überwelt in Luft auf und machte den religiösen Glauben schlichtweg gegenstandslos.

Nach Wilhelm Pieck sprach der Komponist Ernst Hermann Meyer. Er sagte: «Die Bachdeutung hat trotz intensiver und fruchtbarer wissenschaftlicher Forschungstätigkeit durch Männer wie Spitta, Schweitzer und andere vor allem daran gelitten, dass zahlreiche Theoretiker trachteten, den grossen Tonmeister als einen Menschen zu erklären, dessen Geist nur im Jenseits beheimatet war; man versuchte sein Werk zu einem Hort der Mystik und der Weltflucht zu machen.»

Damit war die Frontlinie markiert. Es war dieselbe wie die während der musikwissenschaftlichen Konferenz ein paar Tage zuvor. Der Freiburger Forscher Wilibald Gurlitt hatte den Hauptvortrag gehalten. Was das Religiöse an Bach betraf, sagte er: «Johann Sebastian Bachs religiöse Grunderfahrung von Musik und Musizieren ist (…) keine private Angelegenheit des Komponisten, sondern eine für sein Schaffen und sein Werk verbindliche. Sie lenkt den Blick von den sinnfälligen Erscheinungen auf die letzten Dinge. Jene Grabes- und Himmelsbereitschaft, jene Abend- und Sterbestimmung, wie sie sich in den Klängen der Bach‘schen Kantaten und Passionen, Motetten und Gesänge ausbreitet, hat nichts mit Welt- und Daseinsflucht, nichts mit modernem Weltschmerz oder Nihilismus zu tun. Sie wurzelt vielmehr in dem gläubigen und getrosten Wissen um die christliche Wahrheit und Wirklichkeit einer väterlichen göttlichen Hand, die allgegenwärtig Ordnung stiftend in unser Leben eingreift.»

Als es zur Diskussion kam, entgegneten Georg Knepler, Ernst Hermann Meyer und Harry Goldschmidt mehr oder weniger vehement. Goldschmidt sagte: «Was mich an Gurlitts Vortrag vor allem verwundert hat, ist die theologische Zuspitzung seiner Betrachtungsweise. Aus einem theologischen Grundgefühl soll Bach sein Gesamtwerk konzipiert haben. Niemand wird bestreiten, dass Bach ein frommer und bibelfester Mann gewesen ist. Chubow (ein sowjetischer Musikhistoriker – S.K.) hat jedoch gezeigt, dass die Religiosität Ausdruck einer gesellschaftlichen Not war. Er verwies auf Engels, nach dem die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen jener Zeit sich nicht anders abspielen konnten als in christlichem Gewand. (…) Wir müssen deshalb die Religiosität Bachs gesellschaftlich begreifen.»

Von da war es nicht mehr weit bis zu Knepler, der nicht nur seinen legitimen atheistischen Ehrgeiz darein legte zu beweisen, dass man weder biographisch noch musikalisch das Recht habe, «Bach ausschliesslich der Kirche zu reservieren», sondern in der Aussprache rundheraus erklärte: «Den Ausgangspunkt zur Erforschung irgendeiner Weltanschauung, auch der Bachs und seiner Zeitgenossen, bieten die Werke von Marx und Engels. (…) Den Schlüssel zur richtigen Beurteilung Bachs bietet allein die Gesellschaftswissenschaft.»

Da ist sie wieder, die forciert antitheologische Tendenz derer, die sich als Streiter für ein neues, diesseitigeres Bachbild verstanden. Jede Revolution lebt vom antireligiösen Eifer ihrer Anhänger. Und die von der Roten Armee besetzte DDR war hervorgegangen aus einer Revolution, wenn auch einer sowjetisch befohlenen. Bertolt Brecht sagte, besser eine befohlene als gar keine. Aber die andere Seite kapitulierte nicht. Der hessische Theologe und Bachforscher Walter Blankenburg erklärte in der Diskussion: «Die erste Forderung ist doch wohl die, dass wir es Bach schuldig sind, sein Jesu Juva und Soli Deo Gloria ernst zu nehmen. Wenn wir das nicht tun, stehen wir vor der Frage, ob wir Bach überhaupt ernst nehmen.»

Wir sehen, wie stark die missionarische Rivalität zwischen Christen und Marxisten damals war. Die einen wissen um ihren Glauben, die anderen glauben an ihr Wissen. Als wären sie spirituelle Konkurrenten, Antagonisten der Verkündigung. Reich Gottes und Heiliger Geist auf der einen, Kommunismus und wahre Gesellschaftswissenschaft auf der anderen Seite.

Hätte die säkulare Fraktion auf Bloch gehört, wäre der Streit nicht so scharf ausgefallen. Schon in seinem Erstling, dem Geist der Utopie von 1918, sprach er von Bachs «Expressivbarock», was meinte, «barock in der jähen Peripetie, barock vor allem im aufgewühlten christlichen Gefühlsinhalt». In Bachs Musik werde ein «geistliches Ich» gegenständlich, im Unterschied zum «weltlichen Ich» bei Mozart. «Wie Mozart auf eine bewegte Art, leicht, frei, beschwingt, gelöst und glänzend die Gefühle klingend machte, so zeigt Bach auf gemessenere Art, schwer, eindringlich, gebunden, hart rhythmisierend, glanzlos tief das Ich und sein emotionales Inventar.»

Die Stelle erinnert mich an eine Formulierung des Philosophen Isaiah Berlin: «Wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander spielen sie Mozart.»

Bloch hatte es nicht nötig, bei Bach vom ‹religiösen Gewand›, von ‹religiöser Umhüllung‘› zu sprechen, die dann gut aufklärerisch als Diesseitshumanismus entschleiert wird. Bloch sagte: «Es ist das von innen her erleuchtete Gehäuse des christlichen Tunwollens, in dem Sinn, dass die Bach‘sche Musik das Ringen um das Heil der Seele zum Ausdruck hat…»

Der Satz passt auch zur heutigen Kantate. «Seele! Denke, dich zu retten», heisst es in der Tenorarie. Und die Altstimme im Rezitativ mahnt diejenigen, die Gottes Wort nicht halten: «Wer will hernach der Seelen Schaden heilen?»

Den frühen Bloch kannten die damaligen Marxisten nicht. Geist der Utopie ist in der DDR nie erschienen. Ob das Buch in die atheistische Theokratie der jungen DDR gepasst hätte, darf bezweifelt werden. Man muss nur an das Kapitel denken, das da hiess: «Karl Marx, der Tod und die Apokalypse».

Apokalypse sollte nicht das letzte Wort sein beim Thema Bach in der DDR, obwohl so mancher Parteigänger des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden dessen Untergang als apokalyptisch empfunden haben dürfte. Hätte ihm Bach Trost spenden können? Bachs ergreifende kantable Melodiesprache? Bach, der Dombaumeister des hohen und tiefen Klangraums? Die Antwort, die ich geben möchte, hätte im Leipziger Streit von damals bei gutem Willen zur Annäherung führen können, nämlich: Es braucht nicht das christliche Bekenntnis, um zu erleben, dass Bachs Musik ein Reich der Gnaden ist.

«Wo sind wir, wenn wir Musik hören?», hat Peter Sloterdijk einmal gefragt. Er meinte nicht, im Konzertsaal oder in der Kirche. Er meinte, wo wir geistig sind. Auf Bach gemünzt bin ich geneigt zu sagen: Im Himmel – mit Gedanken an die Erde. Auf Erden – mit Gedanken an den Himmel. In der Ewigkeit – mit Gedanken an das Jetzt. Im Jetzt – mit Gedanken an die Ewigkeit. In Gottes Brust – mit Gedanken an die Menschen. In der Menschen Brust – mit Gedanken an Gott.

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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