Ich geh und suche mit Verlangen

BWV 049 // zum 20. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran und Bass, Oboe d’amore, Violoncello piccolo, Orgel, Streicher und Basso continuo

Wiederum eine Cantata «in dialogo», die im innigen Zwiegespräch von Sopran und Bass die Liebeslyrik des alttestamentarischen Hoheliedes zum Ausdruck jener Vereinigung von Seele und Heiland heranzieht, die im Abendmahl sowie der gläubigen Annäherung an Christus sinnliche Gestalt annimmt. Wie der Komponist hier die menschliche Natur durch die unverstellte Begegnung mit Gott «herrlich und schön» werden lässt, ist von ebenso berührender emanzipatorischer Kraft, wie die Kombination von Choral, Bibeltext und sinnfällig eingesetztem Orgelspiel der Komposition Züge einer die heilige Musik feiernden Cäcilienode verleiht. Dazu passt die vorgeschaltete Sinfonia, die Bach später als Schlusssatz in das Konzert für Cembalo und Orchester E-Dur BWV 1053 aufnahm.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 49

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Werkeinführung
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
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Akteure

Solisten

Sopran
Nuria Rial

Bass
Sebastian Noack

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Claire Foltzer, Olivia Schenkel, Marita Seeger, Salome Zimmermann

Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann

Violoncello
Martin Zeller, Hristo Kouzmanov

Violoncello piccolo
Martin Zeller

Violone
Markus Bernhard

Oboe d’amore
Philipp Wagner

Fagott
Susann Landert

Organo Obbligato, Orgel
Jörg Andreas Bötticher

Cembalo
Nicola Cumer

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Karin Scheiber

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
27.10.2017

Aufnahmeort
Trogen AR (Schweiz) // Evangelische Kirche

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter
unbekannter Verfasser

Erste Aufführung
20. Sonntag nach Trinitatis,
3. November 1726

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Zum 20. Sonntag nach Trinitatis 1726 erstaufgeführt, gehört BWV 49 zu jener Handvoll Kantaten, denen Bach durch die Mitwirkung einer obligaten Orgel einen besonderen Klangcharakter und Bewegungsimpuls verliehen hat. Die Hinzuziehung einer Oboe d‘amore darf dabei angesichts der zugrunde liegenden Hohelied-Thematik als emblematische Geste gelten, die zudem das Registerspektrum der ebenfalls blasenden Orgel erweitert.

Das Potential eines solistischen Tasteninstrumentes hat Bach gleich in der Sinfonia genutzt, die auf eine Vorlage zurückgeht, die er später für den Finalsatz seines Cembalokonzertes BWV 1053 erneut heranzog. Im strahlenden E-Dur und beschwingten Walzertakt aufsteigender Dreiklänge scheinen die von der Oboe verstärkten Streicher in Vorfreude auf das königliche Hochzeitsmahl des Sonntagsevangeliums förmlich zu tanzen, während die souveränen Figurationen der Orgel dem Satz einen äusserst aufgeräumten Charakter verleihen – als wollte der fromme Jazzpianist Bach zeigen, dass man Gott loben und dabei erstaunlich cool rüberkommen kann.

Auch die Bassarie lässt die Orgel hervortreten, wobei sie neben der Generalbassstütze der linken Hand mit der Rechten eine Solostimme realisiert, in deren schweifenden Gesten man jenes «verlangende Suchen» erkennen kann, das die Singstimme als Verkörperung Jesu durch den gesamten Satz trägt. Im Wechsel von gesungenen Impulsen und lauschenden instrumentalen Fortspinnungen wird das rufende Fragen des Heilands mit einer szenischen Präsenz aufgeladen, die jeder Hörende auf sich beziehen kann.

Das folgende Rezitativ führt in schimmerndem Streichersatz jenen «Dialog» herbei, den die Kantate als formgeschichtlichen Typus im Titel führt. Jesus als Basssolist verknüpft dabei die Einladung zur Hochzeitstafel mit der Enthüllung seiner Identität als Seelenbräutigam; wie die beglückte Sopranstimme ihre Erwählung kaum fassen kann und sich die beiden Protagonisten in immer gelösterem Zwiegesang einander nähern, ist von zarter Unmittelbarkeit. Bachs sensibler Realismus setzt sich in der Sopranarie fort. Die der eigenen Reflexion überlassene Braut begreift Jesu Werben als umfassende Bejahung ihres Wesens: Sie ist «herrlich und schön», weil sie geliebt wird – eine befreiende Erkenntnis, die dank der von Violoncello piccolo und Oboe d’amore apart gewirkten Klangfäden des tönenden Hochzeitskleides viel glaubwürdiger daherkommt als die biedermeierlichen Rollenklischees, die ein Jahrhundert später Robert Schumanns textlich ähnlich disponiertem Liederzyklus «Frauenliebe und -leben» zugrunde lagen. Die in Bachs Zeit bereits traditionsschwere Jesusminne verliert hier alle pietistische Verkopftheit und wird zu jenem Quell sinnlicher Lebensbejahung, die nicht das geringste Geschenk des die Mauern von Kloster und Leibfeindschaft sprengenden ehemaligen Mönches Martin Luther an seine Kirche darstellt. Dass Oberstimmen und Sopran synkopisch und damit gefühlt «zu früh» einsetzen, verleiht dieser gerechtfertigten Selbstfeier einen ungeduldigen Charme. Man möchte sich eine junge Frau wie Bachs Anna Magdalena vorstellen, die sich voller Freude vor dem Spiegel dreht und nicht ohne Stolz ihre jüngste Eroberung zelebriert, auch wenn der Mittelteil diese Dimension auf eine mehr geistliche Interpretation zurückführt («seines Heils Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid»).

Die auf den Himmel bezogene Verabredung der beiden Liebenden wird im folgenden Rezitativ bekräftigt. Aus dem Hochzeitsfest ist das «Erlösungsmahl» geworden, das sich die Seele durch ihre Entscheidung verdient hat. Kaum je klang ein Glaubensbekenntnis zugleich so zart wie entschlossen als das berührende «Hier komm ich, Jesu, laß mich ein»; dass der jetzt mehr als geistlicher Familienvater agierende Heiland darauf mit der Verheissung einer den Tod überdauernden Lebenskrone antwortet, führt die Kantate inhaltlich bereits an ihr Ziel.

Bach und sein Librettist Birkmann aber tischen noch eine köstliche Nachspeise auf, die erneut die solistische Orgel aufs Tablett bringt. In tänzerischem 2 4 -Takt und von getupften Orchesterakkorden getragen, exponiert sie eine Oberstimme voll feierlichem Stolz und flirrender Ekstase. Wenn dann zum die Prophetie des Alten Testamentes einbeziehenden Geständnis des Heilands «Ich hab dich je und je geliebet» der Sopran mit dem zeilenweisen Vortrag der Choralstrophe «Wie bin ich doch so herzlich froh» hinzutritt, wird aus dem zuweilen etwas weihnachtsmatten «Morgenstern»-Lied Philipp Nicolais jene eschatologische Verzückung, die es eigentlich immer meinte. Generationen von Theologen und Philosophen haben sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Hohelied Salomonis oft vergeblich daran abgearbeitet, wie man sinnliches Begehren in spiritueller Vergeistigung aufgehen lassen kann, ohne dass es seine Körper und Geist verzaubernde Präsenz verliert. Dem lebens- und liebeskundigen Klangmagier Bach gelingt dies in seinem «Concerto für Organo amoroso» hingegen mühelos; man möchte sowohl in das kosende «Amen» des Soprans wie auch das zutrauliche «Ich komme bald» des Basses einstimmen. Tun wir es doch einfach!

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

Der Text dieser ausdrücklich als Dialogus betitelten Kantate ist gestaltet als Gespräch zwischen Christus und der gläubigen Seele. Als Vorlage dienen Ab- schnitte aus dem Hohelied Salomos. Diese altisraelitische Liebesdichtung ist schon in altkirchlicher Zeit umgedeutet worden als Zwiesprache Christi als Bräutigam mit der Seele als Braut. Der unbekannte Textdichter verbindet diese Gedanken mit einzelnen Teilen aus dem Evangelium des Sonntags, dem Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl aus Matthäus 22.

1. Sinfonia

1. Sinfonia
Bach hat dieser mit nur zwei Singstimmen intim besetzten Kantate im Gegenzug eine durch ihre aufsteigende Dreiklangsthematik und das leuch­tende E-Dur besonders prächtige Sinfonia vorangestellt, die im beschwingten Dreiertakt das lieto fine der geglückten Vereinigung von Seele und Heiland bereits vorwegnimmt. Es handelt sich dabei um einen wohl auf eine Köthener Vorlage zurückgehenden Konzertsatz, der in Bachs späterer Leipziger Zeit (ohne mitlaufende Oboe d’ amore) als Schlusssatz in das Cembalokonzert E-Dur BWV 1053 einging. Indem Bach bereits in dieser Sinfonia die Orgel solistisch hervortreten lässt, bereitet er den Boden für die prominente Behandlung dieses üblicherweise als Continuobegleiter eingesetzten Instrumentes in der gesamten Kantate.

2. Arie (Bass)

Ich geh und suche mit Verlangen
dich, meine Taube, schönste Braut.
Sag an, wo bist du hingegangen,
daß dich mein Auge nicht mehr schaut?

2. Arie
Sätze aus dem Hohelied sind umgedeutet worden als Worte Christi. «Taube» ist hier ein Kosename für die Braut. Anders als in vielen vom Hohelied inspirierten Vertonungen ist es hier der Heiland, der zuerst auftritt und die gläubige Seele mit brennendem Verlangen sucht. Die feingliedrige Orgelpartie mit ihren flirrenden Triolen und ihrer ausgreifenden Harmonik taucht die kantable Solostimme in ein geheimnisvoll-unwirkliches Licht.

3. Rezitativ (Duett Sopran, Bass)

Bass
Mein Mahl ist zubereit’
und meine Hochzeittafel fertig,
nur meine Braut ist noch nicht gegenwärtig.
Sopran
Mein Jesu redt von mir;
o Stimme, welche
mich erfreut!
Bass
Ich geh und suche mit Verlangen
dich, meine Taube, schönste Braut.
Sopran
Mein Bräutigam, ich falle dir zu Füßen.
Sopran, Bass
Komm, Schönste, komm und laß dich küssen,
Bass
du sollst mein fettes Mahl genießen
Sopran
laß mich dein fettes Mahl genießen
Bass
Komm, liebe Braut, und eile nun,
Sopran
Mein Bräutigam, ich eile nun,
Sopran, Bass
die Hochzeitskleider anzutun.

3. Rezitativ
Die ersten Sätze dieses Dialogs erinnern an die geladenen Gäste aus dem Gleichnis. Das Hochzeitsmahl ist bereit, aber die Gäste wollen der Einladung nicht folgen. Das mit begleitenden Streichern ausstaffierte Accompagnato beginnt in feierlichem Tonfall, der sich durch das verwandelte und um Orchesterstimmen bereicherte Wiederaufgreifen des flüssigen Ariengestus der Nummer 2 in ein wohlklingend zugewandtes Duettieren auflöst.

4. Arie (Sopran)

Ich bin herrlich, ich bin schön,
meinen Heiland zu entzünden.
Seines Heils Gerechtigkeit
ist mein Schmuck und Ehrenkleid;
und damit will ich bestehn,
wenn ich werd in Himmel gehn.

4. Arie
Der Text übernimmt teilweise die Kirchenlied­strophe: «Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn» (Leipzig 1638). Diese gründet sich auf die Stelle Jesaja 61, 10: «Gott kleidet mich mit Gewändern des Heils und umhüllt mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit, gleich dem Bräutigam, der sich den Kopfschmuck aufsetzt, und wie die Braut, die ihr Geschmeide anlegt.» Bach hat für den ausserordentlichen Moment, in dem die fehlbare Menschenseele sich in der Nähe Christi angenommen sieht, eine höchst ungewöhnliche Klangkombination aus warm timbrierter Oboe d’amore, hochliegendem Violoncello piccolo, Sopran und Continuo gewählt. Offenbar geht es ihm um eine maximale Lieblichkeit, in der der ganze Stolz und das kaum fassbare Glück erfüllter und erwiderter Liebe hörbar werden. In der fugierten bzw. kanonischen Führung der beiden Instrumentalstimmen werden dabei zugleich die enge spirituelle Verbundenheit wie der Gedanke der Nachfolge Christi hörbar, den der Bass im abschliessenden Duett aufgreifen wird.

5. Rezitativ (Duett Sopran, Bass)

Sopran
Mein Glaube hat mich selbst so angezogen.
Bass
So bleibt mein Herze dir gewogen,
so will ich mich mit dir
in Ewigkeit vertrauen und verloben.
Sopran
Wie wohl ist mir!
Der Himmel ist mir aufgehoben,
die Majestät ruft selbst und sendet ihre Knechte,
daß das gefallene Geschlechte
im Himmelssaal
bei dem Erlösungsmahl
zu Gaste möge sein.
Hier komm ich, Jesu, laß mich ein!
Bass
Sei bis im Tod getreu,
so leg ich dir die Lebenskrone bei.

5. Rezitativ
Das Bild von der Verlobung stammt vom Prophe­ten Hosea (2, 19): Gott werde sich mit seinem Volke verloben wie der Bräutigam mit seiner Braut. Die vom König ausgesandten Knechte erinnern nochmals an das Gleichnis aus dem Evangelium. Das Rezitativ schliesst mit einem Christuswort aus der Offenbarung des Johannes (2, 10).

6. Arie mit Choral (Deutt Sopran, Bass)

Dich hab ich je und je geliebet,
Wie bin ich doch so herzlich froh,
Dass mein Schatz ist das A und O,
Der Anfang und das Ende.
Und darum zieh ich dich zu mir.
Er wird mich doch zu seinem Preis
Aufnehmen in das Paradeis;
Des klopf ich in die Hände.
Ich komme bald,
Amen! Amen!
Ich stehe vor der Tür,
Komm, du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange!
Mach auf, mein Aufenthalt!
Deiner wart ich mit Verlangen.
Dich hab ich je und je geliebet,
Und darum zieh ich dich zu mir.

6. Arie mit Choral
In die Schlussstrophe des Morgensternliedes von Philipp Nicolai (1599) hat der Dichter biblische Zitate eingefügt: «Dich habe ich je und je geliebet, und darum ziehe ich dich zu mir», steht bei Jeremia (31, 3). Die Zitate «Ich komme bald» und «Ich stehe vor der Tür» sind der Offenbarung ent­nommen (22, 20 und 3, 20). Bach hat die Herausforderung einer Verknüpfung von Choralbearbei­tung und freiem Bibeltext souverän aufgegriffen und beide Textebenen durch die Einbettung in einen tänzerischen Konzertsatz für Orgel und Orchester um ein autonomes instrumentales Moment bereichert, das zugleich die Brücke zur einleitenden Sinfonia schlägt. Wie Bach diesen gleichermassen altehrwürdigen wie sensiblen Textschichten durch das solistische Orgelspiel eine handfest persönliche musikantische Signatur unterlegt, ist von grosser Kühnheit und Meisterschaft.

Reflexion

Karin Scheiber

Mystik und Erotik

In der erotischen Liebe die Gottesliebe entdecken – was sich von der mystischen Erfahrung her nahelegen könnte – verbietet sich die Kantate «Ich geh und suche mit Verlangen» (BWV 49). Stattdessen schlägt sie, der Tradition der Brautmystik folgend, den Weg einer allegorischen Deutung ein. 

Die Kantate «Ich geh und suche mit Verlangen» (BWV 49) mutet uns die Auseinandersetzung mit der Tradition der Brautmystik zu. Im mystischen Erleben wird die scharfe Grenze zwischen Gott und mir, zwischen Schöpfer und Schöpfung aufgehoben, wird nicht die Asymmetrie, der Abstand, die Differenz empfunden, sondern die Verbindung, die Vereinigung, die All-Einheit. Das lässt sich nicht theologisch-dogmatisch festschreiben und auch lebenspraktisch lässt es sich nicht festhalten. Es bleibt ein momentanes Erleben, wird nie Zustand oder Gewohnheit. Als Moment aber, intensiver, gefüllter Moment, steht er ausserhalb der Zeit, ist das, was wir mit dem Evangelisten Johannes oder mit Søren Kierkegaard «Ewigkeit» nennen können.
Den institutionellen Hütern des rechten Glaubens war und ist die Mystik in allen Religionen und zu allen Zeiten ungeheuer. Ihr Individualismus, die Unmittelbarkeit ihres Zugangs zum Göttlichen, ihre Affektivität und Nicht-Domestizierbarkeit wecken Argwohn bei jenen, die gerne wissen und andern vorschreiben, was Sache ist, was richtig und was falsch.
In der Brautmystik findet das mystische Erleben seine Bildgestalt in der liebenden Vereinigung zwischen Braut und Bräutigam. Der Text der Kantate steht einerseits klar in dieser Tradition, weist zugleich aber charakteristische Eigenheiten auf. Wir haben die für die Brautmystik typische Rede von Braut und Bräutigam mit der Rollenzuweisung an die menschliche Seele und Jesus Christus, die Rede ist von Verloben und Hochzeit, Lieben und Küssen, wir finden diverse Anspielungen ans Hohelied, die biblische Inspirationsquelle christlicher Brautmystik schlechthin. Im Vergleich zu anderen Texten aus der Brautmystik ist dieser hier aber auffallend gemässigt, was die erotische Metaphorik angeht: Weiter als bis zum Küssen kommt das Brautpaar nicht, End und Zielpunkt ist das Hochzeitsmahl, nicht die Hochzeitsnacht. Ausserdem finden wir dogmatische Wendungen, welche die Poesie des Ganzen stören und brechen, wenn es etwa heisst «Seines Heils Gerechtigkeit ist mein Schmuck und Ehrenkleid» oder «Mein Glaube hat mich selbst so angezogen», oder wenn vom «gefallenen Geschlechte» die Rede ist. Das riecht – um nicht zu sagen: stinkt – ganz danach, hier werde der kirchlichen Zensur Genüge getan dadurch, dass in deren Augen möglicherweise Anstössiges weggelassen oder durch Anspielungen auf das Lehrsystem der altprotestantischen Orthodoxie abgefedert wird.
Das Bemühen, die ungestüme Kraft der erotischen Gottes-Rede – einer erotischen Theo-Logie – zu bändigen, finden wir in etwas anderer Gestalt auch in den anderen grossen Strömungen des Christentums. Zwar endet etwa bei Bernard, dem Mystiker und Kreuzzugsprediger aus dem Zisterzienserkloster in Clairvaux, die Vereinigung von Braut und Bräutigam nicht bereits mit dem Kuss, dafür wird er nicht müde, explizit zu allegorisieren, damit ja niemand auf falsche Gedanken komme: Es gehe nicht um Mann und Frau, sondern das Wort und die Seele, nicht um sinnliche Empfindung, denn diese sei im Verkehr mit Gott stumm und taub, der Kuss sei der Heilige Geist, die Lippen der Braut seien Wille und Verstand, ihre Empfängnis die Eingiessung der Gnade, das Kind, das sie gebiert, gerettete Seelen und geistliche Erkenntnisse.
In der Ostkirche wiederum kann Gregor von Nyssa im vierten Jahrhundert in seiner Auslegung des Hohenliedes «in höchst bildhafter und erotisierter Sprache den Aufstieg der Seele in die Intimität mit dem Leben der Trinität» (Coakley) beschreiben, aber damit verbindet sich nicht etwa eine theologische Anerkennung oder gar Aufwertung menschlicher Sexualität, vielmehr steht die erotisch gefärbte Gottesschau ganz im Dienste der Sublimierung menschlicher Neigungen. So schreibt Gregor: «Wir sollen daraus lernen, daß die Seele, die ihren Blick auf die unzugängliche Schönheit der göttlichen Natur heftet, diese so sehr lieben muß, wie ein Leib sich zum vertrauten und verwandten hinneigen kann, während sie die sinnliche Leidenschaft ins geistig-Unleidende verwandelt und so, vom Feuer durchglüht, das der Herr auf die Erde zu werfen kam, alle leiblichen Neigungen erstickt, daß nur noch der Geist in uns für den alleinigen Geist in Liebesleidenschaft lebt.» Heute ist man sich weitgehend darin einig, im biblischen Hohenlied ein weltliches Liebeslied zu sehen, das die erotische Liebe zwischen Mann und Frau besingt. Die Tradition der Brautmystik deutet es geistlich als Allegorie für die Liebe zwischen Gott und Mensch. Durch die ständige Betonung des allegorischen Charakters wird die Chance verpasst, in der menschlichen, irdischen, erotischen Liebe das Göttliche zu entdecken. Wenn es im ersten Johannesbrief heisst «Gott ist Liebe», ist mit dem griechischen Wort αγαπη (agape) die karitative Nächstenliebe angesprochen. Aber ist die Gottesliebe nur in dieser Dimension von Liebe gegenwärtig? Wenn zwei Menschen sich der gegenseitigen erotischen Anziehungskraft hingeben, die Macht des Begehrens und Begehrtwerdens erfahren («Ich geh und suche mit Verlangen»), des Berührens und Sich-berühren-Lassens an Leib und Seele, dann können sie die Erfahrung machen, dass der sogenannte Höhepunkt nicht der Gipfel der Aktivität, der Kontrolle, der Leistung, der Selbstund Fremdbeherrschung ist, sondern gerade dessen Gegenteil: die Ekstase, das aus sich Heraustreten, die radikale Selbstpreisgabe gegenüber dem andern, das rückhaltlose Sichfallenlassen. Letzteres würde eher die Metapher des Tiefpunktes nahelegen. Dass wir dennoch vom Höhepunkt statt von Tiefpunkt sprechen, bewahrt etwas vom paradoxalen Charakter der erotischen Liebe. Gerade darin hat sie aber viel gemein mit der mystischen Gotteserfahrung, die den grössten Gewinn darin sieht, sich selbst zu verlieren.
Das ist keine Allegorese, sondern ein gemeinsamer Wesenszug der mystisch erfahrenen Gottesliebe und der erotischen Liebe. Ich sage das nicht, um in unserer sexversessenen Zeit Religion durch die Hintertür wieder salonfähig zu machen – denn was für ein Salon wäre das, in den man durch die Hintertür gelangt? Wohl am ehesten ein Massagesalon. Nein, mir geht es vielmehr um ein Neubedenken der Religion wie auch der erotischen Liebe.
Ein auffallendes Merkmal unserer Zeit ist die gewaltige Kluft zwischen dem Bild von Sexualität, das in Werbung, Filmen, Musik, Magazinen und Selbstdarstellungen von Stars und Sternchen vermittelt wird, einerseits und wissenschaftlichen Untersuchungen und Befragungen zum real existierenden Liebesleben andererseits. Für diese Kluft gibt es gewiss mehr als nur einen plausiblen Erklärungsansatz. Einer scheint mir in unserem Zusammenhang jedoch von besonderem Interesse. Das in der Öffentlichkeit transportierte Bild verkehrt die erotische Liebe in sexuellen Hochleistungssport. Dass dies nicht zu einer Vertiefung und Intensivierung des Liebeslebens führt, braucht uns nicht zu erstaunen, wenn wir uns den paradoxalen Charakter des Höhepunktes als Tiefpunkt klar gemacht haben. In der Plakativität der Höhepunkthaftigkeit, in der Leistungsbezogenheit und Selbstfixiertheit heutigen Sex-Talks wird das systematisch verdunkelt und ausgeblendet.
Wie anders dagegen das Hohelied! Hier jagt nicht ein Höhepunkt den nächsten. Es spricht vom Suchen und Finden, vom wieder Verlieren und erneutem Suchen, von der Wärme und vom Schmerz der Glut des Verlangens. Mit der Schönheit der Sprache, der Worte, der evozierten Bilder sucht es der Schönheit des oder der Geliebten und der Liebe gerecht zu werden, während unserem heutigen Sprechen oft nur die Alternative «vulgär oder technisch» offen zu stehen scheint.
Die unterschiedlichen allegorisierenden Auslegungen, und insbesondere die zu Prüderie und Dogmatismus neigende Variante des Kantatentextes, lassen eine Angst gegenüber der unbändigen Macht des Erotischen erkennen. Oder ist es eine Angst gegenüber der unbändigen Macht der Gottesliebe, in welcher ihrer vielen Gestalten auch immer? Können wir, wenn wir die heutige religiöse Landschaft in unseren Breitengraden betrachten, nicht bemerkenswerte Parallelen zur sexuellen Landschaft entdecken? Eine betrübliche Flaute in den etablierten Betten einerseits und eine an Pornografie und Prostitution grenzende Selbstvermarktung andererseits?
Beidem liegt dasselbe Domestizierungsbestreben zugrunde, die Angst, sich fallenzulassen, sich hinzugeben, sich von der Macht Gottes ergreifen zu lassen, den Tiefpunkt eigener Leistung und Kontrolle als Höhepunkt göttlicher Liebe zu erfahren.
Ich propagiere damit keine Gleichsetzung von erotischer Liebe und Gottesliebe. Eros ist kein Gott, wir brauchen ihm nicht zu huldigen. Wir brauchen ihn aber auch nicht zu dämonisieren. Die erotische Liebe ist störungsanfällig, sie kann missbraucht, entstellt und pervertiert werden, gewiss. Aber ebenso gewiss gilt dies nicht nur für die erotische Liebe, sondern für alles Lieben, auch die Nächstenliebe, und überhaupt alles, womit Menschen in Berührung kommen.
Wenn sich zwei Menschen in tiefer gegenseitiger Liebe einander hingeben mit Haut und Haar und eine Macht erfahren, die mehr ist als die Macht des Ich oder des Du, und auch mehr als die Macht des Ich und Du, und sich darin fallenlassen und getragen erfahren können, ist dies nicht nur ein Bild oder eine Allegorie für die Gottesliebe. Gott scheut sich nicht davor, uns seine Liebe in menschlicher Gestalt zu erweisen und sich dabei der Möglichkeit tiefgreifender Missverständnisse auszusetzen – das gehört zu den Grundaussagen des christlichen Glaubens. Selbstverständlich darf man das Hohelied allegorisch lesen. Wenn ich es theologisch lese, dann als Einladung, in allem menschlichen Lieben die Gottesliebe zu entdecken, anders gesagt: ihre Inkarnation.

Literatur
• Sarah Coakley: «Personen» in der «sozialen» Trinitätslehre. Analytische Diskussion heute und die «kappadozische» Theologie, in: dies.: Macht und Unterwerfung. Spiritualität von Frauen zwischen Hingabe und Unterdrückung, aus dem Englischen übers. v. Geiko Müller-Fahrenholz, Gütersloh 2007, S. 147–169, hier S. 166.
• Peter Dinzelbacher: Bernhard von Clairvaux. Leben und Werk des berühmten Zisterziensers, 2. Aufl., Darmstadt 2012, S. 181.
• Gregor von Nyssa: Der versiegelte Quell. Auslegung des Hohen Liedes, hrsg. v. Hans Urs von Balthasar, 2. Aufl., In Kürzung übertragen und eingeleitet von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 1954, S. 34 (meine Hvh.).

 

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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