Wo soll ich fliehen hin
BWV 005 // zum 19. Sonntag nach Trinitatis
für Sopran, Alt, Tenor und Bass, Vokalensemble, Oboe I+II, Tromba da tirarsi, Streicher und Basso continuo
Die Kantate «Wo soll ich fliehen hin» entstand im Herbst 1724 im Rahmen von Bachs grossangelegtem Projekt eines ganzen Jahrgangs choralbasierter Kirchenstücke. Vom ernsten g-Moll des schmerzlichen Eingangschores über die wundersam fliessenden Gnadenströme der Tenorarie «Ergieße dich reichlich, du göttliche Quelle» spannt sich der Bogen bis zur willensstarken Abrechnung mit dem «Höllenheer», die Bach als Dialog einer eindringlichen Basspartie mit einer halsbrecherisch schweren Trompetenstimme konzipiert hat. «Ich bin ja nur der kleinste Teil der Welt» – dank der heilsamen Einsicht in die Begrenztheit allen menschlichen Seins verwandelt Bach alle Angst, Verzweiflung und Verstrickung in ein tröstliches Geborgensein in Christus.
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Werkeinführung
Reflexion
Chor
Sopran
Susanne Seitter, Noëmi Sohn Nad, Noëmi Tran-Rediger, Alexa Vogel, Anna Walker, Mirjam Wernli-Berli
Alt
Jan Börner, Antonia Frey, Liliana Lafranchi, Alexandra Rawohl, Damaris Rickhaus
Tenor
Clemens Flämig, Tobias Mäthger, Sören Richter, Walter Siegel
Bass
Fabrice Hayoz, Valentin Parli, Philippe Rayot, Jonathan Sells, Tobias Wicky
Orchester
Leitung
Rudolf Lutz
Violine
Eva Borhi, Lenka Torgersen, Peter Barczi, Christine Baumann, Dorothee Mühleisen, Ildikó Sajgó
Viola
Martina Bischof, Sarah Mühlethaler, Katya Polin
Violoncello
Maya Amrein, Daniel Rosin
Violone
Markus Bernhard
Oboe
Katharina Arfken, Elise Nicolas
Tromba da tirarsi
Patrick Henrichs
Fagott
Susann Landert
Orgel
Nicola Cumer
Cembalo
Thomas Leininger
Musikal. Leitung & Dirigent
Rudolf Lutz
Werkeinführung
Mitwirkende
Niklaus Peter Barth, Rudolf Lutz
Reflexion
Referent
Anselm Grün
Aufnahme & Bearbeitung
Aufnahmedatum
16.08.2018
Aufnahmeort
Teufen AR (Schweiz) // Kirche Teufen
Tonmeister
Stefan Ritzenthaler, Nikolaus Matthes
Regie
Meinrad Keel
Produktionsleitung
Johannes Widmer
Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz
Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz
Textdichter
Textdichter
Johann Heermann
Erste Aufführung
Kantate zum 19. Sonntag nach Trinitatis,
15. Oktober 1724
Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk
Die vom gleichnamigen Lied Johann Heermanns ausgehende Choralkantate «Wo soll ich fliehen hin» BWV 5 entstand zum 19. Trinitatissonntag 1724 im Rahmen von Bachs zweitem Leipziger Kantatenjahrgang. Dass ihre heute in der Londoner British Library aufbewahrte Originalpartitur ausgerechnet aus dem Besitz des literarischen Weltbürgers Stefan Zweig stammt, der später als Flüchtling selbst an den totalitären Zeitläuften zerbrach, darf als anrührende Note ihrer Rezeptionsgeschichte gelten.
Ihr Eingangschor kommt als nervöses Perpetuum mobile daher, das in seinem hastigen Durchführungscharakter den Gestus bedrängender Weltangst ausbildet; Bachs scharfkantig gemeisselte Klangflächen rauschen wie ein unbarmherzig voraneilender Schicksalsfilm an uns ohnmächtigen Menschen vorbei. Der aufsteigende Themenkopf des im Mischklang von Streichern und Oboen durchdringend konzipierten Instrumentalapparates lässt die erste Choralzeile permanent hervortreten, wobei simultane Umkehrbewegungen den Eindruck der Orientierungslosigkeit verstärken. Die den breit aussingenden Sopran stützenden Unterstimmen nehmen das hektische Gestikulieren des Orchesters auf; indem sie den Cantus firmus mit ihrem finsteren Gerichtston verstärkt, steigert die Zugtrompete die Szenerie zu verzweifeltem Ernst.
Das folgende Bassrezitativ präsentiert einen deprimierenden Befund: Leib und Seele sind derart von der Sünde gezeichnet, dass der Mensch im alttestamentarischen Sinne vor Gott nur unrein und verworfen sein könne. Allein Christi sonor in Erinnerung gebrachtes «heiliges Blut» bringt hier Rettung, da im Meer seiner Wunden aller menschliche Makel wunderbar getilgt ist.
Was diese lehrhaft-strenge Aussage an befreiendem Potential beinhaltet, wird in der Tenorarie auf bezaubernde Weise hörbar. Über sanften Stütztönen des Basses macht die in eleganten Viertonketten ununterbrochen laufende Obligatstimme den Gnadenfluss der göttlichen Quelle zum warm strömenden Balsam, was den Tenorsolisten zu dankbar verzückter Betrachtung animiert. Das dunkel schimmernde Es-Dur taucht die ganze Arie in ein zugleich unwirkliches wie nahes Licht, in dem das grausame Blutopfer wie von selbst als heilsames Geschehen erscheint. Die trotz relativ tiefer Lage wohl doch einer Violine zugedachte Streicherpartie bleibt dabei wie ein herzlich zugewandter Gesprächspartner immer auf Augenhöhe präsent.
Dass das folgende Altrezitativ eine «A tempo »-Vorschrift trägt, wird erst mit eintaktiger Verzögerung – dann aber umso einprägsamer – verständlich. Mischt sich doch in den von Jesu Sterben berichtenden Rezitativtext die Oboe mit dem wortlosen Vortrag der Choralmelodie, was den Satz auf ergreifende Weise überhöht. Erneut findet Bach eine genial dezente Weise, Opferblut und Kreuzestod klingend von der Tröstung und Vergebung – also vom Menschen her – zu deuten.
Diese innere Kräftigung findet in der Bassarie trutzigen Ausdruck. In energischem Tanzgestus gehalten und mit strahlender Tromba sowie Streichern und Oboen ausstaffiert, wird das durch Jesu Kreuzeswerk bereits geschwächte Höllenheer nochmals in offener Feldschlacht besiegt. Der Sänger tritt wie der Triumphator einer barocken Oper auf das Podium; sein vom Orchester verlässlich gestützter und in der Devise «Es ist in Gott gewagt» kulminierender Auftritt gehört sicher zu Bachs dankbarsten Basspartien.
Dass Komponist und Librettist nach dieser Apotheose nochmals den Tonfall zurücknehmen, gehört zu den einnehmenden Details dieser meisterlichen Kantate. «Ich bin ja nur das kleinste Teil der Welt»: Mit Worten tiefster Demut und im Vortrag auf die nahezu geflüsterten Deklamationshöhen reduziert, wird in einem Sopranrezitativ nochmals die rettende Kraft des reinigenden Blutes evoziert. Ein Gestus unverstellten Vertrauens, der perfekt zum kindlichen Timbre der Leipziger Knabendiskante gepasst haben dürfte…
Dass darauf der vierstimmige Schlusschoral folgt, gehörte zum Formmodell und war damit kompositorische Standardaufgabe. Welche Kraft und Stärke Bach diesem Routinetopos jedoch zu entlocken vermochte, wird in den wenigen Takten dieser Liedstrophe Ton für Ton hörbar. Last und Drohung des Eingangschores sind einer sehnsüchtigen Energie gewichen, die der Orgel in der Aufführungssituation spontan ein Zwischenspiel entlockte…
Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen
Die Choralkantate «Wo soll ich fliehen hin» (BWV 5) wurde am 15. Oktober 1724 erstmals in Leipzig aufgeführt. Es war der 19. Sonntag nach Trinitatis mit dem für die Predigt vorgeschriebenen Evangelientext Matthäus 9, 1–8 «Die Heilung eines Gelähmten», in dessen Zentrum Jesu Satz «Dir sind die Sünden vergeben» steht. Bach greift für seine Auslegung dieses Wortes auf einen Choral Johann Heermanns (1630) zurück, dessen 1. und 11. Strophe er unverändert an den Anfang und ans Ende setzt. Die Strophen 2–10 aber lässt er durch einen unbekannten Dichter zusammenziehen und umdichten zum vorliegenden Kantatentext mit drei Rezitativen und zwei Arien dazwischen. Wie das Libretto als Ausweg aus Sünde und Anfechtung das Vertrauen in Christi heilbringenden Opfertod hochhält, macht Bach den reformatorischen Choral zum emotionalen Kraftquell und musikalischen Ausgangspunkt seiner Vertonung. Die autographe Originalpartitur der Kantate befand sich übrigens zeitweise im Besitz des Schriftstellers Stefan Zweig, aus dessen Nachlass sie in die British Library gelangte.
1. Choral
Wo soll ich fliehen hin,
weil ich beschweret bin
mit viel und grossen Sünden,
wo soll ich Rettung finden?
Wenn alle Welt herkäme,
mein Angst sie nicht wegnähme.
1. Choral
In Heermanns Eingangsstrophe des Chorals wird das Thema der Sünde, des Bewusstseins der eigenen Fehlbarkeit und des Scheiterns auf eine ganz persönliche Weise mit einer Frage eingeleitet: Wohin fliehen und wie Befreiung finden von der mit dem Sündenbewusstsein verbundenen Angst? – Denn gesucht wird eine Befreiung, welche die Welt nicht geben kann. Bach entwirft dafür einen konzertant-leidenschaftlichen Eingangschor, dessen dichtes Gewebe auf allen Ebenen durch die Liedmotivik inspiriert wird. Die den Sopran verdoppelnde Zugtrompete verstärkt ebenso wie die angstvollen Pausen und haltlos kreisenden Koloraturen der Unterstimmen den Eindruck eines verzweifelten Ringens um Rettung und Umkehr.
2. Rezitativ – Bass
Der Sünden Wust hat mich nicht nur befleckt,
er hat vielmehr den ganzen Geist bedeckt,
Gott müsste mich als unrein von sich treiben;
doch weil ein Tropfen heilges Blut
so grosse Wunder tut,
kann ich noch unverstossen bleiben.
Die Wunden sind ein offnes Meer,
dahin ich meine Sünden senke,
und wenn ich mich zu diesem Strome lenke,
so macht er mich von meinen Flecken leer.
2. Rezitativ
Der unbekannte Librettist vergröbert durch das Zusammenziehen der Heermann-Strophen 2 und 3 die im Kirchenlied zwar barock, aber innig gehaltenen Sprachbilder zu einer ziemlich formelhaften Abendmahls- und Bluttheologie: Hier kann der menschliche «Sünden-Wust» und die Unreinheit nur im Meer der Wunden Christi versenkt werden, während ein Tröpfchen des reinigenden Blutes Christi das Wunder der Rettung bringe.
3. Arie – Tenor
Ergiesse dich reichlich, du göttliche Quelle,
ach, walle mit blutigen Strömen auf mich.
Es fühlet mein Herze die tröstliche Stunde,
nun sinken die drückenden Lasten zu Grunde,
es wäschet die sündlichen Flecken von
sich.
3. Arie
In der Tenor-Arie ereignet sich die emotionale Wende mit der Bitte an Gott «Ergiesse dich reichlich, du göttliche Quelle…» und dem eintretenden Gefühl der Erfüllung: Nun spürt das Herz die Reinigung von allen Sünden durch das Blut Christi, die schwere Belastung sinkt auf den Grund des oben erwähnten Meeres. Solovioline und Singstimme übertreffen sich dabei in ihrem Bemühen, über sensibel absteigenden Basstönen in schier unendlichen Kaskaden die Ströme der göttlichen Gnade nachzuzeichnen. Das warme trinitarische Es-Dur und der entspannt fliessende Dreiertakt des Satzes sorgen dabei für ein Grundgefühl der Geborgenheit und des beseelten Loslassen-Könnens.
4. Rezitativ – Alt
Mein treuer Heiland tröstet mich,
es sei verscharrt in seinem Grabe,
was ich gesündigt habe;
ist mein Verbrechen noch so gross,
er macht mich frei und los.
Wenn Gläubige die Zuflucht bei ihm finden,
muss Angst und Pein
nicht mehr gefährlich sein
und alsobald verschwinden;
ihr Seelenschatz, ihr höchstes Gut
ist Jesu unschätzbares Blut,
es ist ihr Schutz vor Teufel, Tod und Sünden,
in dem sie überwinden.
4. Rezitativ
Das zweite Rezitativ ist ein einziger Jubel über die Tat Christi, über den damit verbundenen Trost, die Vergebung aller – auch der schweren – Fehltritte und die Befreiung zu einem neuen Leben. Hier wird das als Realität verkündet, was in der Epistellesung noch eine Aufforderung des Paulus war: Legt den alten Menschen ab und zieht den neuen Menschen an (Epheser 4, 22–24) – jetzt ist die Befreiung eine Wirklichkeit, die alle Angst und Pein überwindet: Jesu Blut ist ein «Schutz vor Teufel, Tod und Sünden», indem es diese überwindet. Der mit erstaunlichem Tempo von der Selbstanklage zur Predigt fortschreitende Solovortrag wird dabei durch die in der Oboe hinzutretende Liedmelodie sanft an die Hand genommen und von oben herab beglaubigt.
5. Arie — Bass
Verstumme Höllenheer,
du machst mich nicht verzagt!
Ich darf dies Blut dir zeigen,
so musst du plötzlich schweigen,
es ist in Gott gewagt.
5. Arie
In der Bass-Arie wird der Kampf aufgenommen, das «Höllenheer» der lärmigen Versuchungen wird durch das Blut Christi zum Verstummen gebracht, der Gläubige wird kämpferisch und unverzagt, denn er kämpft nun nicht mehr alleine: «Es ist in Gott gewagt.» Bach bringt hier voraussehbar die Trompete wieder ins Spiel, deren heraldische Signale und sieghaft rollende Triolen in Verbindung mit den kantigen Orchestergesten und dem unverdrossenen Deklamieren des Bassisten im währenden Streit bereits den finalen Triumph antönen lassen. Mit der Zurücknahme der Lautstärke beim Vokaleinsatz wird das ersehnte «Verstummen » der feindlichen Mächte zum echt akustischen Erlebnis; den gesamten Tonraum ausfüllende Textwiederholungen machen am Ende des B-Teils deutlich, dass Kampfesmut und Seelenstärke in grenzenlosem Gottvertrauen gründen.
6. Rezitativ — Sopran
Ich bin ja nur das kleinste Teil der Welt,
und da des Blutes edler Saft
unendlich grosse Kraft
bewährt erhält,
dass jeder Tropfen, so
auch noch so klein,
die ganze Welt kann rein
von Sünden machen,
so lass dein Blut
ja nicht an mir verderben,
es komme mir zu gut,
dass ich den Himmel kann ererben.
6. Rezitativ
Das dritte Rezitativ verinnerlicht diese kämpferische Botschaft: Wie auch im kleinsten Teil das Grosse wirkt, so wird auch der kleinste Tropfen Blut Reinigung bei jedem Einzelnen bewirken – verbunden dann mit der ganz persönlichen Bitte, dass dieses in seiner Kraft nun auch ihm zugute komme und ihm Anteil am Himmelserbe gebe. Die kindlich-reinherzige Sopranlage und die bescheiden zurückgenommene Faktur des Satzes illustrieren auf wunderbare Weise das Bild vom «kleinsten Teil der Welt», das in Christo dennoch Anteil am Allergrössten haben darf.
7. Choral
Führ auch mein Herz und Sinn
durch deinen Geist dahin,
daß ich mög alles meiden,
was mich und dich kann scheiden,
und ich an deinem Leibe
ein Gliedmass ewig bleibe..
7. Choral
Der Choral am Ende führt zur Innigkeit, zum persönlichen Stil und auch zur Klarheit der Sprache Heermanns zurück: die Bitte, dass der Geist ihm helfe, alles zu meiden, was ihn von Gott scheide, und er so Teil des Leibes Christi, des ewigen Gottesvolkes, werde. Der nur in der letzten Zeile dezent aufgebrochene Choralsatz erweist sich dafür wiederum als in seiner gesammelten Schlichtheit bewährte und kräftigende Ausdrucksform.
Anselm Grün
Wo soll ich fliehen hin
Die Kantate «Wo soll ich fliehen hin» hat den biblischen Text von Matthäus 9, 1–8 zur Grundlage. In diesem Text heilt Jesus den Gelähmten mit den Worten: «Steh auf, nimm deine Tragbahre und geh!» Ich würde den Text so auslegen, dass Jesus mir Mut macht, meine Hemmungen und Lähmungen unter den Arm zu nehmen und aufzustehen, auszusteigen aus der Zuschauerrolle und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Als ich den Text der Kantate «Wo soll ich fliehen hin» las, war ich zunächst enttäuscht. Ich dachte, das sei die typische Fixierung auf die Schuld, die charakteristisch ist für Martin Luther, dessen wichtigste Frage war: «Wie kriege ich einen gnädigen Gott?» Doch dann wurde mir klar, dass ich aus den vielen Bildern vom Blut nicht eine Theorie vom Sühneopfer für unsere Sünden entwickeln darf. Vielmehr ist das Blut ein Bild für die Liebe. Wir sprechen vom Herzblut, das wir für andere geben. Jesus selbst sagt von sich: «Es gibt keine grössere Liebe, als wenn jemand sein Leben hingibt für seine Freunde.» (Joh 15, 13) Und Johannes schildert uns, wie aus dem geöffneten Herzen Jesu am Kreuz Blut und Wasser strömen. Das ist ein Bild, dass Jesu Liebe in die ganze Welt strömt. Die Welt ist nicht nur geprägt von Sünde und Schuld, von der Bosheit der Frevler, sondern sie ist durchdrungen von der Liebe Jesu. Das gibt uns eine neue Sichtweise auf uns und auf unsere Welt.
Gott braucht nicht den Tod seines Sohnes, um vergeben zu können. Gott vergibt, weil er Gott ist, weil er barmherzig ist. Aber – so sagt der evangelische Theologe Paul Tillich — wir fühlen uns in unserer Schuld als unannehmbar. Da brauchen wir solche starken Bilder wie das Blut, das für uns vergossen wird, um unsere Unfähigkeit, an die Vergebung zu glauben, zu überwinden. Das Bild will uns befähigen, uns trotz all unserer Unannehmbarkeit anzunehmen, weil Gott uns in Jesus Christus bedingungslos annimmt. Wenn wir die Worte der Kantate als Bilder sehen, dann fühlen wir uns frei. Martin Heidegger sagt einmal: «Schauen führt in die Freiheit, Hören in die Geborgenheit.» Die Bilder schaue ich in aller Freiheit an. Das Hören führt uns zusammen. Es verbindet uns und gibt uns das Gefühl von Getragensein, von Geborgensein.
Wenn ich die Musik höre, mit der Johann Sebastian Bach die Worte vertont hat, dann höre ich die Liebe heraus, die mich in der Musik durchdringt. Und ich fühle mich geborgen in einer Liebe, die grösser ist als meine Schuld, als meine Unfähigkeit, mich selbst anzunehmen. Wir brauchen gute Bilder, die sich in uns einbilden. Denn vielen Menschen geht es schlecht, weil die Bilder, die sie von sich haben, nicht mit ihrer Realität übereinstimmen. Für Platon besteht Bildung darin, dass wir uns gute Bilder einbilden. Im Hören der Kantate bilden sich die Bilder der Worte und der Musik in uns ein, um uns in Berührung zu bringen mit dem ursprünglichen und reinen Bild, das Gott sich von jedem von uns gemacht hat.
Der hl. Augustinus hat eine eigene Theologie der Musik geschrieben. Darin schreibt er, dass die Musik uns in Berührung bringt mit der Liebe, die in uns ist, von der wir aber oft genug getrennt sind durch die Sorgen, die uns bedrängen. Und Augustinus zitiert zustimmend Platon, der meint, «choros» komme von «chara = Freude». Indem wir die Musik von Bach hören, spüren wir die Liebe, die auf dem Grund unserer Seele strömt, und die Freude, die oft genug verschüttet ist, steigt in unser Bewusstsein auf. Wenn wir die Musik dieser Kantate hören, brauchen wir gar nicht zu glauben, da geschieht Glaube. Bach fordert uns auch nicht auf, dass wir uns freuen sollten über unsere Erlösung. Im Hören der Musik steigt in uns die Freude auf über unsere Erlösung, darüber, dass wir von Gott bedingungslos geliebt sind, gegen alle Selbstvorwürfe und Selbstbeschuldigungen, mit denen wir uns oft genug das Leben schwer machen.
Bach hat eine schöne Musik geschrieben. Platon sagt: Schönheit erzeugt Liebe und Liebe lässt die Schönheit erkennen. Der russische Dichter Dostojewski sagt einmal: «Schönheit wird die Welt retten. Schönheit wird die Welt heilen.» Und er meint, er müsse wenigstens einmal im Jahr die Schönheit der Sixtinischen Madonna betrachten, um sein Leben bewältigen zu können. So können wir sagen: Wir müssen wenigstens einmal im Monat eine Bachkantate anhören, um von der Schönheit der Musik aus unseren Alltag mit seinen Bedrängnissen froh und zuversichtlich leben zu können. Bach führt uns in seiner schönen Musik nicht in eine heile Welt. In seiner Musik werden auch die Abgründe des Menschen, seine Verzweiflung und seine Nöte hörbar. Aber die Musik verwandelt diese Abgründe. Schönheit verwandelt und heilt.
Uns bedrängt heute nicht die Angst, dass wir sündigen und die Gebote Gottes übertreten könnten. Aber wir kennen durchaus die Angst, dass wir unser Leben verfehlen, dass unser Leben nicht gelingt. Und wir kennen die Angst, dass wir nicht genügen. Ich kenne viele Menschen, die das Gefühl haben: Ich bin nicht gut genug. Ich habe einen Psychologen begleitet, der Kurse für Manager gibt. Aber nach jedem Kurs hat er das Gefühl: Ich bin nicht gut genug. Der Kurs war nicht gut genug. Als Kind hatte er immer das Gefühl: Ich genüge nicht den Erwartungen meiner Eltern. Später hatte er das Gefühl: Ich genüge nicht als Vater. Ich genüge nicht als Ehemann. Die Erwartungen, die die Medien in uns wecken, dass wir immer perfekt sein müssen, immer erfolgreich, immer cool, führen dazu, dass sich immer mehr Menschen als nicht genügend empfinden. In diese Angst hinein sollten wir die Worte und die Musik dieser Kantate eindringen lassen. Die Worte und die Musik sagen uns: Du bist gut genug. Du sollst dich nicht auf deine Defizite fixieren. Schau auf den, der sein Leben für dich aufs Spiel gesetzt hat. Du bist so wertvoll, dass da einer sich für dich hingegeben hat, dass einer dich bedingungslos geliebt hat.
Die Bilder, mit denen die Kantate diese bedingungslose Liebe beschreibt, sind uns heute fremd. Aber es gilt eben, sie für uns heute zu deuten. Da ist das Bild des Blutes, das Jesus für uns vergossen hat. Wir sollten da nicht an Sühne denken, als ob Jesus für uns sterben musste, damit uns Gott vergeben könnte. Das ist in diesem Bild nicht ausgedrückt. Vielmehr ist das Blut ein Bild für eine Liebe, die in uns einströmt. Johannes hat das so ausgedrückt, dass aus dem durchbohrten Herzen Jesu Blut und Wasser strömen und die ganze Welt durchdringen. Blut und Wasser stehen für die Liebe, die uns reinigt von allem, was unser wahres Wesen eintrübt, und die uns erfüllt mit einer Quelle der Liebe, aus der wir immer schöpfen können und die nie versiegt.
So möchte ich einige Bilder der Kantate anschauen. Da ist einmal das Bild, das der Bass in seinem Rezitativ besingt: wir sind durch die Sünde befleckt. Ja, unser ganzer Geist ist bedeckt, getrübt. Sünde besteht darin, sich das ursprüngliche Bild Gottes in uns von falschen Bildern trüben zu lassen. In der Tenorarie wird von der göttlichen Quelle gesungen, die uns reinigt von diesen Trübungen. Rudolf Lutz hat diese Arie eine «spirituelle Waschmaschine» genannt. Das ist ein schönes Bild für das, was in dieser Arie an uns geschieht. Wenn wir sie hören, werden wir gereinigt. Ein evangelischer Pfarrer aus der früheren DDR erzählt mir: Jedes Mal, wenn die Stasi ihn besuchte, versuchte er, klar zu bleiben. Doch nachdem die Stasi weggegangen war, hatte er immer das Bedürfnis, unter die Dusche zu gehen und das Klebrige, das sie vermittelt hatte, abzuwaschen. Pythagoras, der griechische Philosoph, schreibt der Musik diese reinigende und heilende Wirkung zu. Er meint, der Mensch würde krank, wenn die inneren Schwingungen durcheinander gerieten, wenn sie gleichsam aneinander klebten. Die Musik bringt die Schwingungen in ihre ursprüngliche Ordnung. So geschieht im Hören dieser Arie Reinigung. Da brauchen wir gar nicht an die Erlösung zu glauben. Da werden wir reingewaschen von allen Selbstvorwürfen und Selbstbeschuldigungen. Wir fühlen uns rein und erlöst.
Wir erfahren in der Musik, was der Text uns als frohe Botschaft sagen möchte. Die Liebe Jesu triumphiert über alle Schuld. Deshalb können wir voll Vertrauen leben. Wir sollten aufhören, ständig um unsere Schuld und Sünde zu kreisen, alles zu bewerten, was wir tun. Ich kenne viele Menschen, die jeden Abend überlegen: Hätte ich mich doch anders entschieden, wäre ich doch im Gespräch mit meiner Tochter, mit meinem Sohn, mit meinen Freunden achtsamer und freundlicher gewesen. In ihrer Bewertung ihres Tuns sind sie doch voller Zweifel, ob alles richtig war. Und sie kommen nicht frei von ihren Grübeleien über ihre Worte und Taten. Der Blick auf das Blut Jesu, auf seine Liebe, mit der er uns am Kreuz bis zur Vollendung geliebt hat, soll uns befreien von diesen Grübeleien. Was vergangen ist, ist vergangen. Es ist vorbei. Wir können es nicht mehr ändern. Aber wir dürfen vertrauen, dass es von der göttlichen Quelle der Liebe ausgelöscht ist, dass alles, was uns belastet, im Meer dieser göttlichen Liebe versinkt.
Im Rezitativ singt der Alt: «Ihr Seelenschatz, ihr höchstes Gut, ist Jesu unschätzbares Blut.» Schatz ist ein Bild für unser wahres Selbst. Viele haben Angst, in sich selbst hineinzuschauen. Eine Frau sagte mir: «Ich kann nicht in die Stille gehen. Da geht ein Vulkan in mir hoch.» Jesus hat uns ein Gleichnis erzählt vom Schatz im Acker. Er meint damit, wir müssen uns die Hände schmutzig machen, um den Schatz im Acker auszugraben. Wir müssen durch unsere Emotionen wie Angst und Zorn, Neid und Eifersucht, Gier und Groll, Bitterkeit und Unzufriedenheit hindurchgraben, um den Schatz im Acker zu finden. In der Kantate wird der Seelenschatz mit dem Blut Christi identifiziert. Es bedeutet: Wenn ich durch das ganze Chaos meiner Gefühle und Leidenschaften hindurchgehe und auf mein wahres Selbst treffe, so ist dieses Selbst von der Liebe Jesu erfüllt. Auf dem Grund meiner Seele finde ich keinen Vulkan vor, sondern die Liebe Jesu, die den inneren Raum in mir erfüllt. Das ist ein optimistisches Bild. Es gibt uns den Mut, alles, was in uns auftaucht, sein zu lassen. Es darf so sein. Wir brauchen nicht zu erschrecken von dem, was in uns hochkommt, wenn wir still werden. Wir sollen es anschauen und tiefergehen in den Grund unserer Seele. Dort begegnen wir unserem Seelenschatz, der Liebe Jesu. Und dort, wo die Liebe Jesu in uns ist, hat die Schuld keinen Zutritt. Da können die Selbstvorwürfe nicht vordringen. Die Liebe Jesu bildet in uns einen Schutzraum auf dem Grund unserer Seele. Dort sind wir geschützt vor den verletzenden Worten anderer Menschen, dort sind wir auch geschützt vor den Anfechtungen, denen wir in unserem Alltag ausgesetzt sind.
Die Bassarie singt voller Zuversicht und leisem Spott, dass das ganze Höllenheer keine Chance habe, uns Angst zu machen. 38-mal singt der Bass «Verstumme ». Ich glaube, dass Bach hier die Heilung des Gelähmten aus Johannes 5 vor Augen hat. Johannes schreibt von dem Mann, der seit 38 Jahren krank ist. 38 bezieht sich auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Israeliten waren schon nach zwei Jahren am Ziel. Aber da sie gegen Gott rebellierten, mussten sie noch 38 Jahre durch die Wüste irren, «bis alle waffenfähigen Männer gestorben waren ». Der Mann, der 38 Jahre krank ist, hat also keine Waffen mehr. Er kann sich nicht abgrenzen. Das Johannesevangelium schildert, wie dieser Mann sich als Opfer fühlt. Er jammert darüber, dass keiner für ihn Zeit hat und alle anderen es besser haben. Jesus geht nicht auf sein Jammern ein, sondern konfrontiert ihn mit seiner eigenen Kraft: «Steh auf, nimm dein Bett und geh!» Höre auf zu jammern. Nimm deine Hemmungen, deine Ängste unter den Arm und geh deinen Weg. In der Musik spüren wir die Kraft, die von Christus ausgeht. Es ist eine optimistische Musik. Wir sollen unser Leben selbst in die Hand nehmen und es in Gott wagen. Wenn wir nur auf uns vertrauen, werden wir das Leben nicht schaffen. Aber wenn wir in Gott unseren Grund haben, werden wir es wagen. Die Wüstenväter sprechen im 4. Jahrhundert vom Kampf mit den Dämonen, mit den Leidenschaften und Emotionen. Sie fühlen sich nicht als Opfer. Sie haben Lust, diesen Kampf zu kämpfen. Diese Lust am Kampf mit allem, was uns vom Leben abhalten möchte, hören wir in dieser wunderbaren Bassarie heraus und sie teilt sich uns im Hören mit.
Der Sopran singt voller Zuversicht, dass das Blut Jesu – seine Liebe – uns den Himmel erben lässt. Die Liebe – so sagt uns das Evangelium – ist stärker als der Tod. Im Tod werden wir für immer in diese Liebe Gottes hineinfallen. Gabriel Marcel, ein französischer Philosoph, sagt einmal: «Lieben, das heisst zum andern sagen: Du, du wirst nicht sterben.» Die Musik von Bach nimmt uns alle Angst vor dem Tod. Die Liebe, die darin hörbar wird, ist stärker als der Tod.
Die Kantate schliesst mit dem Choral «Führ auch mein Herz und Sinn». Wenn der Chor gemeinsam singt und wenn die Gemeinde gemeinsam singt, dann werden die Herzen miteinander eins. Erlösung ist nicht nur etwas rein Individuelles. Im Singen erfahren wir auch Gemeinschaft. Das griechische Wort für Frieden «Eirene» kommt aus der Musik. Frieden entsteht, wenn alle Töne – die hellen und die dunklen, die hohen und die tiefen – in mir zusammenklingen. Wenn ich im Singen in Einklang komme mit mir, dann kann ich auch zusammenklingen mit den Menschen, dann entsteht Gemeinschaft, dann entsteht Friede. Und im gemeinsamen Singen kommen wir in Berührung mit der Freude, die uns alle verbindet.
Das gemeinsame Hören dieser wunderbaren Musik führt nach den Worten von Heidegger zur Geborgenheit. Und wir fühlen uns eins miteinander. Martin Walser sagt einmal: «Wenn du etwas schön findest, bist du niemals allein. Wenn du etwas schön findest, bist du erlöst, erlöst von dir selbst.» Das wünsche ich allen, die jetzt diese Kantate nochmals hören, dass die Musik uns im Tiefsten miteinander verbindet, so dass uns die Schönheit dieser Musik vermittelt, dass wir niemals allein sind. Und dass die Musik uns erlöst von dem Kreisen um uns selbst. Indem wir die heiligen Worte hören, fühlen wir uns zugehörig. Wir hören das Unhörbare mit, das Wunderbare der Botschaft Jesu Christi, die uns alle in der Tiefe unserer Seele miteinander verbindet in einer Liebe, die stärker ist als der Tod.