Falsche Welt, dir trau ich nicht

BWV 052 // zum 23. Sonntag nach Trinitatis

für Sopran, Vokalensemble, Corno I+II, Oboe I-III, Fagott, Streicher und Basso Continuo

Der unbekannte Textdichter knüpft an Gedanken aus dem Sonntagevangelium an, bei der Frage der Phari­säer an Jesus, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuer zu zahlen (Matthäus 22, 15–22). Er zieht aber nicht die Antwort Jesu in Betracht («Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist !»), sondern geht von der Hinterlist der Pharisäer aus, welche er in ihrer tückischen Fangfrage erkennt. Er beginnt mit einer anklagenden Rede gegen die Falschheit der Welt, von welcher der Christ sich abwenden soll. Im zweiten Teil ist von der Treue Gottes die Rede, auf welche der Mensch sich verlassen darf. Die Einbeziehung einer ausgedehnten und grossbesetzten Sinfonia verleiht der eher kammermusikalischen Soprankantate einen erheblichen Klangaufputz, der womöglich den Kontrast zwischen der glänzenden, aber falschen « Welt », und der von Selbstbesinnung und Seelenstärke redenden Solopartie hervorheben soll.

J.S. Bach-Stiftung Kantate BWV 52

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Reflexion
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Lutzogramm zur Werkeinführung

Manuskript von Rudolf Lutz zur Werkeinführung
Download (PDF)

Akteure

Solisten

Sopran
Miriam Feuersinger

Chor

Alt/Altus
Alexandra Rawohl

Tenor
Sören Richter

Bass
Fabrice Hayoz

Orchester

Leitung
Rudolf Lutz

Violine
Renate Steinmann, Monika Baer, Yuko Ishikawa, Elisabeth Kohler, Ildiko Sajgo, Eva Saladin, Olivia Schenkel, Anita Zeller

Viola
Susanna Hefti, Matthias Jäggi, Martina Zimmermann

Violoncello
Martin Zeller, Bettina Messerschmidt

Violone
Iris Finkbeiner

Oboe
Kerstin Kramp, Ingo Müller, Julia Bauer

Fagott
Susann Landert

Corno
Olivier Picon, Ella Vala Armannsdottir

Orgel
Nicola Cumer

Cembalo
Jörg Andreas Bötticher

Musikal. Leitung & Dirigent

Rudolf Lutz

Werkeinführung

Mitwirkende
Karl Graf, Rudolf Lutz

Reflexion

Referent
Michael Guggenheimer

Aufnahme & Bearbeitung

Aufnahmedatum
21.11.2014

Aufnahmeort
Trogen

Tonmeister
Stefan Ritzenthaler

Regie
Meinrad Keel

Produktionsleitung
Johannes Widmer

Produktion
GALLUS MEDIA AG, Schweiz

Produzentin
J.S. Bach-Stiftung, St. Gallen, Schweiz

Zum Werk

Textdichter

Textdichter Nr. 2-5
unbekannter Dichter

Textdichter Nr. 6
Adam Reusner, 1533

Erste Aufführung
23. Sonntag nach Trinitatis,
24. November 1726

Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk

Ob Bach die im biblischen Gleichnis vom Zinsgroschen (Mt 22) aufscheinende Doppelzüngigkeit der Welt mit einem Exempel gleissender Klangpracht illustrieren oder ihr ein Bild gesammelter Wahrhaftigkeit entgegenstellen wollte, wissen wir nicht. In jedem Fall verschafft der zur einleitenden Sinfonia gewordene Kopfsatz des Ersten Brandenburgischen Konzertes der zum 23. Sonntag nach Trinitatis 1726 erstaufgeführten Kantate «Falsche Welt, dir trau ich nicht» einen repräsentativen Auftritt, der das Fehlen eines Eingangschores oder einer eröffnenden Tutti-Arie mehr als wettmacht. In den majestätischen Hornklängen eine Evokation der selbstgerecht auftrumpfenden und Jesus mit einer ausgemachten Fangfrage konfrontierenden Pharisäer wahrzunehmen, liegt allerdings nahe. Die für Bachs dritten Kantatenjahrgang nicht ungewöhnliche Anlage als Solowerk für nur eine Singstimme verleiht der Kantate dabei Züge eines geistlichen Entwicklungsdramas, innerhalb dessen sich eine auf sich selbst gestellte Seele mit zunehmendem Gottvertrauen von der Angst und Übermacht der Welt zu befreien vermag.
Umso stärker ist der Kontrast zum folgenden Rezitativ, das die neutestamentliche Szenerie in die Gegenwart transferiert und unter Nutzung biblischer Beispiele ein Schreckbild allgegenwärtiger Heuchelei und Hinterhältigkeit zeichnet. Unter den überall lauernden «Skorpionen» und «Schlangen» scheint es dabei vor allem die Unredlichkeit bester Freunde zu sein, die zum Skandalon gerät. Ob Bach und sein erst kürzlich von der Forschung identifizierter Librettist Christoph Birkmann sich dabei aufmerksam im Kirchenschiff umgeschaut haben, können wir nur vermuten – zu einer von Geldgier, Ehrsucht und allerlei Rankünen geplagten Handelsstadt wie dem barocken Leipzig könnte es durchaus passen.
Entsprechend offenbart die d-Moll-Arie «Immerhin, wenn ich gleich verstoßen bin» eine bittersüsse Ambivalenz von kämpferischer Selbstbehauptung und distanzierter Weltabwendung. Zwei meist unisono oder zumindest konsonant geführte Violinen treten dabei einem kantigen Continuo gegenüber, während sich die Singstimme an ihrer trotzigen Devise festhält und in Gottes redlicher Freundschaft das rettende Gegenstück zur feindseligen Welt entdeckt.
War es in der Arie noch das hoffende «Immerhin», so sind nun nicht nur harmonisch die Vorzeichen verändert. «Gott ist getreu» – ein von diesem Leitwort geprägtes Rezitativ kann darum im entspannten F-Dur Zuversicht und Glaubensstärke ausstrahlen und in einem verzückten Arioso enden.
Wie verwandelt wirkt auch die folgende Arie, die durch die begleitenden drei Oboen in ein pastorales Licht getaucht wird, das die Gemeinschaft mit Gott in innigen musikalischen Umarmungen und einem schwingenden Tanzduktus feiert. Es ist die zu Kantatenbeginn noch übermächtig scheinende «Welt», die nun «alleine bleiben» muss und deren «falsche Zungen» sogar verspottet werden. Libretto und Arie strahlen hier eine freudige Gelöstheit aus, die die so verfängliche Frage nach Zins und Groschen und damit nach dem Einlassen auf die Welt mit einem anspornenden Lächeln beantwortet und damit bereits hinter sich gelassen hat. Wer so von Gnadengewissheit erfüllt ist, wird sich auch von der klangprächtigsten Musik nicht korrumpieren lassen, sondern sie wie Bach in den Dienst eines wohlverstandenen Evangeliums stellen.
Darum dürfen nun auch die beiden «Brandenburger » Hörner nochmals herzhaft in den Schlusschoral mit einstimmen. Adam Reusners kraftvoll den Quintraum ausschreitendes «In dich hab ich gehoffet, Herr» stellt dafür den einladenden und stärkenden Rahmen bereit.

Text des Werks und musikalisch-theologische Anmerkungen

1. Sinfonia

1. Sinfonia
Die Sinfonia, welche Bach der Kantate vorangestellt hat, ist eine Frühform des Einleitungssatzes des 1. Brandenburgischen Konzertes (BWV 1046a), die auf die Violino piccolo-Stimme der Widmungspartitur von 1721 verzichtet.

2. Rezitativ

Falsche Welt, dir trau ich nicht!
Hier muß ich unter Skorpionen
und unter falschen Schlangen wohnen.
Dein Angesicht,
das noch so freundlich ist,
sinnt auf ein heimliches Verderben:
Wenn Joab küßt,
so muß ein frommer Abner sterben.
Die Redlichkeit ist aus der Welt verbannt,
die Falschheit hat sie fortgetrieben,
nun ist die Heuchelei
an ihrer Stelle blieben.
Der beste Freund ist ungetreu,
o jämmerlicher Stand!

2. Rezitativ
Der Dichter klagt, man könne niemandem mehr trauen. Man müsse unter Schlangen und Skorpionen wohnen, wie es schon dem Propheten Ezechiel (Ez 2, 6) und auch den Jüngern Jesu vorausgesagt wurde (Lukas 10, 19). An die Stelle von Redlichkeit sei Falschheit und Heuchelei getreten, wofür die Ermordung Abners durch Joab (2. Samuel 3, 27) während der kriegerischen Aus­einandersetzungen zwischen dem Haus Saul und dem Haus David als Beispiel dient. Bach hat in diesem von grellem Realismus geprägten Rezitativ mit einem dissonanten Einstieg und lauter misstönenden Zeilenschlüssen sowohl die heftige Distanzierung von der Welt als auch deren Falschheit und Bedrohlichkeit («Skorpione», «ungetreu») hörbar gemacht. Von grosser Wirkung ist auch die falsche «Freundlichkeit» des auf «heimliches Verderben» sinnenden Nächsten.

3. Arie

Immerhin, immerhin,
wenn ich gleich verstoßen bin,
immerhin, immerhin!
Ist die falsche Welt mein Feind,
o, so bleibt doch Gott mein Freund,
der es redlich mit mir meint.

3. Arie
Hier kündigt sich die Wendung zum Guten an: Wenn auch die Welt mich verstösst und mein Feind sein muss, so ist «immerhin» Gott mein Freund (vgl. Jakobus 2, 23). Die vom Text verkörperte Bereitschaft, die Verstossung der Welt willig anzunehmen, wird in einer Musik voll entschlossener Gesten, weiter Sprünge und rastloser Bewegungsabbrüche eingefangen. Mit der beständigen Wiederholung der Devise «immerhin» hält der singende Protagonist seinen Verfolgern gleichsam trotzig die andere Wange hin.

4. Rezitativ

Gott ist getreu!
Er wird, er kann mich nicht verlassen;
will mich die Welt und ihre Raserei
in ihre Schlingen fassen,
so steht mir seine Hilfe bei.
Gott ist getreu!
Auf seine Freundschaft will ich bauen
und meine Seele, Geist und Sinn
und alles, was ich bin,
ihm anvertrauen.
Gott ist getreu!

4. Rezitativ
«Gott ist getreu» schreibt der Apostel Paulus (1. Kor.
10, 13). Das Rezitativ entfaltet diesen Gedanken. Auf Gottes Hilfe ist Verlass, auch wenn einen «die Welt und ihre Raserei» gefangen nehmen will. Es lohnt sich, «alles, was ich bin» ihm anzuvertrauen. Gottes liebende Treue übersetzt Bach in eine ariose Linienführung voller Geschmeidigkeit, die immer wieder zwischen die rezitativischen Textblöcke tritt.

5. Arie

Ich halt es mit dem lieben Gott,
die Welt mag nur alleine bleiben.
Gott mit mir, und ich mit Gott,
also kann ich selber Spott
mit den falschen Zungen treiben.

5. Arie
Die Arie drückt ein gesundes Selbstbewusstsein des Glaubenden aus. Die Spötter über Gott und den Glauben haben nicht das letzte Wort. Sondern wer ehrlich sich auf Gott verlassen will und kann, wird bestehen. Wie oft in Kontexten der Beständigkeit und Seelenstärke wählt Bach dafür eine an die höfische Polonaise angelehnte kompakt-tänzerische Satzanlage, die reizvoll mit der kantig-orgelmässigen Bassführung kontrastiert. Die Klangfarbe der drei Oboen verleiht der Arie eine beseelte Wärme, vermag jedoch zum Text des «Spottes» zugleich eine gewisse Schärfe freizusetzen, die das angstlose Hohnlachen wirksam untermalt.

6. Choral

In dich hab ich gehoffet, Herr,
hilf, daß ich nicht zu Schanden werd noch ewiglich zu Spotte.
Das bitt ich dich,
erhalte mich
in deiner Treu, Herr Gotte.

6. Choral
Die Liedstrophe von Adam Reusner ist aus dem Anfang des 31. Psalms geschöpft: «Auf dich, o Herr, vertraue ich, lass mich nimmermehr zuschanden werden.» Dass Bach die beiden Hörner der einleitenden Sinfonia im Choral nochmals einsetzt, rundet die Komposition ab und verleiht dem Schlusssatz einen kämpferischen Akzent.

Reflexion

Michael Guggenheimer

Anderen beistehen.
Die Freiheit des Wortes verteidigen

Wie man die Kantate «Falsche Welt, dir trau ich nicht» auch lesen kann: als Appell aus Trogen zum Schutz verfolgter Autorinnen und Autoren.

Menschen gehen auf die Strasse. Sie protestieren. Sie verlangen Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Öffentlich äussern sie ihre Meinung. In Istanbul verlangen sie zu Tausenden ein Demonstrationsrecht und wehren sich gegen die Zerstörung eines Parks. In Hongkong verlangen sie ein demokratisches Wahlprozedere. In Jerusalem protestieren sie gegen Beschlagnahmungen von Land. Und immer dann, wenn sich die Staatsmacht weigert, den Dialog mit ihnen aufzunehmen, landen Protestierende im Gefängnis, auch wenn ihre Parolen alles andere als einen kriminellen Hintergrund beinhalten. Ihre Anliegen, öffentlich geäussert, werden als gesetzwidrig betrachtet.
Leicht kann man unschuldig Opfer einer Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Staatsmacht werden. Der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny zum Beispiel gerät 1980 in Untersuchungshaft. Der Grund: Er beobachtet die Zürcher Unruhen. Er steht am Rand einer Demonstration, macht Notizen, sammelt Dokumente, Flugblätter, Projektile und wird verhaftet. Weil er ein Flugblatt auf sich trägt, wird er als Aktivist verdächtigt und kommt für eine Woche in Untersuchungshaft. Aus dem Gefängnis wendet er sich in einem Brief an seine Kollegen vom Schriftstellerverband. Es ist ein Plädoyer für die Meinungsfreiheit. In seinem Brief, der im Ausstellungsraum des Schweizer Literaturarchiv in Bern zu sehen ist, erinnert er daran, dass es die Aufgabe des Schriftstellers sei, «als wachsamer Zeitgenosse an gesellschaftlichen, also menschlichen Problemen interessiert zu sein, als Augen­ zeuge wachen und kritischen Geistes zu beobachten, sich mit den Problemen auseinanderzu­setzen, und dazu gehört nun auch mal das Recherchieren, das Sammeln von vielfältigen Dokumenten, um auf seine Weise, im Wort, an einer Lösung der Probleme beizutragen, im literarischen Kunstwerk am Faden der Zeitgeschichte mitzuschreiben».
Fälle von Verhaftungen hiesiger Autoren sind selten. Der Schweizer Schriftsteller kurdischer Abstammung Yusuf Yesilöz hat in einer von ihm in deutscher Sprache herausgegebenen «Geschichte der kurdischen Literatur» ein Vorwort aufgenommen, in dem von der Schwierigkeit des Dialogs unter kurdischen Autoren in vier Ländern die Rede ist. Den Text hatte eine Professorin an der Sorbonne geschrieben: «Weil Kurdistan zwischen vier Ländern aufgeteilt ist, kann die Literatur nicht zirkulieren», lautet ein Satz in ihrem Vorwort. Als der Schweizer Staatsbürger Yesilöz im Flughafen von Istanbul ankommt, landet er wegen dieses einen Satzes aus der Feder einer Literaturwissenschaftlerin im Gefängnis, weil die Existenz eines kurdischen Volkes in den vier Ländern, darunter in der Türkei, den Behörden in Ankara nicht genehm ist und so nicht geäussert werden darf.

Autoren leben in manchen Ländern «unter Skorpionen»
Wie prekär es tatsächlich um die Lage von Schriftstellerinnen und Schriftstellern in vielen Ländern steht, wie häufig Autoren «unter Skorpionen» wohnen, wie es im Text von Bachs Kantate «Falsche Welt, dir trau ich nicht» heisst, zeigt ein Blick in ein Dokument, das je- dem im Internet zugänglich ist. Alle sechs Monate legt die Zentrale der weltweit tätigen Organisation PEN International ein Dokument vor, ihre sogenannte «Caselist», die sämtliche ihr bekannt gewordenen Fälle von Schriftstellern, Übersetzern, Verlegern und Blog- gern auflistet, die keinerlei kriminelle Aktivität ausgeübt haben und dennoch «verstossen» werden, im Gefängnis sind oder strafrechtlich verfolgt werden. Die aktuelle Ausgabe der Caselist zählt 275 eng beschriebene Blätter im A4 Format! Die Angaben werden ständig aktualisiert. Ein monatliches Bulletin unterrichtet überdies über die neuesten Entwicklungen, zum Beispiel über den algerischen Autor und Filmer Abderrahmane Bouguermouh. Er hat einen Film in der Sprache der Berber, einer Minderheit in seiner Heimat, realisiert, weshalb er von Fundamentalisten zum Tode verurteilt wurde, nur knapp einem Attentat entging und aus Algerien nach Europa fliehen konnte. Die Sprache der Minderheit der Berber wird in seinem Heimatland nicht anerkannt, obwohl sie existiert.
Ein anderes Beispiel ist Pinar Selek, Autorin und Gründerin eines feministischen Netzwerks in der Türkei, die sich mit der Ausgrenzung von Minderheiten in der Türkei beschäftigt. Ihre soziologische Studie zur Kurdenfrage war manchen Kreisen in ihrer Heimat ein Dorn im Auge. Um ihrem möglichen Einfluss Grenzen zu setzen, wurde sie 1998 zu Unrecht beschuldigt, einen Bombenanschlag verübt zu haben. Sie kam für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis und wurde schwer gefoltert. Aus der Untersuchungshaft entlassen verbrachte sie den grössten Teil des über zwölf Jahre dauernden Verfahrens auf freiem Fuss. Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe «lebenslänglich unter verschärften Bedingungen».
Ein dritter Fall ist der saudi-arabische Herausgeber und Blogger Raef Badawi. Er wurde vor einigen Monaten wegen der «Gründung einer liberalen Webseite» von einem Strafgericht zu einer zehnjährigen Haftstrafe, 1000 Peitschenhieben, einer hohen Geldstrafe, einem zehnjährigen Reiseverbot und einem zehnjährigen Medienverbot verurteilt.
Und schliesslich noch der Fall des preisgekrönten ägyptischen Schauspielers Abol Naga: Er hat es gewagt, in einem Interview Ägyptens Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi wegen der Verletzung der Menschenrechte zu kritisieren, worauf er wegen «Hochverrats und Störung des sozialen Friedens» angezeigt wurde.

Bedrohte Freiheit der Meinungsäusserung
Die Freiheit der Gedanken- und der Meinungsäusserung, die Freiheit des Wortes in literarischen Werken und in den Medien, damit auch die Ablehnung von Zensur, sind in vielen Ländern bedroht. In einer Zeit, in der einst weit entfernte Destinationen näher gerückt sind, liegen Länder, in denen die Freiheit der Meinungsäusserung bedrängt wird, nicht mehr weit weg von uns. Es sind Länder, in die uns unsere Wochenend-Städtereisen führen, in denen wir unsere Ferien verbringen, mit denen wir geschäftlich tätig sind. Ungarn, die Türkei, Ägypten, China, Mexiko gehören zu ihnen ebenso wie der Iran, Russland, Indonesien und Äthiopien. Über 700 Fälle zählt die erwähnte Caselist. Dabei gilt: Gefangene oder von der Justiz Verfolgte, die wegen Propagierung von Gewalt oder gar ihrer Anwendung verurteilt wurden, und solche, die zum Rassenhass aufgerufen haben, figurieren nicht in dieser Liste.
Medienschaffende, Schriftsteller, neuerdings auch Blogger, schreiben über ihr Land, schreiben Romane, Geschichten, Artikel, in denen der Alltag in ihrer Heimat geschildert wird; sie machen nicht selten schreibend auf Ungerechtigkeiten und auf Missstände aufmerksam. In Verfahren gegen sie werden sie verstossen, ihrer Stimme beraubt. Verhöre, Gerichtstermine, die permanente Drohung im Gefängnis zu landen, der Zwang, sich all- wöchentlich auf einem Polizeiposten zu melden, Behördenschikanen, wie der Entzug des Reisepasses, das Verbot das Land zu verlassen, sowie Reisebeschränkungen im eigenen Land, führen dazu, dass die Autorinnen und Autoren daran gehindert werden, zu arbeiten und weiterzuschreiben. Heisst es nicht in der Kantate «Falsche Welt, dir trau ich nicht» «Die Redlichkeit» – die der Beobachter, so sei hier hinzuzufügen – wird so «aus der Welt verbannt». Die Falschheit der Regierenden hat zum Ziel, sie zum Schweigen zu bringen, sie fortzutreiben. Zur eigenen Meinung zu stehen bedarf des Mutes. «Heuchelei» von Anpassern tritt immer wieder an den Tag, «Freunde» werden «ungetreu», wenden sich ab von den Mutigen, «die Redlichkeit» wird so «aus der Welt verbannt». Da kann im Gegensatz zum Kantatentext nicht auf «Freundschaft» gebaut werden.

Die Stimme erheben
Gegen die Einschränkung der freien Meinungsäusserung und gegen die Falschheit gilt es die Stimme zu erheben. Nicht nur dort, wo dies unterbunden wird, sondern auch von hier aus, um den Bedrängten und Bedrohten Solidarität zu zeigen, sie zu unterstützen. Wir dürfen die Unterdrückten nicht alleine lassen. Wenn Machthaber sie «in ihre Schlingen fassen», dann sollten wir ihnen mit unserer Hilfe beistehen. Gerade wir, die wir das Privileg haben, in einem Land zu leben, in dem Meinungen frei geäussert werden dürfen.
Ein Blick auf die Caselist verrät auch: Laut ihren Erhebungen werden gegenwärtig über 700 Schriftsteller in mehr als achtzig verschiedenen Ländern massiv unterdrückt. 290 von ihnen sitzen lange Haftstrafen ab, 170 weitere stehen wegen ihrer Publikationen unter Anklage, 45 wurden allein letztes Jahr umgebracht. Wohlverstanden: keine dieser Personen hat Gewalt angewendet oder zur Gewalt aufgerufen. Diese Autorinnen und Autoren haben nichts anderes getan, als in Romanen, Kurzgeschichten, Reportagen und Berichten über ihre Länder zu erzählen, über Menschen und Zustände in ihrer Heimat.
An der Spitze dieser traurigen Hitparade steht die Türkei, mit etwa 70 Publizisten im Gefängnis und 60 weiteren, die in zum Teil sehr langwierige Prozesse verwickelt sind. Den zweiten Platz nimmt der beliebte Handelspartner China ein – mit dem Nobelpreisträger Liu Xiaobo, seit 2008 wegen nicht mehr als sieben Sätzen eingekerkert, sowie 39 weiteren eingesperrten Schriftstellern. Es folgen Eritrea und Vietnam. Aber solche Zahlen sagen nicht alles, sie schildern nicht das wahre Los der Verfolgten.
In einem Land wie der Türkei befinden sich so viele Schriftsteller in Haft, gerade weil eine lebendige Intellektuellenszene existiert und weil neben den staatlichen Schikanen auch viele Freiräume bestehen. In diesem Klima der Rechtsunsicherheit und Diskriminierung – 70 Prozent der verhafteten Autoren sind Kurden – kann man nie sicher sein, ob man für einen Text einen Preis oder eine Gefängnisstrafe bekommt. Diese Unberechenbarkeit hat in vielen Staaten in den letzten Jahren überhand genommen.
Verfolgte Autorinnen und Autoren setzen Hoffnung in Solidarität in jenen Ländern, in denen die Freiheit der Meinung – und vor allem auch die Freiheit diese zu äussern – herrschen. Helft uns, so lautet ihr Ruf. Oder in der Sprache von Bachs Kantate «so steht mir seine Hilfe bei», denn: auf eure «Freundschaft» wollen wir «bauen». Um den Autoren, die in ihrer Heimat bedrängt werden, zu helfen, versucht PEN International in Zusammenarbeit mit anderen humanitären Organisationen Orte zu schaffen, in denen sie unbehelligt von den Behörden ihrer Heimatländer eine Lebens- und Schaffensmöglichkeit haben.
Im Rahmen seiner Arbeit setzt sich PEN für verfolgte Schriftsteller, Journalisten und Verleger und ihre Angehörigen ein. PEN versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen und die Öffentlichkeit sowohl in den betroffenen Ländern als auch bei uns über ihr Schicksal zu informieren. PEN organisiert zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International öffentliche Kampagnen oder nutzt diplomatische Kanäle, um drangsalierten, inhaftierten, gefolterten und mit dem Tod bedrohten Schreibenden zu helfen und sie nach Möglichkeit dem Zugriff ihrer Häscher zu entziehen. Manchmal, sel- ten genug, mit Erfolg. Vor zwei Jahren verhandelte eine internationale Delegation mit dem damaligen Staatspräsidenten Abdullah Gül über die Lage türkischer Intellektueller und hielt eine Pressekonferenz in Istanbul ab, um vor Ort auf die Beschränkung der Freiheit des Wortes aufmerksam zu machen. Zum Resultat dieser Unterhandlungen passt eine Stelle der heutigen Kantate besonders gut:

«Dein Angesicht,
das noch so freundlich ist,
sinnt auf ein heimliches Verderben.»

Mit freundlichen Mienen stritten nämlich türkische Minister die Behinderung der freien Meinungsäusserung in ihrem Land ab. Eine weitere PEN-Delegation informierte damals in Mexiko über die Bedrohung von Journalisten und Schriftstellern, die über die Drogenkartelle berichteten und dafür mit ihrem Leben büssen mussten.
PEN hilft verfolgten Autoren, ihre Heimat vorübergehend zu verlassen. Ein Regimewechsel, eine Amnestie, ein neues Gesetz können deren Rückkehr ermöglichen. Gerade wenn diese Arbeit erfolgreich ist, verfolgte Schriftsteller ihren Peinigern entrinnen und ihre Heimat verlassen können, stellt sich sehr schnell ein neues Problem: Wie können die im Exil lebenden Schriftsteller oder Journalisten als Schreibende überleben, deren Sprache im Exilland nicht verstanden wird? Aus diesem Grund hat PEN sein Writers-in-Exile- Programm ins Leben gerufen. Die ausländischen Autoren, die in diesem Exil-Programm Aufnahme finden, erhalten ein – zunächst ein auf ein Jahr befristetes, maximal zwei Mal verlängerbares – Stipendium, eine Wohnung, die von der gastgebenden Gemeinde manchmal bezahlt wird. Betreuer und freiwillige Helfer sorgen dafür, dass den Exilierten bei den vielfältigen Problemen des Alltags geholfen wird. Man bedenke: Diese Autoren finden sich im Exil in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschen und dessen Kultur und Werte manchmal Anpassungen erfordern. Gleichzeitig bemühen sich einheimische Autoren, für die Exilierten Kontakte zu Verlagen, Übersetzern und Redaktionen her- zustellen, sie organisieren Lesungen und Diskussionsveranstaltungen, um die ausserhalb ihrer Heimat oft völlig unbekannten Autoren mit ihrem Werk dem Publikum vorzustellen. Man versucht, in mehreren Ländern die Unterstützung der exilierten Autoren möglichst so anzulegen, dass sie nach einiger Zeit auf eigenen Füssen stehen, oder, sofern sich die politische Situation im Herkunftsland gebessert hat, in ihr Heimatland zurückkehren können. Wenn sie – mit welchem Aufenthaltsstatus auch immer – für wenige Jahre oder gar auf Dauer in Europa bleiben, ist es für sie besonders wichtig, die Sprache ihres Gastlandes zu erlernen. Freilich kann und sollte es nicht darum gehen, den im Exil Lebenden abzuverlangen, dass sie sich in ihrem Gastland komplett integrieren und sich selbst zu Schweizern, Deutschen oder Norwegern machen. Vielmehr kommt es darauf an, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie – um ein Wort Theodor Adornos aufzugreifen – «ohne Angst» und ohne Diskriminierung «verschieden sein können».

Trogen als Ort eines Appells
Gerade in der Arbeit mit Menschen im Exil kann man lernen, dass das Akzeptieren kultureller Verschiedenheit und die Vorstellung universell geltender Menschenrechte sich gegenseitig bedingen und nicht, wie zuweilen behauptet wird, sich ausschliessen. Nur wenn man das Fremde nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung der eigenen Kultur begreifen lernt, kann man verstehen, dass die Hilfe für Menschen, die bei uns im Exil sind und in vielen Fällen zu Freunden werden, auch für uns ein großer Gewinn ist.
Von einer Unterstützung unterdrückter Menschen, die ihre Meinung nicht äussern dürfen, erzähle ich. Ich berichte davon in der Schweiz, einem Land, das stolz darauf ist, verfolgten Künstlern die Möglichkeit geboten zu haben, zu überleben. Bekannte Theater- schaffende und Schriftsteller fanden hier immer wieder Unterschlupf. Viele mussten aber weiterziehen, weil das Boot angeblich zu voll gewesen sei. Trogen, wo jeden Monat eine Kantate von Johann Sebastian Bach Gelegenheit bietet, ausgehend von dem der Kantate zugrunde liegenden Text Reflexionen anzustellen, ist der richtige Ort, um darüber zu sprechen, dass dieses Land im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern noch keine Wohnstätten für Menschen bietet, die wegen ihrer in Büchern, in Zeitungen und in den elektronischen Medien geäusserten Meinung verfolgt werden. Trogen, wo einst junge Menschen aus dem Ausland im Kinderdorf Pestalozzi Schutz fanden, ist der Ort, in dem gefordert werden kann, in einem der wohlhabendsten Ländern Europas, mutigen Menschen, die auf die Einhaltung der Freiheit der Meinungsäusserung beharren, die Möglichkeit zu geben, Schutz und Raum zum Schreiben und zum Nachdenken zu finden.
Demnächst wird in der Schweiz ein Zeichen gesetzt: Eine Wohnung in Luzern ist gemietet, in der vom kommenden Sommer an, eine exilierte Autorin, ein bedrohter Autor in Freiheit werden schreiben können. Damit soll in der Schweiz eine erste Schutzwohnung eingerichtet werden. Es ist höchste Zeit, dass in diesem reichen Land jene Idee um- gesetzt wird, die in 16 Ländern Europas und Nordamerikas schon längst etabliert ist. Auf unsere Freundschaft wollen sie bauen, die Verstossenen, die zu ihrem Wort stehen. Es ist Zeit, dass dieses Land sich noch mehr engagiert!
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller formulierte einmal: «Für gerettete Ver­folgte ist Heimat der Ort, wo man geboren ist, lange gelebt hat und nicht mehr hin darf. Diese Heimat bleibt der intimste Feind, den man hat. Man hat alle, die man liebt, zurückge­lassen. Und die sind weiter so ausgeliefert, wie man selber war. Über diesen Schmerz können wir kaum hinweghelfen, aber wir können denen zuhören und helfen, die darüber berichten.»

Quellenangaben

Alle Kantatentexte stammen aus «Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke», herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie I (Kantaten), Bd. 1–41, Kassel und Leipzig, 1954–2000.
Alle einführenden Texte zu den Werken, die Texte «Vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk» sowie die «musikalisch-theologische Anmerkungen» wurden von Anselm Hartinger und Pfr. Niklaus Peter sowie Pfr. Karl Graf verfasst unter Bezug auf die Referenzwerke: Hans-Joachim Schulze, «Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs», Leipzig, 2. Aufl. 2007; Alfred Dürr, «Johann Sebastian Bach. Die Kantaten», Kassel, 9. Aufl. 2009, und Martin Petzoldt, «Bach-Kommentar. Die geistlichen Kantaten», Stuttgart, Bd. 1, 2. Aufl. 2005 und Bd. 2, 1. Aufl. 2007.

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